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Duma IX: Halskette mit Etikette

Am Münster wurde fleissig gebaut, das Loch im Dach war mit einer Plastikplane abgedeckt worden und der Innenraum der Kathedrale war nur noch teilweise abgesperrt. Die Spekulationen in den Medien darüber, was genau geschehen war, hatten immer noch nicht nachgelassen. Ein Bauarbeiter etwa hatte einer lokalen Zeitung gesagt, es könne durchaus sein, dass das Loch in den Steinen der Brüstung durchaus die Form einer menschlichen Gestalt gehabt haben könnte. Auch die zerschmetterten Bänke gaben zu Spekulationen Anlass. So berechnete die Online-Ausgabe des Deutschen Spiegels etwa, dass es durchaus sein könnte, dass eine Kirchenbank aus Holz unter der Wucht des Aufpralls komplett auseinander brechen würde, wenn jemand aus 38 Metern Höhe mit einem Gewicht von etwa sechzig Kilo darauf fallen würde.

Während die Mönche aus Taizé noch immer jeden Tag auf dem Münsterplatz sangen, meditieren und ihre Besucher und die Schaulustigen immer zahlreicher wurden, blühten auf dem Internet die Weltuntergangsfantasien auf. Es konnte nur die Ankündigung der «Zombie-Apokalypse» zu sein. Der Beweis dafür war der Kampf mit den Polizisten in der Rittergasse. Nach einem solchen Sturz konnte die Frau, ob Engel oder nicht, einfach nicht mehr richtig am Leben sein, folgerichtig musste es sich um einen Zombie handeln.

An der malerischen Zürcher Goldküste in Zollikon war PR-Guru Klaus J. Stoelker dabei, das Tagebuch einer Kinderbetreuerin zu studieren. Anita Staub hatte 1963 als Erzieherin im Schifferkinderheim in Kleinhünigen gearbeitet. Ihr Verhältnis mit Waisenmutter Carol Rüdisuehli war angespannt gewesen und darum hatte sie Seite um Seite über den Alltag und über die Kinder im Heim mit ihrer kleinen sorgfältigen Schrift gefüllt. Stoelker hatte sich gerade eine dicke Zigarre angezündet. Das war nicht gut für seinen Blutdruck, aber er hatte schon immer gewusst, wie man das Leben genoss. Der Kommunikationsspezialist hatte der Basler Regierung versprochen, die Sache mit dem Engel aufzuklären und der Geschichte eine andere Richtung zu geben. Erst einmal galt es die Frage der Identität zu klären. Wenn die Basler aufzeigen konnten, wer Duma war – und vor allem, dass sie ein Mensch, wie alle anderen wäre – so würde sich die Sache bald in Luft auflösen. Noch immer wunderte sich Stoelker, warum niemand am Rheinknie darauf gekommen war.

Zu seinem Leidwesen musste er sich inzwischen eingestehen, dass es nicht ganz so einfach war: Bis jetzt hatte seine Agentur einiges an Geld investiert und personelle Ressourcen verschwendet, um der Frau auf die Spur zu kommen. Nicht einmal der Privatdetektiv hatte viel Brauchbares herausgefunden. Die einzige Spur war Tagebuch aus dem Kinderheim. Unterdessen hatte er die Regierungsräte Wassermann und Schweizer beinahe täglich am Hals, da die Regierung sich zunehmend Sorgen um ihr Image machte. Zudem hatten die Protokolle von Polizei und den Sanitätern erst für die Schlagzeilen gesorgt, so dass die beiden Politiker um ihre Karriere fürchteten.

