in

Mit der Zeit

Nora wartete in der Maske. Kristen freute sich meistens darauf, geschminkt zu werden. Heute war sie spät dran. Die Leseprobe war vorbei, das Licht eingestellt, alles wie immer. Als Moderatorin vermochte Kristen zwar nicht zu sagen, wann die News aufgehört hatten, Neuigkeiten zu sein, sie konnte nicht sagen, wann die Verbrechen, Tsunamis und Katastrophen eins geworden waren. Diese Ereignisse, die für sie längst keine mehr waren, ermöglichten ihr ein bequemes Leben. Sie musste diese nur mit sonorer Stimme und kontrollierter Miene vortragen. Ihre Vorgesetzten hielten sie für glaubwürdig und sie liess es ihre Bosse bei den Vertragsverhandlungen jeweils spüren.

In dunklen Stunden, wenn sie sich in ihrem zu grossen Loft verlor, die Morgendämmerung einfach nicht kommen wollte und ihr die Laken auf dem Bett viel zu kalt vorkamen, und sie es nicht ertrug, den Fernseher einzustellen, war ihr klar, sie machte sehr wenig aus ihrem Status. Sie sass einfach unter den zu hellen Scheinwerfern und liess die Welt die Welt sein. Sie las vor, was andere geschrieben hatten und dachte sich nicht viel dabei. In dunklen Stunden schienen sie die Toten einzuholen. All jene, die mit dem Flugzeug abgestürzt waren, die in Flutwellen abgesoffen oder in irgendeiner Wüste im Süd-Sudan verdurstet waren. Somalia, in Somalia war immer etwas, aber sie hätte beim besten Willen nicht sagen können was. Vor ihren Bossen verbarg sie ihr Desinteresse mit hohen Lohnforderungen und der Drohung, sie müssten sonst mit ihrem Agenten sprechen.

Zum tausendsten Mal brachte sie ihr Jackett in Ordnung, Kristen musterte ihren Oberkörper im Spiegel und nichts wirkte verkehrt. Alles sass. Sie wollte einfach nicht aus ihrer Garderobe raus. Schlimmer, irgendwie konnte sie nicht mehr raus. Ihre Beine steckte in abgeschossenen Jeans, sie hatte sich alte Turnschuhe übergezogen. Sie musste ja nur ab der Hüfte aufwärts gut aussehen. Selbst diese Gespaltenheit ihres eigenen Körpers in einen sichtbaren Fernsehteil und einen unsichtbaren privaten Teil vermochte es nicht mehr, sie zu erheitern.

«Wo bleibt sie denn?», motzte Nora in der Maske, obwohl sie wusste, Kristens Haut machte nicht viel Arbeit. «Die schläft wohl richtig viel», war die Begründung, die ihr normalerweise dazu einfiel. Mit den lockigen Haaren der Nachrichtensprecherin kam sie auch ganz gut zurecht. Auch weil Kristen nie viel an ihrem Aussehen veränderte. Die Frau schien in einer eigenen Welt zu leben. Ein Planet, auf dem Sünden keine Spuren hinterliessen. Es schien schlicht so, als bliebe Kristen einfach am Ort, wo sie immer schon gewesen war.

Noch sechs Minuten bis zur Show. Nora wählte Kristens interne Nummer, hielt die Hand über die Muschel und sagte zu Géraldine, die mit ihr Dienst schob: «Du bist noch nie mit jemand schlimmerem im Ausgang gewesen. Sie tanzt, säuft, raucht bis sie kotzt und am nächsten Tag ist ihre Haut trotzdem wie diejenige von Schneewittchen und ihre Augen klar, wie diejenigen einer ausgeschlafenen Wildkatze. Das muss man erst einmal draufhaben.» Géraldine blickte warnend zu Nora hinüber. Erst jetzt bemerkte Nora den Sportfritzen, mit dessen Haare Géra fast einzeln über den Schädel drapieren müsste, damit die Zuschauer nicht sahen, dass es schon seit einer Weile vorbei war, mit der Jugend.

Natürlich sprang er sofort drauf an, ohne auch nur einen Herzschlag lang nicht auf das eigene Spiegelbild zu starren: «Kristen ist einfach eine überschätzte Schlampe.» Diese Worte von einem Sportmenschen, dachte sich Nora, während Géra die Augen verdrehte. Mit der Zeit fiel es schwer, die Moderatoren zu mögen. Es lief immer gleich. Am Anfang waren sie unsicher, fragten bei jedem Scheiss danach, was sie tun sollten und wollten einfach alles wissen. Dann gewöhnten sie sich an den Stress, den Druck und daran, das eigene Abbild auf der Glotze zu sehen, immerhin sprachen sie dann noch mit einen. Fragten, wie es ging, wirkten menschlich.

