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So kam es, dass der Teufel mein Freund geworden ist

Mit dunkler, unheilschwangerer Stimme hat sie es gesagt, die alte Dame, die in meiner Kindheit auf mich aufzupassen pflegte, wenn meine Eltern ausser Landes waren, was ziemlich häufig vorgekommen ist: „Wenn Du vor dem Einschlafen nicht das Vaterunser betest, wird der Herrgott Dich furchtbar bestrafen. Er wird Deine Eltern auf ihrer Reise sterben lassen. Dann musst Du für immer bei mir bleiben.“

Ich antwortete unsicher: „Aber es gibt keinen Gott. Genausowenig, wie es Geister gibt oder die Räuber im Wald. Das sagt mein Papa immer – und auch mein Onkel Dante aus Rom.“

„Du lügst, Bub“, hiess die unvermeidliche Antwort, „so etwas würde Dein Papa nie sagen. Dein Papa ist ein hoher Chef, Dein Onkel Dante ist ein echter Professor. Beide wissen, dass es den lieben Gott gibt. Alle wissen, dass es den lieben Gott gibt. Und der liebe Gott ist ein strenger Richter!“

Diese Antwort liess meine Gedankenbahn für einen Moment entgleisen.

Papa und Dante hatten doch mehrfach und deutlich zu mir gesagt, dass Gott genauso erfunden worden sei, wie das Rotkäppchen und das Schneewittchen einst erdacht worden waren. Irrtum ausgeschlossen.

Ich hatte diese ihre Aussagen keineswegs geträumt – und gelogen hatte ich auch nicht. Ich habe damals nämlich noch nicht gelogen, das kam erst später, unter dem unerträglichen Druck, den die Gesellschaft ausübte, in die ich hinein geboren war.

Nun behauptete die alte Dame plötzlich das Gegenteil.

Meiner kindlichen Erfahrung sagte mir, dass die Erwachsenen in der Regel Recht haben. Vielleicht gab es in unserer Wohnung an der Froschgasse keinen Gott, aber hier, in der Wohnung der alten Dame, an der Storchenstrasse, schien es ihn zu geben.

Hier war seine Präsenz ganz und gar spürbar, eine kalte, strenge, eine unerbittliche Gegenwart.

Ich betete also. Dieses komische Gedicht, das sich nicht reimt, dessen Inhalt ich nicht so richtig verstand. Und die alte Dame betete danach immer den Rosenkranz, mit dem Ave Maria, ihr Solo gewissermassen, einen Text, der mich noch ratloser zurückliess. Beim Wort „gebenedeit“ habe ich mir immer bleiche Gebeine vorgestellt, die in einem dunklen Tal herumliegen. Dann musste ich das Kruzifix, welches am Ende des Rosenkranzes hing, auch noch küssen. Eine Handlung, die ich als kleiner Bub natürlich unsagbar eklig fand. Am Ende wurde ich jeweils noch mit heiligem Wasser aus Lourdes besprengt. Das Plastikfläschchen war wohl noch aus den 1950er Jahren übrig geblieben. Es roch penetrant nach Moder, nach finsteren alten Kellerverliesen. Nach Folterkellern.

Dann wurde das Licht gelöscht.

Aber danach war es nicht gänzlich dunkel. Durch Ritzen im Fensterladen stiess Licht ins Zimmer vor, trübes vorstädtisches Strassenlampen-Licht der frühen 1970er Jahre. Und wieder starrte ich das Bild an, es prangte an der Wand, vielleicht einen Meter über dem Fussende meines Betts. Es hing da wie ein Vorwurf. Eine Erinnerung daran, dass die Realität eben doch kein besonders freundlicher Ort ist.

Das Bild zeigte die so genannte Grablegung Christi.

