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Wenn wir sterben, wachen wir auf

Ich kann das Wort von der Krise, wie es mir seit mehr als einem Jahrzehnt auf allen medialen Kanälen unaufhörlich und – so scheint mir – mit eigenartig schmatzendem, genüsslichem Unterton, einem veritablen Schleimball gleich, in die Gehörgänge rollt, nicht mehr hören. „Trotz der Krise“. „Wegen der Krise.“ „Wege aus der Krise.“ Man reiche mir die Kotzschale.

Bitte. Existenz ist immer Krise. Da prallen endlos Energien, Substanzen, Faktoren aufeinander – und nichts will so richtig zusammenpassen. Da reiben sich fortwährend Gegensätze und Unvereinbarkeiten schmerzhaft knirschend aneinander.

Das Leben ist doch nichts als eine stetige Eskalation auf unbekanntem Terrain.

Du kannst dich niemals sicher fühlen. Du siehst nie um die nächste Ecke – und das Rezept, welches dir gestern noch geholfen hat, könnte morgen bereits, ach so, kläglich und fatal versagen. Es fällt uns genauso leicht, uns – im Rahmen eines gemütlichen Abends, bei einem schönen Gläschen Wein oder einem feinen Kräutertee – selbstherrlich über unsere nobelsten Grundsätze zu verbreiten, wie es uns, oft nur wenige Stunden später, fällt, diese ruckzuck zu brechen. Und vielleicht fällt uns dieser Bruch nicht einmal auf. Schliesslich sind noble Grundsätze vor allem dazu da, sie vor den anderen auszubreiten. Tief innen – dort, wo wir uns mit uns selber alleine wissen – sind wir eine ganz andere Gattung Viecher. Echte Dreckschweine nämlich – und ängstliche Butterschwitzer noch dazu –, dies ist uns natürlich bewusst, doch meistens denken wir nicht daran. So weit, so gut, so angenehm. Doch das Undenkbare kann jederzeit über jede und jeden von uns hineinbrechen. Wir sind ihm schutzlos preisgegeben!

Wichtigtuerisches Zitat

„To understand this, it is necessary to refer to the doctrines of Yoga, especially those most widely current in Southern India, where the cult of Shiva, the Destroyer, is paramount. Shiva is represented as dancing upon the bodies of his devotees. To understand this is not easy for most western minds. Briefly, the doctrine is that the ultimate reality (which is Perfection) is Nothingness. Hence all manifestations, however glorious, however delightful, are stains. To obtain perfection, all existing things must be annihilated.“ Master Therion, 1944

Geistige Heimat

Wir möchten uns so gern verorten. Uns wohlfühlen. Uns eine geistige Heimat zurechtzimmern. Doch der leichteste kalte Wind der Realität kann alles zusammenbrechen lassen. Ein Wimpernschlag jener Fatalität, die unsere wahre Mutter ist, kann uns jederzeit derart aus der Bahn werfen, dass unser Leben danach nur noch eine Verkettung unglückseliger Ereignisse sein wird. Eine Krise. Eine Krise, die unaufhörlich eskaliert.

…dass es halt nicht anders sein kann

Schon mancher, der über beträchtliche Lebenserfahrung verfügte, in langen Jahren ehrlich, redlich erworben, hat seine allerseits wertgeschätzte Erfahrung, angesichts einer neuen Situation, umsichtig eingesetzt. Und dabei gnadenlos versagt, hat dabei sogar noch andere mitgerissen, in einen katastrophalen Abgrund. Die Realität besteht eigentlich und gänzlich aus Unberechenbarkeiten, Unabwägbarkeiten, die uns permanent ins Gesicht schlagen. Dies war für uns Menschen schon immer so, es wird bis auf weiteres auch so bleiben. Wir sind natürlich stets und mit Eifer bestrebt, zu harmonisieren, zu fabulieren, uns einen imaginären Rahmen zusammenzuzimmern – um uns vor folgenden furchtbaren Gedankenkreisen zu verschonen: Wir sind vom absolut Unbekannten umgeben, wir sind der Fatalität ausgeliefert, dagegen sind wir fast schon lächerlich machtlos. Yeah, wir werden enden. Und dies nicht im Sinne von „Ende gut, alles gut“ – sondern bestenfalls im Sinne einer, durch viele Leiden entstandene Akzeptanz, welche auf der Erkenntnis gründet, dass es halt nicht anders sein kann…

