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Das Licht ist aus, für immer

Das Feuer auf dem Berg war also erloschen. Dunkelheit beherrschte Land und See. Tagsüber. Die Sonne war offenbar nach Hause gegangen. Und mit ihr die Schatten. Nur die Wolken waren geblieben. Eine dicke, undurchdringliche Schicht. Es war nächtens kein Mond am Himmel zu sehen. Und auch keine Sterne.

Keinerlei Licht da oben. Seit Tagen. Oder waren es schon Wochen? Oder gar Monate?

Natürlich diskutierten Expertinnen und Experten aller Gattungen in Fernsehprogrammen und Zeitungsartikeln über den Einbruch der Dunkelheit. Niemand hatte ihn kommen sehen. Niemand konnte ihn befriedigend erklären. Niemand hatte einen griffigen Lösungsansatz bereit.

Alle hatten Angst. Manche panisch. Andere nur ein bisschen.

Klar, es gab Leute, die sagten, dass sie es schon immer gewusst hätten. Sie beriefen sich auf Schriften, die über tausend Jahre alt waren. Oder auf Studien, die einmal gemacht worden sind. Damals, als die Sonne noch geschienen hatte. Und das Licht der Sterne noch den Nachthimmel erleuchtete.

Jenes Licht der Hoffnung, das nun erloschen war.

Ein Medizinmann von einer Südsee-Insel erklärte am Fernsehen, dass ein mächtiger Walfisch die Sonne verschluckt habe. Ein Physiker präsentierte hochkomplizierte Rechnungsmodelle, die besagten, dass ein derartiger Zustand nie von langer Dauer sein könne. Seine Rechnungen konnten zwar nur von jenen ansatzweise nachvollzogen werden, die mindestens ein Mathematik-Studium abgeschlossen hatten. Doch die Botschaft des Physikers wirkte trotzdem ermutigend. Eine barmherzige Schwester erhob ihre Stimme. Und machte darauf aufmerksam, dass in der Offenbarung des Apostels Johannes durchaus Hinweise auf einen derartigen Zustand zu finden seien. Ein Multimilliardär verkündete in aller Öffentlichkeit, dass er in den Weltraum auswandern würde. Mit 70 ausgesuchten Mädels – “von blendender Schönheit” – zusammen.

Man hat danach nie mehr von ihm gehört.

Und schon nach wenigen Tagen der Dunkelheit begannen schlechte Komiker damit, schlechte Witze über das Leben ohne natürliches Licht zu machen.

Langsam wurde es kalt auf dem Planeten Erde. Die Verzweiflung, die das Ausbleiben der natürlichen Lichter am Himmel zu Anfang bei vielen Menschen verursacht hatte, wich mit der Zeit einer gewissen, etwas unruhigen Normalität. Der Alltag schlich sich wieder ein. Ein dunkler Alltag, der nie mehr ganz so war wie vorher. Als die Lichter noch am Himmel gestanden hatten. Hartgesottene Polarkreis-Bewohner konnten sich besser mit dem Zustand arrangieren – als Hersteller von Solarzellen, die natürlich in heller Aufregung waren.

Die Solariumsbesitzer und die Betreiber von Nachtclubs rieben sich die Hände. Während Landwirte reihenweise Suizid begingen.

Ohne Sonne keine Ernte.

Natürlich befasste sich die Politik mit dem Thema. Auf lokaler, nationaler, internationaler Ebene. Die einen wollten künstliche Sonnen bauen. Und an den Himmel entsenden. Die anderen scheuten die Kosten – und bezweifelten die Wirkung – eines derartigen Projekts. Sie rieten zum geduldigen Abwarten. Die Präsidentin eines grossen, massgebenden Landes sagte, dass man die Hoffnung nicht verlieren und einfach weiter arbeiten solle. Ein derartiger Zustand könne nicht von Dauer sein. Ein Physiker habe das ja alles professionell ausgerechnet. Sie drückte ihre Verachtung für all die Schwarzseher da draussen aus. Lippenschürzend. Nasenrümpfend. Sie machte darauf aufmerksam, dass es auf der Welt noch andere Probleme gäbe, die man – über das Ausbleiben des Lichts – auch nicht vergessen dürfe.

