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Ein Lied für Europa

Als das Haus schliesslich einstürzte, gaben sich dann doch alle so richtig überrascht. Für einen Sekundenbruchteil nur. Bevor sie unter den Trümmern begraben wurden. Die meisten von ihnen sind nie mehr aufgestanden.

Lange schon hatte man intern über den Zustand der alten Hütte diskutiert. Über den Marder im Estrich, die zerbrochenen Dachbalken, das sinkende Fundament, die eklatanten Schiefstände der Mauern.

Der Gang durchs Treppenhaus kam einer Höhlenexpedition gleich.

Manche Treppenstufen fehlten, andere brachen gerne ein, sogar unter den sanften Tatzen-Tritten der Hauskatzen. Und gerade im Treppenhaus konnte man sie gut sehen – unter den armseligen Resten der prähistorischen Art-Deco-Tapete, die sich schon seit 30 Jahren grosszügig von den Wänden schälte –, die zahlreichen Sprünge und tiefen Risse im Mauerwerk.

“Bedauerlich. Aber alles halb so schlimm. Die Hütte steht ja noch”, pflegten sie hoffnungsvoll zu sagen, die Bewohnerinnen und Bewohner der Liegenschaft, eigentlich eine recht fröhliche Gemeinschaft. Gemässigt fröhlich eben, wie es unserer Zeit und unserem Kontinent angemessen ist.

In den Badezimmern trugen die Wände mächtige Schimmelflecken. Der Verputz war weich geworden. Durch das eine oder andere Loch in diesen Wänden konnte man morsche Balken erkennen. Aber es handle sich dabei keinesfalls um tragende Balken, versicherten sich die Anwohner gegenseitig.

Und wenn jemand das Wasser laufen liess, schien das ganze Röhren- und Leitungssystem des Hauses in heftige Bewegung zu geraten. Wie beleidigte Gedärme, die auf den Verzehr eines Beefsteak Tartar – mit einem rohen Ei garniert – reagieren, das ein Reisender einige Stunden vorher in einem Restaurant in Kathmandu verzehrt hat.

Oder war es in Bangui?
Oder vielleicht sogar in Biarritz…?

„Die Stimmen des Hauses“, nannte der mittellose Poet und Idealist diese Röhrenkakophonien.

Er hauste im Parterre, zwischen mächtigen Büchertürmen, die noch riskanter und wagemutiger aufgebaut waren als einst jener legendäre Turm zu Babel. Was an sich schon Lebensgefahren barg, auch ohne den Umstand, dass der Poet – inmitten all dieser vergilbenden Papiere – Kette rauchte, dass er auch öfter mal rauchend in seinem Sessel einschlief. Zwischen randvollen Aschenbechern, in denen es immerfort glimmte und glühte. Er beherrschte sieben Sprachen. Konnte Hegel, Kant und Wittgenstein lesen und verstehen. Und zwar so leicht, wie andere Leute Dan Brown oder Harry Potter lesen und verstehen.

Trotzdem fand er partout keine bezahlte Arbeit.

“Es kommt schon gut”, sagten die erwachsenen Mitglieder der Mietparteien – die einen zahlten ihre Mietbeiträge übrigens regelmässig ein, die anderen nicht oder nie –, die das alte Haus bewohnten. “Es könnte ja durchaus noch schlimmer sein.”

Die Kinder und Kleinkinder bekümmerten sich nicht um die ganze Fragestellung, sie lebten – wuselnd – ihr eigenes Leben. In vielen Fällen ein kurzes, wie sich herausstellen sollte.

Immer wieder haben die Hausgenossinnen und -genossen festgestellt, dass sich das ganze Gebäude langsam aber stetig absenkte. Früher hatten drei Stufen von der Haustür in den Vorgarten hinunter geführt. Inzwischen musste man, wenn man das Haus verlassen wollte, eine provisorische Treppe hochsteigen. Doch diesen Umstand nahmen sie mit Humor. Schliesslich senkte sich das Gebäude nur langsam ab.

Bloss um einige Zentimeter im Monat…

So ein “leicht marodes Haus” habe, wie alles auf dieser Welt, auch sein Gutes, sagte etwa das Frührenten-Ehepaar Herr und Frau Bantzt gerne, das im vierten Stock wohnte, da breche immerhin garantiert keiner ein. Schliesslich sehe man schon von aussen, dass es hier nichts zu holen sei.

Gut. Im Frühling hatte sich ein Warnzeichen ereignet. Mehrere Ziegel waren mit Karacho vom Dach gefallen – und wären um ein Haar im voll besetzten Drillings-Babywagen gelandet, den Frau Fischer, die aus dem zweiten Stock, gerade vor sich hergeschoben hatte. Aber eben nur knapp…

“Kann passieren”, sang die Hausgemeinschaft unisono, das Leben sei eben immer ein bisschen riskant. Aber die Chose sei ja glücklich ausgegangen. Refrain: “Oder etwa nicht? Oder etwa nicht?”