Der Ibis-Vogel, der sich selbst klistiert

Ein gebildeter und ausgesprochen humorvoller – es handelt sich allerdings um eine recht bittere Humor-Marke – Historiker und Tantriker, ein recht moderner indischer Brahmane und Altersgenosse überdies, mit dem ich mal in Malakka einen Abend lang Whisky saufen und heftig diskutieren durfte, hat mir ein interessantes Gottesbild an die Birne geworfen. „Hast Du gewusst, dass sich der Ibis-Vogel mit seinem Schnabel manchmal selbst klistiert, wenn er unter Blähungen leidet? Er steckt sich den eigenen, langen Schnabel zu diesem Zweck nämlich recht tief in den Anus hinein, schiesst sich mit Druck ein Sekret die Därme hoch – und schon scheisst er…“ Hatte ich vorher nicht gewusst, ich habe in dieser Sache später auch nie nachgeforscht, aber es war im vorliegenden Fall eine recht interessante Ausgangslage…

Alles Unreine ergoss sich…

Er schiebt mich also weiter in die Geisterbahn seiner Kosmogonie hinein: „Gott ist von seiner Natur her nun gleichsam wie dieser Ibis-Vogel. Unbeschreiblich lange Zeit hat er als Einheit existiert, ohne innen oder aussen, ohne oben oder unten, ganz allein und selbstgenügsam. Aus Gründen, die der menschliche Verstand nicht nachvollziehen kann, ist er dann aber stetig angeschwollen. An einem kritischen Punkt war er so übermässig, so prall mit einer Mischung aus reinen und unreinen Dingen angefüllt, dass er etwas unternehmen musste – um nicht einfach unkontrolliert zu platzen. Er schuf also zunächst eine Art Hohlraum – und tat dann, was heute unser Ibis-Vogel tut, er reinigte sich selbst. Ein kosmischer, selbst verabreichter Einlauf gewissermassen. Und alles Unreine ergoss sich aus dem göttlichen Leib in jenen neuen Hohlraum.

Damit ward ein Anderes geschaffen, eine zweite Ebene, mit ihrer eigenen, elenden Realität. Der Realität einer Toilette, einer Kloake. Dieser Ort ist unser jetziges Universum.

Eine Art Komposthaufen, wenn du so willst. Unter den brutalen Kräften der Realität, in den erbarmungslosen Mühlen der Existenz, unter dem unerbittlichen Möserschlag der Zeit wird dieser Kompost stetig bearbeitet. Bis er zerfällt – und nur noch das Reine übrigbleibt, das wirklich und wahrhaftig nichts ist. Die Existenz an sich, stellt also eine Art Misthaufen dar, ein zerfallendes Exkrement, der Dünger, aus dem die All-Einheit dereinst aufs Neue wiederhergestellt werden soll. Bis es soweit ist, wird es immer nur Probleme, wird es immer bloss Mühsal und Schwere geben. Am Ende dieses Reinigungsvorganges wird die göttliche Einheit jedoch perfekt erstrahlen. Doch damit beginnt auch das Anschwellen wieder, welches irgendwann einen erneuten göttlichen Reinigungsprozess notwendig machen wird. Wir sprechen hier natürlich von unermesselichen Zeitabschnitten, Ozeanen aus Zeit. Doch auch die werden ein Ende haben. Und – falls es Dich beruhigt – ich glaube, dass wir uns im letzten Abschnitt einer derartigen Reinigungsperiode befinden. Schon vor 5000 Jahren ist diese Endzeit angebrochen, bereits in 445’000 Jahren wird die Ruhe wieder Einkehr halten“. Darauf erhoben wir unsere Tumbler, prosteten uns zu, in jener brütend heissen Nacht, an der Strasse von Malakka.

Whimper

Eine wunderbare Sicht der Dinge. Die Kabbalah des Luria postulierte übrigens eine ähnliche Variante, aber das gehört jetzt nicht hierher… Ich musste sogleich an T.S Eliot denken, an sein berühmtes „This is the way the world ends/Not with a bang/But with a whimper.“ Mit einem leisen Wimmern wird sich jenes letzte Häufchen Unreinheit auflösen – und die kosmische Einheit ist wieder da. Keine Dualität mehr. Keine Krise mehr. Hurra!