Die Sanitäter hatten Knochenbrüche, innere Blutungen und ein Schädel- und Gehirntrauma protokolliert und in den Polizeirapporten war von einem Angriff einer blutüberströmten Frau die Rede gewesen. Beide Berichte hatten unterdessen mindestens teilweise den Weg an die Öffentlichkeit gefunden. Die Basler schienen sich nicht gewohnt zu sein, dass gewissen Medien mit harten Bandagen und nicht zuletzt mit dem Mittel der Bestechung kämpften. So dass es immer schwieriger wurde, unliebsame Fakten zu unterdrücken. Wie Stoelker unterdessen wusste, schien sich Duma, wie sie sich heute nannte, aus einer Blutlache am Münsterboden erhoben zu haben, umstehende Beamte wegdrängend und dann in die Rittergasse geflüchtet zu sein, wo sie nach einer weiteren Rangelei dann aufgegeben hatte.

1963 aber hatte niemand genau gewusst, woher das Mädchen, das sagte, sie könne sich nur daran erinnern, dass man sie am Ort vorher Stranny genannt hatte, stammte. Das Schifferkinderheim gab hauptsächlich den Kindern der Rheinschiffer Unterschlupf, während diese den Rhein hinab nach Antwerpen oder Rotterdam fuhren. Vereinzelt seien manchmal auch Kinder von Matrosen, die länger zur See fuhren da gewesen, schrieb Anita Staub.  Die Erzieherin beschrieb die Umgebung als schäbig, die Luft trotz ländlicher, fast dörflicher Umgebung als gesättigt mit Kohlestaub, welcher vom Wind immer dann hinübergetragen wurde, wenn ein Schiff gelöscht wurde. Vor dem Heim hatten die Kinder einen kleinen Park zum spielen, doch drinnen in den Zimmern war es oft eng. Das Heim wusste nie genau, wie viele Kinder länger als die drei Monate bleiben würden, die die Binnenschiffer normalerweise unterwegs waren.

Stoelker erhob sich von seinem Chefsessel, ging hinüber zu seinem grossen Cheffenster und zog tief an seiner Zigarre. Er versuchte sich die Szenerie vorzustellen: Das alte Heim gab es in Basel nicht mehr, zwar war die Villa davor noch erhalten, aber das Haus dahinter war abgerissen worden. Geblieben war ein vergilbtes Foto mit kleinen Kindern, die sich vor einer Schaukel tummelten, einem grossen Baum und dem Heim im Hintergrund. Drumherum war der Hafen gewachsen, das Gelände vom Rhein getrennt durch Geleise und Silos, die das kleine Dorf überragten.

Der PR-Fachmann hatte damals noch in Ludwigshafen gelebt, wo er aufgewachsen war. Er erinnerte sich an eine Zeit des wirtschaftlichen Aufbruchs und daran, dass der Glaube an Fortschritt und Wissenschaft damals heilig gewesen waren. Auch wenn man am Sonntag in die Kirche ging, war keine Rede von Engeln und solchem Unsinn. Als er eine dicke Rauchwolke in Richtung des Zürichsees ausstiess, dachte er daran, dass es damals für die Erzieherinnen um Anita Staub damals noch Mut gebraucht hatte zu arbeiten und nicht einfach zu heiraten.

Anita Staub schrieb, dass sich die Chefin Frau Rüdisuehli nicht genug Mühe mit den Kindern geben würde. Mehr als einmal waren die Tagebucheinträge frustriert und mehr als einmal nahm sich Staub vor, dem Schifferkinderheim den Rücken zu kehren. Mit bald achtzig Jahren konnte sich Stoelker die Welt von damals noch vorstellen. Er zog an seiner Zigarre, als er an den Boom nach dem Krieg dachte und schliesslich den Höhepunkt des kalten Krieges. Die Jahre, die zum Wettrüsten und schliesslich zu den Atomwaffen führten. Mit dem zunehmenden Wohlstand ging eine zunehmende Angst vor einem Krieg einher, bei dem die ganze Welt in die Luft gesprengt werden könnte. Die Begründung glaubte er heute noch nicht recht. Zwar war er politisch heute weitaus bürgerlicher ausgerichtet als in jungen Jahren, aber das «Gleichgewicht des Schreckens», bei dem Russland und Amerika jeweils soviel Bomben besassen, um gleich den ganzen Planeten in die Luft zu jagen, kam ihm immer noch reichlich zynisch vor.