Der bleiche, geschundene Körper von Jesus, in ein graues Tuch gehüllt, wird von schattenhaften, gebeugten Gestalten betrauert, in einer finsteren Höhle, das Haupt der Leiche immer noch vom Dornenkranz gekrönt, die Verletzungen der Dornen sind besonders detailverliebt dargestellt. Verkrustetes Blut überall. Das Bild lenkte meine Gedanken auf den Tod. Ich fühlte mich, als hätten meine Gebete, unter Druck und mit Unwillen gesprochen, eine Türe geöffnet, zu diesen gespenstischen Todesfiguren, deren Namen da waren: Jesus und Gott. Ich war in das Feld ihrer allmächtigen Wahrnehmung gerückt – und sie wussten, dass ich die Gebete nicht ganz ehrlich meinte. Missbilligend starrten sie mich an. Augen, die Höllenfeuer versprechen.

Seltsamerweise hatte ich vor dem heissen Höllenfeuer am wenigsten Angst.

So lag ich in der Wohnung an der Storchenstrasse oft lange wach. Als ich dann endlich einschlief, träumte ich, dass ich ein Tierarzt in Afrika wäre, der gerade ein Zebra heilt… So ein Tierarzt wie der berühmte Daktari aus dem Fernsehen, der immer von seiner Assistentin Paula begleitet wurde, die ich gerne unter der Dusche gesehen hätte. Textilfrei.

Ich wusste allerdings nicht so genau, warum ich diesen Wunsch verspürte…

Am Sonntag fuhren die alte Dame und ich immer mit dem Bus zu einem Wallfahrtsort. Bad Leichnam. Eine lange, langweilige Fahrt. Dort gab es eine unterirdische Höhle. Mit ausgedehnten Gängen und zwei Kavernen. In der ersten wohnte eine schwarze Madonna, die fand ich irgendwie schön. Sie erzeugte in mir einen gewissen nervösen Kitzel, von dem ich heute vermute, dass er eine weitere präpubertäre sexuelle Regung darstellte – kein Wunder also, dass Kali, jene schwarze Göttin aus Indien, in meinem späteren Leben eine derart wichtige Rolle spielen sollte.

In der zweiten Kaverne lag ein mächtiger toter Jesus. Aus weissem Stein geschlagen. Reihenweise standen sie an, die alten Weiber – ich nannte sie so, weil ich wusste, dass Frauen in jenem seltsamen Buch, der Bibel, auch so genannt werden -, um die kalte Hand dieses Idols zu küssen. Auf dem steinernen Handrücken konnte man eine eklige kleine Greisinnenspeichel-Pfütze sehen.

Schon waren wir an der Reihe.

Zunächst schmatzte die alte Dame die Hand ab. Ein gaaaanz feuchter Kuss. Dann wurde mein Kopf der heiligen Stelle entgegen gedrückt, ich musste meine Lippen spitzen, schloss die Augen und versank in einem Ozean aus Ekel. Nur die Spielzeugpistole und das Cowboyheft, die mir als Belohnung in Aussicht gestellt worden waren, bewahrten mich vor dem Ertrinken.

Und so erging es vielen Kindern.

Kein Wunder also, dass es vor der Wallfahrtskirche von Bad Leichnam einen kleinen Marktstand gab. Ein fröhlicher Italiener – Herr Fenaroli – verkaufte an diesen Stand Spielzeuge und Heftli, Bestechungsgut für Kinder. Jesus-Lockstoff. Auf der rechten Seite des Standes gab es allerlei Plastikwaffen, Pistolen, Gewehre, Schwerter, Tomahawks und Cowboyhefte. Die linke Seite bot hingegen glänzenden Tand und seltsame rosarote Gegenstände, sie war für die Mädchen bestimmt.

Die alte Dame gab mir also den obligatorischen Fünfliber, ein stattliches Stück Geld.

Während sie mit dem Pfarrer redete, durfte ich mir bei Herrn Fenaroli die Waffe und das Heft meiner Wahl aussuchen. Der Verkäufer, immer frohgemut, beriet mich fachkundig beim Einkauf. An jenem denkwürdigen Sonntag entschied ich mich für einen Colt Cobra und ein Heftli namens Diablo, eine Mischung aus Cowboy- und Geistergeschichte. Im Vierfarbendruck.