So träumten sie in den Tag hinein, so schliefen sie in der Nacht, zwischen gefährlich zischenden Stromleitungen, reizbar wie Kobraschlangen. Längst hatten sie sich an die Funkenregen gewöhnt, die manchmal aus den Steckdosen stoben. Werni aus dem ersten Stock amüsierte sich jedenfalls regelmässig darüber, wenn er einen über den Durst getrunken hatte, was eigentlich immerzu der Fall war. Er nannte dieses Phänomen im besoffenen Überschwang „mein kleines, privates, kostenloses Feuerwerk“.

Gut, die Böden waren in letzter Zeit schon etwas gar in die Schräge abgeglitten. Wenn Menzlis aus dem dritten Stock ihre gute Stube durchquerten, kam dies einer zünftigen Bergwanderung gleich, aber, so sagte der sportliche Herr Menzli gerne selbstbewusst, “ein bisschen Anstrengung hat noch nie jemandem geschadet”.

Manchmal kam Pierre der Handwerker vorbei. „Dieser alte Pfuscher“, nannte ihn die Hausgemeinschaft liebevoll.

Sie haben ihn gerne gerufen, wenn etwas wirklich nicht mehr funktionierte. Zum Beispiel die Waschmaschine oder ein Fernsehanschluss. Er bastelte die Sachen dann wieder zurecht. Nicht gut. Aber günstig. Wenn die Bewohner Pierre auf den Gesamtzustand des Hauses angesprochen haben, pflegte er mit fester, wissender Stimme zu sagen, die Hütte stürze schon nicht in sich zusammen, was über hundert Jahre lang gehalten habe, würde auch noch weitere 900 Jahre halten, gute alte Wertarbeit sei eben nicht kaputt zu kriegen.

Dies beruhigte die Hausgemeinschaft enorm – so gingen sie also alle wieder ihren Geschäften, Privatangelegenheiten und Vergnügungen nach…

Und nun ist es doch geschehen. Mitten in der Nacht. Mit einem mächtigen Rumms ist die Hütte eingestürzt. Jenen, die sogleich getötet wurden, war es egal. Den anderen hatte das Ereignis grauenvolle Verletzungen oder eine neue Chance beschert. Ein Leben jedenfalls, das nun doch nie mehr ganz so sein würde, wie es vorher gewesen war, aber trotzdem weitergehen müsse.

Doch so ist es auf unserer Welt!

Eigentlich schade, dass es um alle Häuser in dieser Nachbarschaft ähnlich besorgniserregend bestellt ist, aber da kann man halt nichts machen…

Irgendwo–  in einer jener unzähligen grauen Amtsstuben – registriert ein müder Staatsangestellter den Hauseinsturz. In dreifacher Ausführung. Mit einem leisen Seufzer. Die Sache regt ihn nur ein kleines bisschen auf. Schliesslich kommt es fast täglich zu derartigen Vorfallen. Die Schuld dafür scheint niemand zu tragen.

Er legt die Papiere zu den Akten. Und holt sich einen feinen Kaffee.

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Autor: Christian Platz

Lebt in Basel. Arbeitet überall. Reist recht viel. Vor allem nach Asien. Und in den Deep South der USA. Verdient sein Geld seit über einem Vierteljahrhundert mit Schreibarbeiten. Vorher hat er als Pfleger in einer Irrenanstalt gewirkt. Hat mehrere Bücher veröffentlicht. Spielt seit 40 Jahren fanatisch Gitarre, zwischendurch singt er auch noch dazu. Schreibt unter anderem für Kult. Ist manchmal gut aufgelegt. Manchmal schlecht. Meistens so mittel. Sammelt Bücher, CDs, Filme, Artefakte. In einem psychisch leicht auffälligen Ausmass. Verfügt, bezüglich der Dinge, die er sammelt, über ein lexikalisches Wissen. Platz ist einerseits ein Wanderer auf dem Pfad zur linken Hand. Andererseits Neofreudianer mit Waffenschein. Liebt Blues und Voodoo, Rock'n'Roll und die schwarze Göttin Kali. Trinkt gerne Single Malt Whisky aus Schottland. Raucht Kette. Ist bereits über 50 Jahre alt. Macht einstweilen weiter. Trotzdem wünscht er nichts sehnlicher herbei als die Apokalypse.

WARNHINWEIS:
Dieser Mann tritt manchmal als katholischer Geistlicher auf, stilecht, mit einem besonders steifen weissen Kragen am Collarhemd. Dies tut er in gänzlich irreführender Art und Weise und ohne jegliche kirchliche Legitimation. Schenken Sie ihm - um Gottes Willen - keinen Glauben. Lassen Sie sich nicht von ihm trauen, ölen oder beerdigen. Lassen Sie sich von ihm keinesfalls Ihre Beichte abnehmen. Geben Sie ihm lieber Ihr Geld.

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