Der Umgang mit Kindern war wahrscheinlich wenig zimperlich gewesen. Es galt zu arbeiten, den Aufschwung zu erhalten, da blieb nicht viel Zeit, sich um den Nachwuchs zu kümmern. Er nahm erneut einen Zug aus seiner Zigarre, ging zu seinem Tisch zurück und sah auf das Foto, das er im Internet gefunden hatte. Ein kleines Haus. Eine Handvoll Erzieherinnen und zwei bis drei dutzend Kinder von Schiffern, um die man sich für einige Monate kümmerte. Das Schifferkinderheim genoss trotz der Kritik von Anita Staub keinen schlechten Ruf. Die Kinder waren nicht ungern da. Dazu kam wohl, dass es kleiner war, als die staatlichen Waisenhäuser.

Auf seinen Papieren waren die Passagen, die Duma betrafen mit gelb hervorgehoben. Obwohl er die Abschnitte mehrmals gelesen hatte, war ihm nicht ganz klar, wie das Mädchen in Kleinhünigen gelandet war. Es schien, als wolle Corina Ruedisuehli nicht darüber sprechen. So schrieb Anita Staub: «Am Morgen war ein neues Mädchen beim Frühstück. Es sass abseits von den anderen und schien die Sprache nicht zu verstehen. Als ich die Frau Ruedisuehli fragte, ob wir in der Nacht eine notfallmässige Aufnahme gemacht haben, sagte sie mir nur, sie werde mir später alles erklären, ich solle doch zusehen, dass wir sie alle in die Schule brächten.»

Am Abend schliesslich hatten die Erzieherinnen ihr Gespräch. Staub schrieb: «Unsere Waisenmutter sagte, dass Kind hätte sich auf verschiedenen Schiffen versteckt gehabt, spreche nur russisch und sei dann vom Kapitän des Motorschiffs Veronika gefunden und zu uns gebracht worden. Ich sprach davon, die Polizei zu verständigen, da es doch nicht möglich sei, dass ein Kind übers Meer und über den Rhein in Laderäumen einfach so bis zu uns fahre. Die Waisenmutter meinte ganz entschieden, wir würden erst einmal sehen, was wir für das Kind tun könnten und könnten ja dann mit dem Kapitän sprechen.»

Verwundert hatte Stoelker weitergelesen, dass Anita Staub nach Feierabend gleich selbst zum Seemannskeller begeben hatte. Dort nicht weit vom Hafen tranken die Schiffer, während ihre Schiffe gelöscht wurden. Im Schiffertreff, der in einem Keller eines Silos untergebracht war, hatten sie Matrosen und Arbeiter rau und gewohnt sexuell anzüglich begrüsst, so wie es unter Seemännern üblich war. Diese Passage war zwar nicht gelb markiert gewesen, aber er hatte sie trotzdem gelesen. Während die junge Frau zwar entsetzt gewesen war, dass ihr einige Männer «unmoralische Angebote» machten, liess sie sich nicht weiter beirren und fand schliesslich den Kapitän der Veronika bei Bier und Schnaps.

Die Erzieherin hatte Respekt für die Welt der Schiffer, die harte körperliche Arbeit leisteten und für ein geringes Entgelt fast immer unterwegs waren. Allerdings fiel es ihr schwer zu verstehen, warum ein erfahrener Binnenschifffahrtskapitän, nur um einem Freund aus Rotterdam einen Gefallen zu tun, ein Mädchen nach Basel brachte. Anita Staub hatte ihre Fragen genauso gewissenhaft und mit sicherer Feder im Tagebuch festgehalten, wie ihre Beobachtungen aus dem Heim und die Kritik an der Waisenmutter.