Wenn wir sterben, wachen wir auf

Bis dahin müssen wir uns mit der Krise abfinden! Und groben Unfug anstellen, was das Zeug hält. Denn vor dem Hintergrund einer permanenten Krise, stellt dies das einzige vertretbare Lebensmodell dar. Oder soll ich doch meinem kauzigen Onkel Bertram glauben? – Diesem alten Ledersofaschamanen der 1970er Jahre, der – mit nasaler Stimme – immer gern gepredigt hat: „Das Leben ist ein Traum. Wenn wir sterben, wachen wir auf. Dann sehen wir, von einem ganz anderen Ort, einer vollkommen anderen Perspektive aus, was wir all diese Jahre lang auf der Welt getrieben haben, was uns alles so beschäftigt hat, und zwar mit ebenso anderen Augen, wenn man dann noch Augen hat. Und eins ist klar, wir werden uns darob einen Bruch lachen, bis der Bauch platzt, wenn wir dann noch Bäuche haben.“

Sodann pflegte er den Cognacschwenker sorgfältig auf seinem Tischchen, das mit feinster Menschenhaut überzogen ward, abzustellen, unter beträchtlicher Anstrengung aufzustehen, die Zigarre firm zwischen die Lippen zu klemmen, seinen Arsch demonstrativ hinten rauszustrecken, einen Zeigefinger in die Luft zu heben. Und loszufurzen, was die Därme halt hergaben. Die Trompeten von Jericho waren ein Dreck dagegen. Und also sagte er: „Alle müssen furzen, auch der Papst, auch Nixon, auch Jesus musste furzen und Hitler. Da kommt keiner drum herum…“ Danach schaute er hochbefriedigt sowie Beifall heischend in die Runde und fragte: „Stinkt das nicht ganz wunderbar?“

Coda

Übrigens, falls die Welt doch mit einem Knall enden sollte, werden wir wohl alle nicht mitbekommen, dass es sich dabei um den Weltuntergang handelt. Die Zimmerdecke wird uns einfach auf den Kopf fallen oder eine Dachrinne oder so – und wir werden halt sterben, es wird uns egal sein, dass dieser Tod im Zusammenhang einer kosmischen Katastrophe erfolgt. Es wird uns endlich egal sein. Es wird für jede und jeden ein ganz individuelles Ableben geben, soviel ist sicher, man kann ja nicht kollektiv verrecken. Damit endet die Krise. Jetzt darf ich mir dafür noch einen Whisky einschenken, einen frischen, dicken Joint rollen – und mich auf einen wundervollen Abend freuen – in meinem formidabel ausgestatteten Sexarium…

Oder ist es eine Folterkammer? Only the shadows know… 93s.

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Autor: Christian Platz

Lebt in Basel. Arbeitet überall. Reist recht viel. Vor allem nach Asien. Und in den Deep South der USA. Verdient sein Geld seit über einem Vierteljahrhundert mit Schreibarbeiten. Vorher hat er als Pfleger in einer Irrenanstalt gewirkt. Hat mehrere Bücher veröffentlicht. Spielt seit 40 Jahren fanatisch Gitarre, zwischendurch singt er auch noch dazu. Schreibt unter anderem für Kult. Ist manchmal gut aufgelegt. Manchmal schlecht. Meistens so mittel. Sammelt Bücher, CDs, Filme, Artefakte. In einem psychisch leicht auffälligen Ausmass. Verfügt, bezüglich der Dinge, die er sammelt, über ein lexikalisches Wissen. Platz ist einerseits ein Wanderer auf dem Pfad zur linken Hand. Andererseits Neofreudianer mit Waffenschein. Liebt Blues und Voodoo, Rock'n'Roll und die schwarze Göttin Kali. Trinkt gerne Single Malt Whisky aus Schottland. Raucht Kette. Ist bereits über 50 Jahre alt. Macht einstweilen weiter. Trotzdem wünscht er nichts sehnlicher herbei als die Apokalypse.

WARNHINWEIS:
Dieser Mann tritt manchmal als katholischer Geistlicher auf, stilecht, mit einem besonders steifen weissen Kragen am Collarhemd. Dies tut er in gänzlich irreführender Art und Weise und ohne jegliche kirchliche Legitimation. Schenken Sie ihm - um Gottes Willen - keinen Glauben. Lassen Sie sich nicht von ihm trauen, ölen oder beerdigen. Lassen Sie sich von ihm keinesfalls Ihre Beichte abnehmen. Geben Sie ihm lieber Ihr Geld.

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