Nun muss ich noch erwähnen, dass wir zum Abschluss des Besuchs immer die grosse Domkirche von Bad Leichnam besuchten, diese trug einen ausserordentlich kapitalen goldenen Dachhahn, der aus der Ferne wie ein Drache wirkte. “Die Domkirche, mit ihren herrlichen Bildern”, wie die alte Dame zu sagen pflegte. Auf den meisten dieser Bilder waren Folterungen blosser Leiber zu sehen. Ausführlich. Sie zeigten zwar entsetzliche und blutige Vorgänge, sahen für mich aber trotzdem irgendwie harmlos aus.

Das Deckengemälde präsentierte den kompletten göttlichen Hofstaat. In seiner ganzen selbstherrlichen Arroganz. Am unteren rechten Ende – vom Eingang aus gesehen – des Gemäldes konnte man einen lustigen, dicklichen, roten Gesellen sehen, Hörner auf dem Haupt, ein freches Grinsen im Gesicht. „Das ist der Böse, der Teufel“, pflegte die alte Dame jeweils zu flüstern, wenn wir das Gemälde betrachteten.

Ich mochte ihn irgendwie.

An jenem denkwürdigen Sonntag sagte mir Herr Fenaroli, als ich meine Einkäufe bezahlt hatte: „Musstest Du wieder die steinerne Hand küssen? Eklig nicht? Da würde ich lieber die dort drüben küssen…“ Er deutete mit dem Kinn auf die junge Verkäuferin, die am Stand gegenüber Kerzen feilbot. Ich fand diese Aussage von Herrn Fenaroli zwar ein bisschen peinlich. Aber ich stimmte ihm grundsätzlich zu.

Dann beugte er sich zu mir herunter und sagte leise: „Du kennst doch den Teufel, den mit dem Hörnern, auf dem Bild in der grossen Kirche…?“ Ich nickte. Dann sagte er: „Glaub mir, der ist viel lustiger als der tote Jesus und sein strenger Vater…“ Meine Vermutungen waren also richtig.

Der Verkäufer beugte sich noch tiefer zu mir herunter und flüsterte: „Ich verrate Dir jetzt ein Geheimnis. Der Rote mit dem Hörnern ist Dein Freund. Wenn Du wieder unter ihm stehst, dann flüstere folgende Worte – Ol sonuf vaoresaji. Kannst Du Dir das merken? Sag sie nach. Und wenn Du zuhause einen Wunsch hast, zünde in der Nacht einfach eine Kerze an – und sag sie wieder, diese magischen Worte…“

„Ol sonuf vaoresaji“, flüsterte ich also. Sechs mal liess mich der Spielzeugverkäufer die Formel aufsagen, bis ich sie mir eingeprägt hatte.

Als die alte Dame und ich an diesem Tag die Domkirche von Bad Leichnam betraten, flüsterte ich die rätselhaften Worte der Decke entgegen. Und – ob Sie es glauben oder nicht – der Gehörnte zwinkerte mir fröhlich zu.

In der gleichen Nacht schlich ich in die Küche. Die alte Dame schlief tief, ihr gewaltiges Schnarchen war in der ganzen Wohnung zu hören. Auf dem Küchentisch stand eine grosse, rote, halb heruntergebrannte Kerze. In der verbotenen Schublade des Tisches, das wusste ich, wurde eine Schachtel Streichhölzer aufbewahrt, auf deren Umschlag das Bild eines französischen Schlosses prangte. Ich mochte dieses Bild.

Vorsichtig zündetet ich die Kerze an – und flüsterte: „Ol sonuf vaoresaji…“

Plötzlich erschien die mir wohl bekannte Küche in einem seltsamen, warmen, rötlichen Licht, das ich als wohltuend empfand.