Der Kapitän eines russischen Getreidefrachters hatte das Mädchen ausgehungert, mit grossen Augen und voller Angst vor Ratten in einem seiner dunklen Frachträume gefunden. In Rotterdam angekommen, überredete er den Arzt am Hafen gegen eine Flasche finnischen Wodkas – offenbar eine Rarität damals – die sechs- bis achtjährige zu entlausen und zu untersuchen, ob etwas nicht stimmte. Nachdem das geklärt war, blieb der Russe weiter ratlos. In einer der Rotterdamer Hafenbars traf er seinen Saufkumpanen von der MS Veronika, der eben dabei war, Getreide zu laden. Der Schweizer brachte Corina und das Kinderheim ins Spiel. Er meinte, sie schulde ihm einen Gefallen. Der Alkohol floss in Strömen. Aber noch in der Nacht wechselte das Mädchen die Schiffe und reiste mit der MS Veronika nach Basel. Anita Staub fand nie genau heraus, warum ihre Chefin, die sich sonst ziemlich streng an die Vorschriften hielt, einfach so ein rätselhaftes Waisenkind aus Russland aufnahm. Da die Reedereien, die das Kinderheim für ihre Matrosen, Kapitäne und Arbeiter unterhielten, war es für die Schifffahrtsunternehmen höchstens ein Nebenschauplatz, so dass es niemanden ausser Anita Staub kümmerte, ob ein Kind mehr oder weniger dort lebte. Alles ging gut, solange keine Klagen kamen. In den nächsten Wochen und Monaten schien Duma der Erzieherin gar ans Herz zu wachsen. Sie staunte darüber, wie schnell das Kind, das weder seinen Nachnamen noch sein genaues Alter kannte, die Sprache lernte. Sie staunte darüber, dass es manche Dinge schon zu wissen schien, noch bevor diese in der Schule durchgenommen wurden. Als Anita Staub Stranny, wie sie alle nannten, fragte, woher sie den Schulstoff kenne, meinte sie, sie hätte es in den Träumen jener Leute gesehen, die die Bücher schrieben.

Einige Zeit ging auch in den Nächten alles gut. Zuerst kamen nur vereinzelte Meldungen aus dem Schlafsaal. Dabei konnte es sich auch um Verwechslungen oder Übertreibungen handeln, da es bei so vielen Kindern manchmal drunter und drüber ging. Schliesslich war es Rüdisuehli, die meinte, man müsse aufpassen, der Neuankömmling sei ein Schlafwandler und überall im Haus unterwegs. Die beiden Erzieherinnen versuchten, mit Stranny zu sprechen. Aber sie brach nur in Tränen aus und schluchzte, es kämen immer mehr und mehr, sie wisse nicht mehr, welche Träume wohin gehören würde und, ob es ihre eigenen Träume wären, die so schrecklich seien. Stranny konnte nicht erklären, wie sie aus dem Schlafsaal herauskam.

Anita Staub, eine belesene Frau, die Anna Freud gelesen hatte und sich für Pädagogik interessierte, meinte, sie müssten das traumatisierte Kind zum Psychiater bringen. Ganz klar werde das Kind von schrecklichen Alpträumen oder gar Visionen geplagt. Man müsse sie untersuchen, rausfinden, was mit ihr nicht stimme, vielleicht leide sie unter einem Hirntumor. Staub stritt, flehte, bettelte, wies darauf hin, dass das Kind manchmal sehr bleich sei, wenn man es in der Nacht fände. Das sei kein gutes Zeichen, könne nicht gesund sein. Die Erzieherin hatte immer gedacht, der Chefin gehe es vor allem um das wohl der Schutzbefohlenen. Aber bei Stranny zeigte sie sich unnachgiebig. Kein Arzt, kein Psychiater.