Unweigerlich stieg es ihnen in den Kopf. Von der Aufmerksamkeit aufgeputscht, fühlten sie sich schliesslich wichtiger als alle anderen. Und dies liessen sie am liebsten Kameraleute oder die Maske spüren. Aufnahmeleiter, Produzenten oder Regisseure waren aus dieser abgehobenen Sicht zwar auch unwichtige Arschlöcher, aber mit ihnen verscherzte man es sich lieber nicht.

Bei Kristen war es nicht anders gewesen. Zu Anfang war sie einfach ein Mädchen gewesen, dass die Uni abgebrochen hatte. Mit grossen Augen, wirren Locken und einer leicht gebeugten Haltung hatte sie jedes Mal gesagt, sie könne das gar nicht, sie wolle es eigentlich auch nicht, aber sie brauche das Geld. Eine Weile lang war Nora mit ihr viel unterwegs gewesen, sie hatten eine gute Zeit gehabt. Aber dann stieg es auch Kristen in den Kopf. Die Anrufe wurden zuerst weniger und blieben dann ganz aus. Es war nicht so, dass Nora alle diese Telefonate fehlten. Die verzweifelten, hysterischen Schreiereien nach Mitternacht hatten ihr weniger gefehlt. Immer spielte Wodka eine Rolle, immer wieder schien der Moderatorin mitten in der Nacht der Zeitpunkt ideal zu sein, über ihr Leben und dessen Vergeblichkeit nachzudenken.

Der Sporttyp starrte verliebt auf sein Spiegelbild, Géra bedachte ihn mit einem leichten Klaps auf den Rücken und sagte: «Ich gehe jetzt eine rauchen und dann will ich dich in meinem Stuhl nicht mehr sehen.» Sie grinste, schmiss die Haarbürste in den Korb. Nicht einmal in den Körben der Frauen lagen so viele Bürsten, Tuben und Hennavariationen. Ohne sich vom Bild seines Antlitzes im Spiegel lösen zu können, sagte der Sportfritze: «Ihr wollt nur rausgehen und den neuesten Klatsch verbreiten. Aber ich sage euch. Sie ist eine Schlampe. Das ist nicht nur schlecht, ich habe dann schön viele Stunden mit ihr gehabt.»

«Du bist einfach ein Arschloch, hau jetzt ab, sie würde dich nicht mit einer Zange anfassen», brach es aus Nora heraus und damit war ihre wichtigste Regel im Arsch: Nie durfte man etwas ernst nehmen, was die Moderatoren sagten, ansonsten war man seinen Job schnell los.

Der Sporttyp sah sie nur blöd an, stand auf, bereit die Scheinwerfer suchen zu gehen, die ihn ins rechte Licht setzen würden. Als er bei der Tür war, zischte Nora: «Kristen würde ich nicht einmal mit dir pennen, wenn du der letzte Typ auf Erden wärest und ich würde es auch nicht tun. Du bist einfach ein eitler Fatzke, der irgendeinen Scheissdreck über Fussball vor sich hin labbert. Das weiss jetzt jeder.»

«Jetzt hör auf, ich will nicht nochmals seine Frisur seine Frisur nochmals machen müssen. Ich will nur eine rauchen gehen und helfe dir, falls sie noch rauskommt …OK?», warnte Géra, sich vor dem Haarausfall des Sportfritzen fürchtend.

Unterdessen ging es noch etwa drei Minuten bis zur Show. «Ich habe keine Ahnung, seit wann ich weine», dachte Kristen und starrte auf ihr Spiegelbild. Die Lampe neben dem Spiegel leuchtete, sie war überfällig in der Maske. Sie flennte vor sich hin, der Schnodder lief ihr aus der Nase, und sie hatte nicht die leiseste Ahnung, was es gewesen war, was sie gebrochen hatte. In Norwegen war es kalt. In Amerika gab es Streit. Dem Papst tat es leid. Während dem Sport hätte sie Zeit, sich den Schweiss von der Stirn zu tupfen. Gute Sache. Aber der Sport war ihr egal. Der Sport konnte es nicht sein. Sie wäre nochmal dran mit der Börse. Aber das konnte auch nicht sein.

«Das gibt jetzt Ärger», sagte Géra, die immer noch nicht geraucht hatte.

