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Der Tag beginnt

Der Engel hockte müde hoch oben auf einem Wasserspeier des Basler Münsters und blickte über die Pfalz hinweg aufs Kleinbasel. Sie wusste, hinter ihr ginge die Sonne auf und würde vorne auf dem Platz bald Georg erreichen, der auf einem riesigen Pferd hockend einen ziemlich kleinen Drachen aufspiesste.

Ihr war ein bisschen schlecht. Der Wodka wahrscheinlich. Vielleicht das Koks. Immerhin war Duma in der Höhe nicht schwindelig. Die Autobahn und die Kraftwerkbrücke zu ihrer Rechten lag noch im Dunkeln. Sie war sich nicht sicher, ob sich ihr Zungen-Piercing entzündet hatte. Allmählich liess der Strom nach. Die Menschen drehten sich jetzt nochmal im Bett, aber die Träume wurden schwächer, leichter. Nach einer langen Nacht, einer wahren Brandung aus Perversionen, Schuldgefühlen, Missverständnissen und Furcht, wurden die Bilder allmählich wieder erträglicher.

«Wer bis’ denn Du?», hatte der Typ im Renées sie angerempelt. In letzter Sekunde schaffte sie es, ihn nicht wegzuhauen. Sie vergass manchmal, wie stark sie wirklich war. Neben dem wummernden Sound, der als «Chill» galt und einer ziemlich komplexen Techno-Gattung angehörte, brandeten Bilder von vom Himmel fallenden Bomben, Ruinen und einer schlimmen Explosion über sie hinweg. Duma hatte sich gefragt, warum die Irak-Veteranen es nie lernen würden: Ein Mittagsschlaf war für diese Leute selten eine gute Sache. In ihrem Kopf herrschte eine rote schlimme Wut und Bilder von verstümmelten, zerstückelten Puppen.

«Ich bin die Prinzessin der Träume», sagte Duma und versuchte, einen Sextraum in den Hintergrund zu drängen. «Ja, das bis’ du, kann ich dir einen ausgeben?»

«Wer bist du denn? Du musst mir keinen ausgeben, ich muss nie etwas bezahlen.»

«Gehst wohl mit dem Barmenschen ins Bett? Hä.»

Ihr Verehrter zögerte kurz. Hinter der Renée-Bar standen im Moment nur Frauen. «Hätt’ ja sein können», meinte er, verwundet.

Duma sagte begeistert: «Ich kann dir gut einen ausgeben. Das kann ich wirklich.»

Trümmer, fallende Steine und ein langer Fall. Verwüstung nach einer Explosion, viel Blut und eine schreiende alte Frau, die versucht zu flüchten. Dann, ein ewiger Loop: Ein farbig schimmernder Apfel, die Hand, die ihn hinhielt. Die Hand, die ihn wegnahm. Die Hand, die einen anderen Apfel hinhielt. Wiederholung: Apfel, Hand, kein Apfel mehr. Plötzlich widerliche Würmer im Innern des Apfels.

«Prinzessin der Träume, was n’ das?»

«Wir sind so eine Art Wächter, wir passen auf euch auf. Ich bin aber nur die, die auf eure Träume aufpasst. Da gibt es noch andere.»

Duma musste mal. Sie fragte sich, ob sie übers Münsterdach pissen sollte. Was soll’s? Es war nur ein kurzer Flug. Sie fiel, taumelte in der Luft, drehte sich und stand vor der öffentlichen Toilette. Sie suchte in ihren Jeans nach einem Stutz und klemmte die Beine zusammen. Da war Geld, aber nicht die passende Münze. Sie flog über die Pfalz noch weiter hinunter. Duma hockte sich hinter einen Baum und seufzte erleichtert.

«Waaaas, es gibt noch mehr von euch?», meinte der Typ und schwankte leicht.

«Ja, schon», hatte sie gesagt. Er wusste nicht, ob er sich freuen sollte und sie hatten noch immer nichts bestellt. Er war zu betrunken, um von ihr wegzugehen, aber zu vernünftig, um wirklich bleiben zu können. Sie mochte ihn, vielleicht träumte er nicht. Aber sie war nicht diese Art von Engel.

Irgendwie hatte der Sound gewechselt. Seine Augen glänzten verträumt, aber der Sturm fing an zu toben. Sie konnte ihn nicht mehr richtig sehen. Der Schlaf senkte sich über den Kontinent, die Bilder wurden schneller, überlagerten sich, so dass ihr etwas schwindelig wurde. Der erste Ansturm fühlte sich immer an, als hätte man sie mit viel zu vielen Wahnsinnigen in einen halbdunklen Keller gesperrt. Es war der stärkste Trip, den sie kannte.

Als sich Duma am Morgen die Hose hochzog fiel ihr auf, sie konnte beim besten Willen die Musikstile in den Clubs nicht mehr auseinanderhalten.

Sie hätte gerne Toilettenpapier gehabt.

«Ja, ja, ziemlich viele», hatte sie geistesabwesend zu ihm gesagt. In ihrem Kopf frassen mehrere Hunde ein Baby. Es dauerte lange. Es war schrecklich. Ein Kind irgendwo hatte das falsche Video auf dem Internet angesehen, und hatte jetzt Albträume.

