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Rätselhaftes Marterhofen

Prolog:  Ich hatte mich rechtzeitig von meinem verschwitzten Lager erhoben, eine Stunde lang Zigaretten geraucht, ins Leere gestarrt und dem Regen gelauscht, eine Stunde Wegs mit der altersmüden, rostigen Strassenbahn zurückgelegt, nach Marterhofen, einem jener Aussenquartiere, in denen die mittelgrosse Industrie ihre grauen Produktionsstätten betreibt. Und schon sass ich einem lebendigen König gegenüber.

Toni M. Sassafrass, dem Konservenkäsekönig unserer mittelgrossen Provinzstadt nämlich. Herr Sassafrass hat kleine Augen und einen riesigen Mund. Er gehört zu jenen Männern die überaus korpulent wirken, auch wenn sie, objektiv betrachtet, kaum Fett auf den Rippen haben. Er fixierte mich durch seine schwere goldene Brille, strich mit der linken Hand – lange gelbe Fingernägel, wie Geierkrallen – über sein fadenscheiniges, abgetragenes hellblaues Traineroberteil, das mit den Lettern KKK verziert ist, integriert in ein wappenartiges Kronenmotiv – steinreich, der Mann, pflegt sich aber wie ein Bahnhofspenner zu kleiden – und sagte mit verschwörerischer Mine: „Es handelt sich um eine komplexe Angelegenheit, wissen Sie, komplex. Wir haben einen umfassenden Organisationsoptimierungsprozess hinter uns, alles ist neu, hier herrscht Aufbruchstimmung und so weiter…“

„Inhaltlich neu aufstellen“

Er stockte, schaute mich für einen geradezu episch langen Moment misstrauisch und gleichzeitig grenzenlos fordernd an, während der harte Regen unablässig an die trüben Fenster seines schmucklosen kleinen Büros hämmerte, in dem es immer ein bisschen nach reinem Vitamin B riecht, und auf das graue Blechdach der Sassafrass’schen Konservenkäsefabrik und auf die grauen Blechdächer der unzähligen mittelgrossen Fabrikationsbetriebe der Nachbarschaft. Nun atmete Herr Sassafrass tief durch: „…deshalb müssen wir uns nun auch inhaltlich ganz neu aufstellen, den Zielen unseres klar strukturierten Siebenjahresplans entsprechend, einem Kernresultat unseres Optimierungsprozesses, Sie wissen ja, sieben ist eine biblische Zahl, und deswegen habe ich Sie gerufen. Ich möchte, dass Sie die Botschaften erarbeiten, die unsere grosse Erneuerung in die Welt tragen. Wir haben ja damals keine schlechten Erfahrungen mit Ihnen gemacht, als Sie das Jubiläumsbuch über die Verdienste der Industriellen-Familie Sassafrass um die Sparte des Konservenkäses für uns geschrieben haben. Sie haben einst ja auch jenes geflügelte Wort von der Konservenkäsekultur für uns entwickelt.“

Interlude: Fluschiflutschi

Wieder schwieg Herr Sassafrass, seine kleinen Elefantenaugen fokussierten meine müden Augen, während er seine mächtigen Lippen zwei, drei Mal geräuschvoll flutschen liess, käsehaltige Speicheltropfen flogen durch die Atmosphäre des Raums.

Aber nicht zuviel.

Dann sagte er langsam und gedehnt: „K-o-n-s-e-r-v-e-n-k-ä-s-e-k-u-l-t-u-r, mit drei K, das hatte Niveau, hat mir damals sehr gut gefallen. Doch das ist jetzt alles Schnee von gestern. Wir wollen, dass Sie einen neuen Öffentlichkeitsauftritt für uns erfinden. Aber er muss exakt mit den Ergebnissen unseres Organisationsoptimierungsprozesses übereinstimmen, die nun schrittweise umgesetzt werden, und ich kann Ihnen versichern, es handelt sich dabei um Riesenschritte. Dieser Auftritt muss unseren drängenden Aufbruchgeist unterstreichen, aber auch unsere jahrhundertealte Firmentradition widerspiegeln, er muss die Brücke schlagen – zwischen unseren neuen und unseren alten Werten. Gleichzeitig müssen Busen und Hintern rein, etwa für Papa sozusagen, aber nicht zu viel, nur andeutungsweise. Trotzdem familienfreundlich eben! Verstehen Sie? Was meinen Sie? Bringen Sie das fertig? Wie lange würden Sie brauchen? Wieviel Geld wollen Sie dafür? Ich sage es Ihnen gleich, wir haben in unsere Buchhaltung neu ein automatisches, strenges und realistisches Kosten-Nutzen-Kontrollmodul eingebaut; ein ganz raffiniertes und zeitgemässes Instrument. Und wir erwarten eine genauso exakte, wie massvolle Offerte von Ihnen. Ein Vermögen können Sie mit diesem Auftrag natürlich nicht verdienen, Sie wissen ja, wir leben in herausforderungsreichen Zeiten, aber ich vermute, dass Sie um jeden Betrag froh sind, der den Weg auf Ihr Bankkonto findet. Ist es nicht so? Hehehe. Aaalso – interessiert Sie diese komplexe Aufgabe?“