Eine tiefe sympathische Stimme  – war sie in meinem Kopf oder aussen? Ich konnte es nicht bestimmen – sagte: „So mein Lieber Freund, da bist Du ja. Hast Du einen Wunsch?“ Ich sagte: „Ich will nicht mehr das Vaterunser beten, ich will nicht mehr den Rosenkranz küssen – und  will nicht mehr nach Bad Leichnam, mit diesem langweiligen Bus.“

Die Stimme sagte: „Warte bis morgen nach der Schule…“

Am nächsten Tag wusste ich zunächst nicht, ob sich die Geschichte wirklich ereignet hatte – oder ob es nur ein Traum gewesen war. Als ich in der Mittagspause an die Storchenstrasse zurückkehrte, stand die nette Nachbarin Frau Holder an der Tür – und fing mich ab. Die alte Dame sei plötzlich gestorben, wegen dem Herz, ich könne jetzt bei Holders Mittagessen und müsse am Nachmittag nicht in die Schule. Meine Eltern seien informiert. Ich könne die nächsten Tage bei ihr, im Haus der Familie Holder verbringen.

Da empfand ich eine ungeheure Erleichterung. Ich mochte das alte verlotterte Haus dieser Leute und ihre Tochter, Angela, sie war einige Jahre älter als ich, löste in mir diesen gewissen nervösen Kitzel aus – wie die schwarze Madonna, wie Paula.

Die nächsten Tage waren für mich das Paradies.

Von jetzt an zündete ich in den Nächten immer wieder eine Kerze an – und flüsterte die schönen Worte: „Ol sonuf vaoresaji“. Die Resultate sprachen für sich: Der böse Renato, der mich auf dem Pausenhof immer demütige und ohrfeigte, wurde von einem Auto überfahren, ich bekam die herrliche Ritterburg aus Plastik, die ich mir immer gewünscht hatte – und an einem Tag gab mir die wunderschöne Angela plötzlich einen Kuss, als ich sie nachts ohne Kleider im Treppenhaus überrascht hatte. In jener unvergesslichen Nacht ist etwas in mir erwacht. Unwiderruflich.

So kam es, dass der Teufel mein Freund geworden ist.

 

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Autor: Christian Platz

Lebt in Basel. Arbeitet überall. Reist recht viel. Vor allem nach Asien. Und in den Deep South der USA. Verdient sein Geld seit über einem Vierteljahrhundert mit Schreibarbeiten. Vorher hat er als Pfleger in einer Irrenanstalt gewirkt. Hat mehrere Bücher veröffentlicht. Spielt seit 40 Jahren fanatisch Gitarre, zwischendurch singt er auch noch dazu. Schreibt unter anderem für Kult. Ist manchmal gut aufgelegt. Manchmal schlecht. Meistens so mittel. Sammelt Bücher, CDs, Filme, Artefakte. In einem psychisch leicht auffälligen Ausmass. Verfügt, bezüglich der Dinge, die er sammelt, über ein lexikalisches Wissen. Platz ist einerseits ein Wanderer auf dem Pfad zur linken Hand. Andererseits Neofreudianer mit Waffenschein. Liebt Blues und Voodoo, Rock'n'Roll und die schwarze Göttin Kali. Trinkt gerne Single Malt Whisky aus Schottland. Raucht Kette. Ist bereits über 50 Jahre alt. Macht einstweilen weiter. Trotzdem wünscht er nichts sehnlicher herbei als die Apokalypse.

WARNHINWEIS:
Dieser Mann tritt manchmal als katholischer Geistlicher auf, stilecht, mit einem besonders steifen weissen Kragen am Collarhemd. Dies tut er in gänzlich irreführender Art und Weise und ohne jegliche kirchliche Legitimation. Schenken Sie ihm - um Gottes Willen - keinen Glauben. Lassen Sie sich nicht von ihm trauen, ölen oder beerdigen. Lassen Sie sich von ihm keinesfalls Ihre Beichte abnehmen. Geben Sie ihm lieber Ihr Geld.

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