Eigentlich war es Zeit fürs Mittagessen. Doch mindestens die Strategie wollte Kommunikationsfachmann Stoelker bis am Nachmittag bereit haben. Die Geschichte mit den Schiffen, dem russischen Getreide, das alles gefiel Stoelker ausnehmend. Ein blinder Passagier, zwei hilfsbereite Kapitäne und schliesslich die beiden Damen in Basel. Das würde helfen, einen Zusammenhang herzustellen. Das Ganze war romantisch und geheimnisvoll, passte nicht in die moderne von Daten kontrollierte Welt, in der jede Ecke gnadenlos ausgeleuchtet war. Weiter ging es mit dem traumatisierten Mädchen, den gutmütigen, aber überforderten Erzieherinnen. Als er seine Zigarre ausdrückte, wusste Stoelker, damit konnte man ganz gut arbeiten.

Er ging vor seinem Schreibtisch auf und ab. Seine Geschichte hatte einen Vorteil. Sie stimmte grösstenteils mit derjenigen überein, die Duma im Spital erzählt hatte. So hatte sein Büro immerhin darin Erfolg gehabt, Stranny zu finden und den Weg nach Russland zurückzuverfolgen, auch wenn sich die Spur in St. Petersburg gänzlich verloren hatte. Ein weiterer Haken war dazu, dass 1963 zu lange her war. Zwar hatte er nur Fotos von Duma gesehen, aber es war klar, dass sie dreissig, höchstens Mitte dreissig war. Das war das Loch in seiner Geschichte.

Die Notizen von Anita Staub waren nicht besonders klar. Am Ende verschwand das Mädchen so plötzlich wie es gekommen war. Die Erzieherin vermutete, ihre Chefin stecke dahinter, konnte das aber nie recht beweisen. Es war immer schwieriger geworden Stranny zu kontrollieren. Tagsüber klappte es einigermassen: Das Mädchen ging zur Schule, schlief dort manchmal zwar übermüdet ein, schaffte es aber ihre Hausaufgaben und Pflichten in der Küche des Kinderheims und im Haushalt zu erledigen.

Anita Staub schrieb und viele Jahre später ärgerte sich Klaus J. Stoelker über einer Zigarre an seinem Schreibtisch, das war wieder dieser Zombie-Apokalypse-Quatsch: «Sie scheint sehr stark zu sein. Zwar ist sie klein und dunkel und wirkt manchmal etwas verkniffen. Aber so bald ein grösserer Junge sie hänseln oder angreifen will, weicht sie keinen Millimeter zurück, obwohl die anderen Kinder alle eingeschüchtert sind. Mittlerweile wehrt sie sich auch für die anderen kleinen Kinder. Aber bis jetzt ist die Situation noch nie ausser Kontrolle geraten. Meist ziehen die grösseren Jungs bald den Schwanz ein, wenn sie merken, dass ein so kleines Mädchen überhaupt keine Probleme hat, ihnen entgegenzutreten. In den Pausen ist es ruhiger als auch schon.»

In Erinnerung war Staub die Geschichte geblieben als Stranny sich einem Koch in den Weg stellte, der ein Mädchen aus dem Kindergarten wüst beschimpfte, weil es beim Abräumen einen Teller fallengelassen hatte. Offenbar hatte sich die Achtjährige ruhig und bestimmt zwischen das Kindergartenkind und den dicken, verschwitzten Koch gestellt. Sie war viel kleiner und sah ihn nur an. Die Kollegin, die den Speisesaal beaufsichtigt hatte, sagte: «Du weisst wie Heinz schreien kann, es liegt vielleicht auch am Weisswein, den er immer säuft und dann dreht er halt manchmal durch, aber sie hat ihn nur angesehen und ich weiss nicht warum, aber er schrie zuerst noch lauter, aber dann schien ihn etwas zu erschrecken und plötzlich ging er einfach in seine Küche zurück. Ich weiss einfach nicht, was er gesehen hat. Sie ist nur ein kleines Mädchen. Das hat ihn noch nie aufgehalten. Aber es schien als hätte er Angst vor ihr.»