Lack- und Lederleichen

Natürlich habe ich ja gesagt. Zu allem, auch zum engen, dreiwöchigen, kaum erfüllbaren Zeitplan, zum unsympathischen, hochneurotischen Grafiker, Herr Bockersmüll, einem Lack- und Lederfetischisten, was mich grundsätzlich nicht stört, mich aber auch nicht im positiven Sinne erregt (ich mag lieber leichtbekleidete Damen, die auf Trommeln schlagen oder einen Fez auf dem Kopf tragen), der leider und bei jeder Gelegenheit über seine sexuelle Vorliebe, die er mit fast religiösem Fieber predigt, zu monologisieren pflegt – mit dem ich immer zusammenarbeiten muss, weil Herr Sassafrass von Bockersmüll „ausserordentlich überzeugt„ ist, der Mann sei ein „Künstler, ein Profi mit Niveau“. Naja, vielleicht hat der Konservenkäsekönig ja ebenfalls seine Lack-und-Leder-Leichen im Keller und deshalb am fetischistischen Grafiker einen Narren gefressen, vielleicht ist Niveau in der Sassafrass-Gedankenwelt ein Synonym für Lackklamotten, in die man nur reinkommt, wenn man sich vorher am ganzen Körper mit Vaseline eingeschmiert hat – oder mit seinem fetten Konservenkäse. Wer weiss…?

Peitschschwingende Legionäre

Ich hatte also wieder einmal ja gesagt, obwohl ich eigentlich gedacht hätte, dass sich Sassafrass nie mehr bei mir melden würde. Wegen der alten Geschichte mit der Käsekonservenkultur, die er heute offenbar in einem verklärten Licht betrachtete. Damals hatte er mich dafür fast umgebracht, aber das ist eine andere Tragödie. Ich hatte „ja“ gesagt, obwohl ich ahnte, ja wusste, dass dieser Auftrag für mich dem Aufstieg zum Kalvarienberg gleichkommen würde. Ich würde die Rolle des dornengekrönten, kreuzschleppenden Leidensbündels zu übernehmen haben, während Sassafrass und Bockersmüll sich selbst als peitschenschwingenden Legionäre ausgiebig gefallen und geniessen können.

Epilog: Sinn und Inhalt

So ist es eben meistens in meinem Beruf (und in Ihren, Liebe Lesenden, sicher auch), weil ich halt leider für Sinn und Inhalt zuständig bin, häufig in Bereichen, in denen es heutztage, ausser der groben Erzeugung und dem Vertrieb von gedrucktem Material – als rein quantitative Werte -, eigentlich keinen weiteren Sinn oder Inhalt mehr gibt. „Man muss halt arbeiten, weil man sich sonst kein eigenes WC leisten kann, in das man mit Wucht, nach Lust und Laune reinpfunden darf“, hat mein alter Onkel Alfie gerne gesagt – und hinzugefügt: „Wer es nicht fertigbringt, sein Geld zu verdienen, muss halt mit fremden Toiletten vorlieb nehmen – und wer weiss, ob die sauber sind. Schreib Dir das hinter Deine dreckigen Ohren, mein Junge, sonst ziehe ich sie Dir lang!“

PS Getrocknete und zerstossene Sassafrass-Blätter brauchst Du, wenn Du eine richtig fette Gumbo kochen willst, das Leibgericht aller blues cats aus New Orleans, Louisiana – da gehört aber kein Konservenkäse rein. Ich verwende stattdessen Philadelphia!

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Autor: Christian Platz

Lebt in Basel. Arbeitet überall. Reist recht viel. Vor allem nach Asien. Und in den Deep South der USA. Verdient sein Geld seit über einem Vierteljahrhundert mit Schreibarbeiten. Vorher hat er als Pfleger in einer Irrenanstalt gewirkt. Hat mehrere Bücher veröffentlicht. Spielt seit 40 Jahren fanatisch Gitarre, zwischendurch singt er auch noch dazu. Schreibt unter anderem für Kult. Ist manchmal gut aufgelegt. Manchmal schlecht. Meistens so mittel. Sammelt Bücher, CDs, Filme, Artefakte. In einem psychisch leicht auffälligen Ausmass. Verfügt, bezüglich der Dinge, die er sammelt, über ein lexikalisches Wissen. Platz ist einerseits ein Wanderer auf dem Pfad zur linken Hand. Andererseits Neofreudianer mit Waffenschein. Liebt Blues und Voodoo, Rock'n'Roll und die schwarze Göttin Kali. Trinkt gerne Single Malt Whisky aus Schottland. Raucht Kette. Ist bereits über 50 Jahre alt. Macht einstweilen weiter. Trotzdem wünscht er nichts sehnlicher herbei als die Apokalypse.

WARNHINWEIS:
Dieser Mann tritt manchmal als katholischer Geistlicher auf, stilecht, mit einem besonders steifen weissen Kragen am Collarhemd. Dies tut er in gänzlich irreführender Art und Weise und ohne jegliche kirchliche Legitimation. Schenken Sie ihm - um Gottes Willen - keinen Glauben. Lassen Sie sich nicht von ihm trauen, ölen oder beerdigen. Lassen Sie sich von ihm keinesfalls Ihre Beichte abnehmen. Geben Sie ihm lieber Ihr Geld.

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