«Stimmt», meinte Nora: «Meinst du ich muss sie rausholen?» Seit sie in der Maske arbeitete, hatte es noch nie einen «Freeze» gegeben. Manchmal, vor laufender Kamera gab es diese Stolperer, Momente, in denen man dachte, ja sogar hoffte, jetzt geht die Show nicht mehr weiter. Aber sie ging immer weiter. Von Moderatoren, die es nicht mehr aus der Garderobe schafften, hatte sie nur gehört. Normalerweise verlieh ihnen die Eitelkeit Superkräfte. Getrieben vom Glanz des «in der Öffentlichkeit Stehens» schafften sie unter fast allen Umständen fast alles. «Ich geh’ sie rausholen, die schafft es nicht.» Sie schaute auf den Bildschirm: Das Studio war ausgeleuchtet, Logo und Einblender, alles bereit. Auch die einzelnen Countdowns liefen schon runter. «Die ist uns eingefroren, die schafft es nicht.»

Zwei Minuten bis zur Show. «Ich muss aufhören. Ich muss aufhören können, ich muss es nur vom Prompter ablesen können», versuchte sich Kristen zu beruhigen und weinte einfach weiter. Es klopfte an der Türe. Nora rief hinein, ob es ihr gutgehe, sie meinte, sie habe die Schminke dabei.«Wir können dich am Desk pudern und Géra frisiert dich schnell.» Es wäre doch ein Jammer, wenn sie es zusammen nicht schaffen könnten. «Ich helfe dir.» Das machte es nur schlimmer. Sie gab einen seltsamen Laut von sich. Und lächelte beinahe. Sie dachte: «So klingt es, wenn eine alte Katze stirbt.»

Nora stand neben ihr: «Es läuft dir ja nur so runter.» Das machte es nicht besser. Kristen wurde jetzt im Rhythmus ihres Atems durchgeschüttelt. «Du hast nicht einmal die Bildschirme angestellt.» Neben dem Spiegel blinkte jetzt auch noch die rote Lampe. Für einen letzten Lichtcheck hätte Kristen jetzt im Studio sein müssen. «Wo hast du dein Audio-Kit, vielleicht können wir dich schon hier verkabeln.»

Kristen schüttelte den Kopf. Es klopfte noch einmal an der Tür. Einen Moment später knallte die Falle laut gegen die Wand.

Noch eine Minute bis zur Sendung. In der Fernsehwelt behielt man selten einen kühlen Kopf. Und schaffte es auch heute nicht. In Kristens Garderobe herrschte nun ein Geschrei, Aufnahmeleiter, Kameraleute, die Produzentin schrien die Moderatorin an, während diese nur vor sich hinschluchtzte und sich an Nora festkrallte. Nora bekam die schreienden Leute, die sich jetzt gegenseitig anschrien, da Kristen nicht reagierte, nicht in den Griff.

Plötzlich sagte jeder: «Dreissig Sekunden, dreissig Sekunden.» Es wurde still und Kristen starrte auf jenen Bildschirm, auf dem sie hätte auftauchen sollen. Der World News-Einblender fing an zu laufen und die Maz mit den Schlagzeilen und den ersten Bildern war auf dem zweiten Bildschirm bereit. Pünktlich warf sich der Sporttyp in Pose, labberte etwas über Norwegen, sprach über Streit in Amerika und davon, dass es dem Papst leidtäte und leitete elegant zum Sport hinüber.

«Du weißt, du musst mich irgendwann loslassen?» Die Show sah so aus, wie sie immer aussah. «Ich weiss, ich weiss», schluchzte Kristen hilflos. Sie sah auf ihre Turnschuhe hinunter. Das war wohl ein langer Weg gewesen. Die Scheissjeans waren jetzt auch nicht besser. Nora streichelte Kirstens Haare und dachte professionellerweise daran, dass diesen Locken ein Orkan nichts etwas anhaben könnte, aber weder der eine noch der andere Gedanke erschienen ihr weiter hilfreich zu sein.

«Gut wäre, wenn wir vor dem Wetter aus dem Studio raus wären, das wäre wirklich nicht schlecht», sagte Nora. «Die schreien dich sonst nur an», sagte sie und dachte: «Verdient hättest du es, aber das ist jetzt vielleicht nicht das Richtige.»

«Ja, ich habe es mir ehrlich verdient, oder?», sagte Kristen und grinste irgendwie seltsam. «Du wirst doch nicht durchdrehen?»

«Nöö, noch mehr durchdrehen geht wohl nicht», erwiderte Kristen und dachte daran, dass der Produzent wohl schon jemanden anderen finden würde, den er anschreien konnte.

«Komm, wir müssen raus hier», mahnte Nora, die ebenfalls nicht angeschrien werden wollte. Die Werbung von den Wetter-Sponsoren wurde schon eingeblendet.