Heinz hatte mit Anita Staub nicht über Stranny sprechen wollen. Sie fand heraus, dass er in der Küche ruhiger geworden war. Für eine Weile hatte er sogar die Hilfsköche in Ruhe gelassen und die Kinder fürchteten sie nicht mehr so sehr, wenn sie in der Küche die Teller holen mussten, um die Tische zu decken. Als sie ihn endlich direkt fragte, meinte er nur, es sei ihm klar geworden, dass er einen Fehler gemacht habe. Er habe sich an die Tochter seines Bruders erinnert, die auch so klein sei und habe darum Mitleid gehabt. Er wolle auch weniger trinken. Natürlich war Anita Staub mit dieser Erklärung nicht zufrieden. Sie fand aber nicht mehr über diesen Moment hinaus. Im Tagebuch ermahnte sie auch, sich nicht nicht auf das Mädchen aus Russland zu konzentrieren. Die anderen Kinder seien auch wichtig.

Mit der Ruhe im Kinderheim war es bald vorbei: Die nächtlichen Störungen wurden immer mehr und die Kinder erzählten ihren Eltern vom Mädchen im Schlafsaal, dass in der Nacht immer wieder verschwand. Am Anfang gelang es Rüedisuehli noch die Sache herunterzuspielen. «Kein Problem, ein Kind das nicht schlafen kann. Nichts weiter», versicherte sie den besorgten Eltern auf Wochenendbesuch, die fragten, was im Heim denn in der Nacht los sei.

Nach einigen Monaten verliessen bestimmte Kinder das Heim, da die Heuer ihrer Eltern ausgelaufen war und sie an Land zurückkehrten. Dafür kamen neue Schützlinge ins Heim, um hier für die Dauer der Reise der Eltern auf dem Rhein oder auf hoher See zu wohnen. Schon beim Pick-Nick im Garten, mit dem die Neuankömmlinge begrüsst und von ihren Eltern verabschiedet wurden, hatte Stranny erklärt: «Etwas Schreckliches wird passieren. Das Schlimme ist in meinem Träumen.»

«Hast Du Alpträume, mein Kind», fragte Anita Staub und bot ihr an, sie könne ausnahmsweise bei ihr im Zimmer schlafen, falls sie noch Zeit brauche, sich an die neuen Kinder zu gewöhnen. Doch das Mädchen meinte nur, dass etwas Schreckliches geschehen werde und sie es sehen könne. Die Nächte wurden immer unberechenbarer. Einmal musste die Feuerwehr das weinende Kind vom Dach herunterholen. Ein anderes Mal wurde sie um drei Uhr morgens von der Polizei zurückgebracht, die sie auf dem Barfüsserplatz gefunden hatte. Rüedisuehli dachte wie immer praktisch.

Das Mädchen bekam eine Halskette mit einer Etikette, auf der ihr Name und ihre Adresse draufstanden. Das würde dem Heim mindestens helfen, das Kind zurückzubekommen. Verwundert las Stoelker, dass Rüedisuehli ihre Kollegin darum bat, sich zu merken, dass Stranny Meier aus Kirchberg stammen würde und ein frei erfundenes Geburtsdatum hatte. Für Stoelkers Privatdetektiv führten auch diese Angaben in eine Sackgasse. Stranny Meier tauchte nur noch einmal auf einer Liste bei einem Zahnarztbesuch auf. Sonst hatte sie keine weiteren Spuren hinterlassen, ausser jene im Tagebuch von Anita Staub.

Die jüngere Erzieherin war sich sicher, dass Rüedisuehli am Verschwinden des russischen Waisenkindes Schuld hatte. Auch die Vorwürfe, dass die Erzieherinnen nicht genug gut aufgepasst hatte, musste sich die Ältere gefallen lassen. Aber eine bessere Antwort ausser, dass sie weg sei, und sie niemand zurückgebracht habe, hatte Staub nie bekommen. Falls ihre Chefin ein Geheimnis hatte, so nahm sie es mit ins Grab. Mit der Zeit schien sich Anita Staub damit zu beruhigen, dass das Mädchen vielleicht einfach mit dem nächsten Schiff weitergereist sei. Auch wenn das für ein achtjähriges Mädchen doch sehr ungewöhnlich war.

