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Vom langen Weg zum Selbst

Sei einfach du selbst. Ob beim ersten Date, beim Vorstellungsgespräch, oder als Maxime für ein glückliches Leben: der Ratschlag, den jeder zu hören bekommt, ist immer derselbe.

Sei. Einfach. Du. Selbst.

Scheisse nur, dass “sich selbst sein” wohl zu den schwierigsten Aufgaben gehört, die das Leben für jeden von uns bereithält.

Das fängt schon in der frühen Kindheit an. Bereits im Kindergarten lernen die Kleinen, dass nicht alle gleich sind. Doch nicht nur das: sie lernen auch, dass sie selbst eine ganz eigene Person sind. Unbewusst. Versteckt. Unentdeckt.

Die Selbstwahrnehmung ist in dieser Zeit geprägt von den Reaktionen anderer. Das zieht sich weiter bis in die Adoleszenz. Vom Chlötzlispiel bis zur Einladung an die Geburtstagsfeste der Cool Kids hängt das Selbstbild Heranwachsender zum Grossteil vom Urteil anderer ab. Die wenigen Ausnahmen fühlen sich in diesem Setting zunehmend als Aussenseiter und fehl am Platz. Mit schwerwiegenden Folgen, denn: wer sich während der Teenagerjahre nicht über den Zuspruch anderer definiert, wird diesen auch nicht erhalten. Ausgrenzung und Intoleranz sind die Folge.

Der Mensch ist ein  Herdentier. Soziale Interaktion und Akzeptanz in einer Gruppe haben unsere Spezies zu dem gemacht, was sie heute ist. Doch macht das auf lange Sicht glücklich? Wohl kaum. Klar, ein intakter Freundeskreis ist wichtig, um sich in der Welt zurechtzufinden. Er gibt Halt. Er gibt Sicherheit. Doch das Bedürfnis nach Akzeptanz ist ein falscher Freund. Allzu oft verleitet dieses Bedürfnis zu Konformismus und Assimilierung. Das eigene Selbst gerät in den Hintergrund, Fremdeinschätzung und Popularität nehmen eine tragende Rolle in der Entwicklung ein.

In Zeiten von Social-Media-Likes und salonfähigem Narzissmus ist das offensichtlicher denn je. Eine fatale Verwechslung von Selbstdarstellung und Selbstwahrnehmung. Du bist was du zeigst, nicht was du fühlst. Ob der gesellschaftlichen Mechanismen vergessen wir, dass der Sinn unseres Lebens nicht darin besteht, uns möglichst gut darzustellen, sondern darin, möglichst gut zu sein. Davor sind weder ich noch du gefeit.

Was das mit der Seele eines Menschen anrichten kann, zeigt sich Tag für Tag. Grösseres Auto, schönere Wohnung, längerer Urlaub, besseres Leben. Es ist ein materieller Schwanz- beziehungsweise Tittenvergleich. Dabei bleibt die persönliche Entwicklung oft auf der Strecke. Die Freude an den kleinen Dingen geht verloren, Antworten auf die wichtigen Fragen des Lebens werden aussen gesucht, nicht innen.

Wer sich diesem Trend entziehen will, der begibt sich auf einen steinigen Weg. Er erfordert die Lossagung von Zuspruch und in letzter Konsequenz empfundener Liebe. Doch nur, wer sich davon befreit, seinen Wert daran festzumachen was andere von ihm denken, wird die geistige Freiheit haben, sich selbst zu entdecken. Nur wem egal ist, was andere tun, wird irgendwann tun und lassen können, was er will.

Ich bin in keinster Weise an diesem Punkt angelangt. Zu oft interessieren mich Normen und Konventionen mehr, als das, was ich eigentlich möchte. Zu oft ist das Fremdbild wichtiger als das Selbstbild. Zu oft sind andere Gedanken wichtiger als meine eigenen. Doch ich habe eine Erkenntnis gewonnen. Um glücklich zu sein, wirklich glücklich, darf ich im Bezug auf mein eigenes Leben keine Kompromisse eingehen, darf keine Angst haben, mich zu dem zu entwickeln, was ich sein will.

Manche Menschen gehen diesen Weg auf der Suche nach dem «ich» ein Leben lang. Manche Menschen verlieren sich auf halber Strecke. Manche Menschen treten die Reise erst gar nicht an. Das ist jedermanns eigene Entscheidung. Doch ich habe für mich entschieden, dass ich mich finden will. Nicht was aus mir gemacht wird, nicht was von mir erwartet wird, sondern das, was mich als Menschen ausmacht. Jeden Tag aufs Neue. Denn schlussendlich ist das das Einzige, was mich wirklich liebenswert macht. Wenn nicht für jemand anderen, dann wenigstens für mich selbst. Und das ist es mir wert.

See you on the other side.

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Autor: Yannick Lippuner

Was kann man über diesen Typen erzählen? In etwa das: Ist im Zürcher Oberland aufgewachsen, aber war dort nie zuhause. Wohnt in der schönsten Stadt der Welt, aber liebäugelt mit Barcelona. Hat Wirtschaft studiert, aber nur vier Semester. Wollte einmal Anwalt werden, aber lieber doch nicht. Ist 25, aber was heisst das schon. Macht viel, aber kann nur die Hälfte. Lebt im Moment, aber verpasst ihn gelegentlich. Ist etwas wild geraten, aber bereut das bisweilen am Sonntag. Tanzt durch die Nacht, aber geniesst jeden Tag. Riecht gerne Kaffee, aber hasst den Geschmack. Kann nicht ohne Musik, aber mag manchmal die Stille. Hat zwar Verstand, aber hört meist aufs Herz. Ist sehr weltoffen, aber hasst Ignoranz. Liest gerne, aber leider nur selten. Sieht gerne Neues, aber reist zu wenig. Hätte gerne Ordnung, aber weiss nicht, wie das geht. Ist sehr umgänglich, aber hasst Small Talk. Vergisst jeden Namen, aber meint das nicht böse. Vergisst allgemein alles, aber versuchts trotzdem immer wieder. Steht auf Blues & Soul, aber spielt Electronica. Arbeitet als Texter, aber weiss nicht wie das passiert ist. Sollte nicht so viel trinken, aber eis nimmi no. Schreibt neu für kult, aber immer nur montags. Enchanté.

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