Ein berühmter Priester beschwor die Menschen, im Rahmen einer internationalen Fernsehübertragung, ihre Hoffung nicht zu verlieren und zu beten. Der König einer kleineren, marginalisierten Nation sagte seinerseits, dass man den Zustand aktiv angehen müsse. Die Menschheit habe den Zorn Gottes auf sich gezogen. Nur Menschenopfer könnten ihn beschwichtigen. Und zwar nur solche, bei der jede und jeder genau jene Leute opfere, die sie oder er am meisten liebe. Was Gott einst dem Abraham erlassen habe, müsse nun vollzogen werden. In jener kleineren, marginalisierten Nation hob also ein furchtbares, verordnetes Massaker an. Die Welt war entsetzt. Es wurde zwar protestiert. Aber nichts unternommen.

Die Dunkelheit blieb.

Es gab Menschen, die den ganzen Tag beteten und Busse taten. Andere feierten erst recht und liessen die Sau raus. Es gab Menschen, die der Dunkelheit mit einem heftigen Arbeitsrausch begegneten. Andere resignierten und machten rein gar nichts mehr.

Mit der Zeit wurden dann halt die Lebensmittel knapp. Ohne Sonne konnte ja nichts mehr wachsen. Alle getrockneten, eingemachten und fermentierten Fressalien waren aufgegessen, alle Tiere geschlachtet worden – und auch die Schokoladen und die Bonbons waren weg. Alles aufgelutscht und heruntergeschluckt.

Bevor alle Menschen verhungerten, kam in gewissen Kreisen zwar noch kurz der Kannibalismus in Mode. Die einen frassen Menschenfleisch, die anderen verhungerten ruhig und diszipliniert. Oder wurden gefressen.

Am Ende waren jedoch alle verhungert. Nur die Dunkelheit blieb. Und der Multimilliardär mit seinen Mädels?

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Autor: Christian Platz

Lebt in Basel. Arbeitet überall. Reist recht viel. Vor allem nach Asien. Und in den Deep South der USA. Verdient sein Geld seit über einem Vierteljahrhundert mit Schreibarbeiten. Vorher hat er als Pfleger in einer Irrenanstalt gewirkt. Hat mehrere Bücher veröffentlicht. Spielt seit 40 Jahren fanatisch Gitarre, zwischendurch singt er auch noch dazu. Schreibt unter anderem für Kult. Ist manchmal gut aufgelegt. Manchmal schlecht. Meistens so mittel. Sammelt Bücher, CDs, Filme, Artefakte. In einem psychisch leicht auffälligen Ausmass. Verfügt, bezüglich der Dinge, die er sammelt, über ein lexikalisches Wissen. Platz ist einerseits ein Wanderer auf dem Pfad zur linken Hand. Andererseits Neofreudianer mit Waffenschein. Liebt Blues und Voodoo, Rock'n'Roll und die schwarze Göttin Kali. Trinkt gerne Single Malt Whisky aus Schottland. Raucht Kette. Ist bereits über 50 Jahre alt. Macht einstweilen weiter. Trotzdem wünscht er nichts sehnlicher herbei als die Apokalypse.

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Dieser Mann tritt manchmal als katholischer Geistlicher auf, stilecht, mit einem besonders steifen weissen Kragen am Collarhemd. Dies tut er in gänzlich irreführender Art und Weise und ohne jegliche kirchliche Legitimation. Schenken Sie ihm - um Gottes Willen - keinen Glauben. Lassen Sie sich nicht von ihm trauen, ölen oder beerdigen. Lassen Sie sich von ihm keinesfalls Ihre Beichte abnehmen. Geben Sie ihm lieber Ihr Geld.

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