Die Frauen schafften es knapp rechtzeitig aus dem Studio raus. In dieser Nacht sah Kristen so aus, als wäre sie geteilt. Zwei Teile: Ein tolles Jackett, eine teure Bluse, Fetzen-Jeans und auseinanderfallende Turnschuhe. Unter den hektischen Strobe-Lichtern auch nicht so schwierig. Die Fotos in den Boulevard-Blättern zeigten die Geteiltheit klar. Mit den Bildern wurde sie zur offiziellen Schizophrenen, die nicht mit Ruhm und Reichtum klargekommen war. Kristens Augen leuchteten trotzdem wie diejenigen einer Wildkatze.

Nora, die es noch geschafft hatte, ihre Handtasche mitzunehmen, musste alle Drinks zahlen. Später am Abend war es ihr kalt geworden und sie bekam das glaubwürdige Jackett. Und manche Magazine brachten darum ihr Bild als Moderatorin, die «nicht mehr wusste, wo sie war» und dann einfach tanzen ging. Und Nora hatte diese Aufmerksamkeit geliebt. Sie war nicht mehr nur die Schminktante, sondern die Stadt dachte ein paar Stunden lang, sie sei durchgeknallt und das sei ein Foto wert.

Sie sassen auf einem Bordstein. Sie hatten Handys. Die Frauen sahen sich an. Es gab nur eine Frage. Aber vielleicht war es längst keine mehr. Der Sender würde Kristen feuern. Gleichzeitig konnten sie nicht weiter. Einen Moment lang wurde sogar der Times Square müde, die Taxifahrer langweilten sich. Die Show war vorbei. Kristen sagte: «Danke.»

Nora sagte: «Du kommst wieder, oder?»

Kristen weinte ein bisschen still vor sich hin. «Mit der Zeit», sagte sie: «Mit der Zeit kannst du nicht mehr und das Schlimmste wäre es, wenn ich zurückkäme. Das geht doch nicht.»

«Falls ich nicht kotzen muss, weiss ich nicht, was ich dir darauf sagen soll», meinte Nora. «Die Show ist vorbei», sagte Kristen. «Sie ist vorbei». In diesem Moment wechselte das Programm auf dem grossen Bildschirm über ihnen und Kristen bekam in übergrossen Buchstaben mitgeteilt, dass sie vom Sender gefeuert worden war.

Géra und Nora konnten ihren Job behalten. Und Nora würde noch viele Male erzählen, Kristen sei keine Schlampe gewesen, vielmehr habe sie darunter gelitten, dass sie nicht bereit gewesen sei, dass kleinste Risiko einzugehen. Da sei sie dann irgendwann durchgedreht. Der Sportfritze biss sich erfolgreich am Tisch des Nachrichtensprechers fest. Niemand konnte ihm je mehr einen Vorwurf machen, dass er einer Kollegin Schlampe nachsagte.

Kristen zog in eine kleinere Wohnung. Für eine Weile. Ihr Entschluss, die Dinge kennenzulernen, über die sie vorher gesprochen hatte, brachten sie nochmals ins Rampenlicht. Niemand bestreitet, dass ihre Arbeit in Somalia, Ghana, Pakistan oder sogar in Haiti makellos gewesen ist.

Niemand weiss, ob es eine schnuckelige Ärztin oder ein schnuckeliger Arzt war, mit dem sie sich endlich eingelassen hatte. Nora wusste es natürlich und sie hatte es Géra erzählt. Aber den Bossen und dem Sportfritzen sagten sie einen Scheiss. Die Geschichte von Kristen haben sie für sich. An manchen Tagen, wenn sie besonders viele Gäste schminken und frisieren mussten, vermissten sie die simplen Locken, die nicht viel Arbeit machen und die leuchtenden Augen.

Bild: Unsplash/Eric Ward

Gefällt dir dieser Beitrag?

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Autor: Andy Strässle

Andy Strässle umarmt Bäume, mag Corinne Mauch und verleugnet seine Wurzeln: Kein Wunder, wenn man aus Blätzbums stammt. Würde gerne saufen können wie Hemingway, hat aber immerhin ein paar Essays über den Mann zu stande gebracht. Sein musikalischer Geschmack ist unaussprechlich, von Kunst versteht er auch nichts und letztlich gelingt es ihm immer seltener sich in die intellektuelle Pose zu werfen. Der innere Bankrott erscheint ihm als die feste Währung auf der das gegenwärtige Denken aufgebaut ist und darum erschreckt es ihn nicht als Journalist sein Geld zu verdienen.

Jener bunte Markt, den die Menschen Leben nennen

DIE BESTEN 2+2 IN BERN