Stoelker entschloss sich die Sitzung abzusagen und bat seine Sekretärin, ihm einige Sandwiches zu organisieren. Die Geschichte war gut. Und die Übereinstimmungen verblüfften ihn. Aber letztlich würde ihnen das nicht weiterhelfen, die Frau im Basler Spital war einfach zu jung. Er würde etwas anderes versuchen müssen, wo keine Geschichte war, musste man schlicht eine erschaffen. Davon durfte aber niemand wissen, sonst würde bald klar, dass es ein Märchen war. Mit einer weiteren Zigarre setzte er sich an seinen Computer.

In den vergangenen drei Tagen hatte im Büro Stoelker am Zürichsee Hektik geherrscht. Auch in der Nacht war das Neonlicht nur noch selten ausgegangen. Kuriere kamen mit Dokumenten, zwischendurch waren Anwälte zur Besprechung zu Gast und einige verwirrt wirkende Schreiberlinge zogen bald wieder von dannen. Von den Angestellten wusste niemand genau, was der Chef genau ausheckte. Sogar seine Fotokopien machte er selber. Nur den Kaffee liess er sich noch machen und auch die Zigarren durfte man ihm immer noch bringen. Alle Fäden liefen bei ihm zusammen und manche Leute machten sich um seine Gesundheit Sorgen. Schliesslich war der Chef nicht mehr der Jüngste. In Zollikon konnte da niemand wissen, dass die Bemühungen Stoelkers innerhalb von Stunden völlig überflüssig sein würden.

Ganz offensichtlich hatte die Tages Anzeiger-Gruppe mit der Story ganz bewusst bis am Freitagmorgen gewartet. Am frühen Morgen lancierten sie die ersten Häppchen im Tages Anzeiger und der Pendlerzeitung 20 Minuten, um dann zu versprechen, dass im Laufe des Tages noch mehr Informationen kämen. Die Zürcher versprachen, die Identität des Engels von Basel restlos aufzuklären. Dem Newsroom würden exklusive Dokumente vorliegen, die beweisen würden, woher die Frau komme und wer sie sei. Mehr war am Radio noch nicht zu hören. Aber Updates würden stündlich erfolgen. Klaus J. Stoelker hörte die Story in seinem Mercedes und wusste sofort, dass ihm die Mediengruppe zuvorgekommen war. Selbstsicher, wie er eben war, nahm er es als selbstverständlich an, dass die Journalisten nicht mehr als sein Büro herausgefunden haben konnten. Er war überzeugt, sie hatten an der Werdstrasse die Geschichte erfunden.Er nahm seinen Aktenkoffer vom Beifahrersitz, verschloss den Wagen mit einem Klick und murmelte als er auf sein Büro zuging: «Verdammt, die hatten die gleiche Idee wie ich.»

Foto: unsplash/ Joshua Earle

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Autor: Andy Strässle

Andy Strässle umarmt Bäume, mag Corinne Mauch und verleugnet seine Wurzeln: Kein Wunder, wenn man aus Blätzbums stammt. Würde gerne saufen können wie Hemingway, hat aber immerhin ein paar Essays über den Mann zu stande gebracht. Sein musikalischer Geschmack ist unaussprechlich, von Kunst versteht er auch nichts und letztlich gelingt es ihm immer seltener sich in die intellektuelle Pose zu werfen. Der innere Bankrott erscheint ihm als die feste Währung auf der das gegenwärtige Denken aufgebaut ist und darum erschreckt es ihn nicht als Journalist sein Geld zu verdienen.

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