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Lesen Sie ein Buch – oder essen Sie einen Apfel!

Gestern legte ich zwei Aprikosen, drei Bananen, eine Feige von meinem eigenen Baum, Trauben, eine Zitrone und ein paar Äpfel in eine Schüssel und stellte die Obstschale auf den Ess/Schreibtisch. Ich merkte, wie das Betrachten dieser gut gefüllten Schale mir grosse Befriedigung verschaffte. So farbig, so gesund, so sorgfältig arrangiert. Ich machte ein Foto. Dann bemerkte ich, dass die Zitrone eine bräunliche Verfärbung hatte, also umdrehen, wieder fotografieren? Nein, denn so eine Obstschale war etwas, das ich von früher her kannte. Bei uns zuhause stand immer frisches Obst in einer Schale parat. Davon sollten wir essen, ganz bestimmt hat diese Alltäglichkeit niemand je fotografiert. Man fotografierte einmal im Jahr sorgfältig arrangierte Familienkompositionen: Die Eltern, die Kinder, der Pudel. Mich beim Lesen, etc. Was man so im Alltag tat oder besass, geschah im Augenblick. Sowas hielt man nicht im Bild fest.

Meine Eltern besassen sogar eine Traubenschere, fällt mir jetzt ein. Die Trauben wurden erst am Tisch in kaltes Wasser getunkt, dann schnitt man einzelne Dolden ab. Komisch, das mir das so detailliert einfällt. Solche Dinge, die wieder mit jenen zusammemhängen, die ich seit Jahrzehnten automatisch weiterführe, die gefüllte Obstschale, die noch ungewaschenen Trauben darin, die ich erst kurz vor dem Essen wasche, genau wie damals, das obwohl ich mich in vielen Dingen von meinem Elternhaus distanziere. Ich wollte nie so leben wie meine Mutter. Ich sah sie als verwöhnte Frau, die den gesamten Haushalt mit ihren Hypochondrien, ihrem Diätwahn, ihrer Unfähigkeit, in magereren Jahren ein wenig zu sparen, tyrannisierte. Und doch, ich tue einige Dinge so wie sie: Ich hänge immer dieselbe Anzahl Frottiertücher ins Bad, ich stelle Obst auf den Tisch. Soweit zu gehen wie jemand in meiner Familie, die jeden Tag die Teppichfransen strählt, wie meine Mutter, nein, wobei, eventuell bloss aus Mangel an kostbaren Teppichen, fürchte ich. Dann ist da noch eine Sache, die bei uns alltäglich war: Ich lese Bücher und Zeitungen. Täglich.

Denn in meinem Elternhaus waren Tageszeitungen ein Muss. Und eine sorgfältig zusammengestellte Bibliothek. Man liess sich Bücher vom Buchhändler in der Stadt empfehlen, zu Geburtstagen und Feiertagen bekamen wir immer Bücher geschenkt. Berühmte Autoren und Autorinnen bewunderten wir, freuten uns auf deren neuen Werke. Und heute schreibe ich also auch Bücher, und ja, ich hege eine leise Verachtung für Leute, die nicht(s) lesen. Ausser ihren Handynachrichten. Ich finde jene seltsam, die mit mir echt befreundet sein wollen, aber noch nie ein Buch oder ein Text von mir gelesen haben. Okay, das mag arrogant klingen. Aber das Schreiben macht mich aus, wer mich verstehen, mit mir befreundet sein will, der/die liest, was ich schreibe. Ob es dann gefällt, bleibt ihm oder ihr überlassen. Es ist eine Sache der Höflichkeit: Man interessiert sich füreinander, was man so im Leben tut. Das war schon das Credo meiner Oma.

Es gibt Autorinnen, die interessieren mich besonders. Ja, ich entdecke sie immer wieder neu. Etwa Anne Tyler, die über Familienbiotope schreibt. Im Grunde geht es immer um das eine: Wieso kann es geschehen, dass man ganz nah miteinander lebt und doch keine Ahnung hat, was die anderen fühlen und denken? Manchmal war ich nicht einverstanden mit Tylers Sichtweise, ich legte das Buch unzufrieden weg, dann las ich es nach einigen Jahren zum zweiten Mal und verstand etwa die Heldin Celia in „Ladder of Years“ nun ganz genau. Tyler sollte man langsam lesen, denn je schneller man liest, desto eher gelangt man zum Ende, so wie bei diesem Buch hier. (Foto). Jetzt freue ich mich auf „The Accidental Tourist“, vor vielen Jahren auch toll verfilmt. Es geht um Verlust, Hunde und Liebe. Und was das alles miteinander zu schaffen hat. Alles Fragen und Themen, die mich begleiten. Wer weiss, vielleicht finde ich die Antworten bei anderen Autorinnen, dann muss ich sie nicht in meinem Schreiben suchen. Was ja total anstrengend sein kann. Apropos, genau deshalb stecke ich immer noch in den letzten Seiten meiner „Powergrazien“-Trilogie fest. Wegen all der unbeantworteten Fragen rund um Verlust, Hunde und, hmm, ja Liebe. (Die nicht mehr unbedingt eine erotische sein muss. Das bringt die Vollreife mit sich.) Was meine Heldinnen für mich beantworten sollen. Oder auch nicht, wer weiss. So, jetzt esse ich einen Apfel aus der Obstschale. Mein Vater suchte sich jeden Tag mindestens einen Apfel aus, polierte ihn am Hemdsärmel, biss krachend hinein. Meine Mutter ass eher eine Unmenge Tabletten. Wer die Wahl hat, hat die Qual…;)

www.vollreif.ch bietet einen recht ordentlichen Überblick über mein Schreiben.

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Autor: Marianne Weissberg

Marianne Weissberg, studierte Historikerin/Anglistin, geboren in Zürich, aufgewachsen in Winterthur, ist ganz schön vollreif. Also eigentlich schon ewig da, was sie in ihren Knochen und im Hirn spürt. Lange Jahre verschlang das Lesepublikum ihre wegweisenden Artikel und Kolumnen in guten (und weniger guten) deutschsprachigen Zeitungen und Magazinen. Persönlichkeiten aus Film, Literatur und Musik wie etwa Robert Redford, Isabel Allende und Leonard Cohen redeten mit der Journalistin, die ganz Persönliches wissen wollte, und es auch erfuhr. Irgendwann kam sie selbst mit einer Geschlechter-Satire in die Headlines und begann in deren Nachwehen ihre zweite Karriere als Buchautorin. Auch hier blieb sie ihrer Spezialität treu: Krankhaft nachzugrübeln und unverblümt Stellung zu beziehen, bzw. aufzuschreiben, was sonst niemand laut sagt. Lieblingsthemen: Das heutige Leben und die Liebe, Männer und Frauen – und was sie (miteinander) anstellen in unseren Zeiten der Hektik und Unverbindlichkeit. Und wenn man es exakt ansieht, gilt immer noch, jedenfalls für sie: Das Private ist immer auch politisch – und umgekehrt.

Sonst noch? Marianne Weissberg lebt mitten in Züri. Wenn sie nicht Kolumnen oder Tagebuch schreibt, kocht sie alte Familienrezepte neu, betrachtet Reruns von „Sex and the City“, liest Bücher ihrer literarischen Idole (Erica Jong, Nora Ephron, Cynthia Heimel) oder träumt davon, wie es gewesen wäre, wenn sie nicht immer alles im richtigen Moment falsch gemacht hätte. Aber das wäre dann wieder so ein Thema für einen neuen Kult-Text.

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