«Mein Chef…», sagte der Typ, «mein Chef», wieder ein leichtes Schwanken als herrsche im Renée ein leichter Seegang. Duma sah ihn an. Er schien ihr ganz ok zu sein. Aber es war schon spät und für sie war jeder in Ordnung, der nicht nach Hause ging und einen Scheiss träumte.

«Hast du auch n’ Schef?» fragte er und schüttelte sein braunes Haar ein bisschen, weil er dachte, es sehe gut aus. Seine Augen waren verwundbar, seine Turnschuhe abgerissen. Er wusste, er war cool. Es war eine ziemlich durchgestylte Abgerissenheit. Im Renée beruhigten sich die Dinge etwas. Hinter der Bar wurde mit dem Geschirr gerumpelt, die Gläser in den Regalen wurden zurechtgerückt und es war Zeit, untereinander zu reden. Es war nicht mehr nötig, jeden idiotischen Drink zu mixen.

«Ich kenne die Antwort nicht», hätte Duma beinahe gesagt, liess es aber bleiben. Stattdessen sagte sie ein bisschen verlegen: «Ja, wahrscheinlich habe ich auch einen Boss. Aber der hat nicht so viel Zeit. Er kümmert sich eigentlich nie um mich. Vielleicht hat er vergessen, dass er euch Träume gab.» Manchmal dachte sie, er habe ziemlich viel vergessen, der Boss.

«Mein Schef, der ist auch schwierig», sagte er schwankend. Bald würde er schlafen, bald würde er träumen. Sie sah, er machte es nicht mehr lange. Die Stunde vor der Dämmerung machte sie alle immer müde.

Die Nacht der Nachteulen wäre bald vorbei. Sie wusste noch nicht so genau, ob sie den Rest in London oder in Paris hinter sich bringen sollte. Eigentlich mochte Duma auch Zürich. Zum Nachdenken flog sie manchmal nach Budapest. Aber sie dachte auch an München. Gutes Koks, reiche Leute.

«Ich werde Europa nicht verlassen», sagte sie zu ihm und er schien froh darüber, hatte allerdings keine Ahnung worüber sie sprach. «Ich auch nicht», meinte er grinsend und schwankte leicht. «Wir sollten endlich etwas bestellen. Das ist doch alles, was ich eigentlich wissen wollte.» Verzweifelt hielt er sich an einem Bier fest.

Am Morgen sprang sie erneut, landete neben einem kleinen Brunnen in der Sonne. Unten am Kleinbasler Rheinufer schliefen ein paar Besoffene und Bekiffte. Deren Träume waren erschöpfte graue Bilder, ein farbloses Delirium. Sie hörte das Polizeiauto nicht, da es elektrisch angetrieben wurde. Die Polizisten fuhren langsamer, vielleicht wunderten sie sich, warum sie vom Himmel gefallen war. Als die Uniformierten ausstiegen, dem Impuls widerstanden nach einer langen traumlosen Nachtschicht den Körper der Sonne entgegenzustrecken, fragte sie sich, ob sie abhauen sollen. Die jungen Beamten kamen auf sie zu. «Ausweis, bitte!»

«So etwas haben wir nicht.»

«Haben sie ein anderes Dokument, das uns zeigen könnte, wer sie sind?»

«Nööö, nicht wirklich …»

«Sie haben doch eine Brieftasche?»

«Brauche ich nicht». Duma sah die Polizisten neugierig an. In den Bäumen erwachten mehr und mehr die Vögel. Für sie war es ein unheimlicher Moment. Plötzlich wurde es in ihrem Kopf leichter, wurden die Bilder weniger und nur einzelne Verwirrte mit einer Morgenlatte träumten von flüchtigen hitzigen Berührungen, für die sie aber noch zu müde waren.

Für Duma war das Schlimmste, wenn die Welt in ihrem Kopf plötzlich schwieg, wenn es schien als hätte niemand mehr die Kraft zu träumen, wenn es schien als seien alle tot. Das war schwer zu ertragen. Manchmal spürte sie, wie ein Träumer starb, er aufhörte zu träumen, sie sah, wie die Bilder verblassten und das Leben nicht mehr das Leben war. Das Schweigen, die Stille war nicht das Schlimmste, das Schlimmste war die Schwärze.

«Wir werden sie mitnehmen müssen, wenn wir ihre Identität nicht überprüfen können», sagte der junge Mann in Uniform. Duma grinste ihn nur übermüdet an. Sie war sich sicher: Sie sah dumm aus. «Das ist mir egal, was ich tue, kann ich überall tun.» Als die Basler Polizei den Engel verhaftete, hatte der Tag begonnen. Duma war es egal, in einer Zelle zu schlafen. Hauptsache, sie träumte nicht.

Bild: Unsplash

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Autor: Andy Strässle

Andy Strässle umarmt Bäume, mag Corinne Mauch und verleugnet seine Wurzeln: Kein Wunder, wenn man aus Blätzbums stammt. Würde gerne saufen können wie Hemingway, hat aber immerhin ein paar Essays über den Mann zu stande gebracht. Sein musikalischer Geschmack ist unaussprechlich, von Kunst versteht er auch nichts und letztlich gelingt es ihm immer seltener sich in die intellektuelle Pose zu werfen. Der innere Bankrott erscheint ihm als die feste Währung auf der das gegenwärtige Denken aufgebaut ist und darum erschreckt es ihn nicht als Journalist sein Geld zu verdienen.

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