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Mit dem Abend kam der Sturm

Müde waren sie, wollten sich zur Ruhe begeben. Doch dann kam der Sturm – pechschwarze Wolken, harter Regen, Winde, die Bäume fällen, die Mauern zum Einsturz bringen. Weitaus genügend Elektrizität war in der Luft. Um einen halben Kontinent zu rösten – wie ein Spanferkel.

Am Nachmittag hatten sie noch gegrillt, gechillt und Bierflaschen geköpft, in der Sonne. Ein fröhliches Feuer – fein domestiziert und im Grill fixiert – züngelte unter den Würsten, am Grillkäse. Und Grossonkel Fredi klärte die verwöhnte Jungmannschaft über die Wahrheiten des Lebens auf. So tippte er sich mit dem Zeigefinger an den Kopf und sagte: „Hier drinnen musst du nicht unbedingt allzu viel haben, sonst wirst du nur wahnsinnig, wie diese Wissenschaftler.“ Dann zückte er sein dickes Portemonnaie, tippte mit dem gleichen Zeigefinger auf das braune Leder und sagte genüsslich: „Daaaaa drinnen musst du es haben.“

Fredi lachte dröhnend. Die verwöhnte Jungmannschaft verdrehte bloss die kollektiven Augen.

Da fingerte und fummelte Cousin Edi plötzlich mächtig an der Nachbarin, Frau Zutti, herum, über den, unter den Kleidern der Dame mit dem prächtigen Hintern, deren Mann im Kriege weilte, weit weg. Sie liess es sich gefallen. Bald schon waren die beiden verschwunden, hinter einem Busch vielleicht, möglicherweise auch hinter der dichten Brombeerhecke, niemand konnte es so genau sagen.

Nur Johanna bemerkte: „Wenn der Meister Zutti nach Hause kommt, wenn er etwas von dieser Geschichte erfährt, bringt er den Edi um.“ Verträumt wanderte ihr Blick dem blauen Himmel entgegen, leise fügte sie hinzu: „Wäre nicht schade um ihn…“

Nun kamen Mama und Papa ins Spiel. Mama trug die Himbeer-Wodka-Kaltschale in die Runde. Papa kümmerte sich um die Würste. Da belehrte Grossonkel Fredi die verwöhnte Jungmannschaft – und spuckte dabei dicke Speichelflocken: „Würste müsst ihr essen, nur so bekommt man einen grossen dicken Schwanz.“ Darauf verdrehte die verwöhnte Jungmannschaft wiederum ihre kollektiven Augen. Und Mama sagte aufgebracht zu Fredi: „Ihr Männer seid doch alles wüste Kerle, mit euren Schandmäulern, eurem Schnaps, euren billigen Schweizer Sexheftli und euren Zigaretten.“

Auch diese Bemerkung nötigte der verwöhnten Jungmannschaft keine Zustimmung ab, ausser einem erneuten Verdrehen der kollektiven Augen kam nichts zustande.

Schon packte Papa Mama unvermittelt von hinten, küsste sie auf den Mund. Der allgemeine Schrecken war gross.

Ja. So ging es zu. Daheim. Doch andernorts war Krieg. Jener Krieg eben, in dem Herr Zutti, ein netter Mensch übrigens, gerade kämpfte. Aber über den Krieg wollte niemand reden, im Sonnenschein, beim Grillen, beim Chillen.

Plötzlich ein Schrei. Frau Zutti schoss aus dem Gebüsch hervor, so wie ein Champagnerkorken aus der Flasche schiesst, der Gesellschaft entgegen. Cousin Edi hinterher, aufgeregt, er war noch damit beschäftigt, seine Hosenknöpfe zu schliessen. „Aber Martha…“, jammerte er aufgeregt, so hiess Frau Zutti nämlich zum Vornamen. „Ich habe es dir gesagt“, erwiderte sie mit Überschallstimme, „alles, alles, alles, aber das ganz bestimmt nicht!“

Da setzte Papa sein schleimigstes Lächeln auf und bediente sich plötzlich der Managersprache. Weil er dies vorher noch nie getan hatte, ahnten alle Anwesenden, dass es ihm keineswegs wohl war in seiner solariumsgegerbten Haut. Er umarmte die beiden Streitmorcheln, sprach von WinWin-Situationen, von Krisen als Chancen, von Synergien gar. Merkwürdigerweise liessen sich Cousin Edi und Martha Zutti von diesem Geschwätz einlullen.

Wie Schlangen sich von ihren Beschwörern einlullen lassen.

So begaben sich alle zu Tisch. Wurst, Brot, Alkohol. Was will man mehr? Was kann man mehr wollen? Grossonkel Edi sagte fröhlich: „Vogel friss oder stirb!“ Pflichtgemäss verdrehte die verwöhnte Jungmannschaft die kollektiven Augen. Alle waren zufrieden, alle waren froh, weil sie nicht wussten, dass ihr Schicksal bereits besiegelt war, so wie einst das Schicksal von Bernard Everson und seinen sieben Töchtern besiegelt gewesen ist, als ihnen Parnasso am Ende einen erfahrenen Killer aus Myanmar auf den Hals gehetzt hatte.

Sie plauderten, rauchten, während sie assen und tranken, tranken, tranken. Randvolle, glühende Aschenbecher. Zwischen Speisen und Schnapsflaschen. Ein heimeliges Bild…

Natürlich wusste keiner von ihnen, dass der grosse Puppenspieler, von manchen auch Demiurg genannt, im Hintergrund bereits geplant hatte, dass keiner der Anwesenden diesen Tag überleben sollte – und auch der Rest der Gartenhäuslein-Siedler nicht.

Doch merke, der Tag hat 36 Stunden, sechs mal sechs.

Mit dem Abend kam also der Sturm. Unsere Freunde sassen noch um den Tisch, müde geworden rieben sie sich gegenseitig die vollgefressenen Bäuche und reichten eine Familienflasche Riopan im Kreise herum, gegen das allgemeine Magenbrennen, so wie nackte Hippies auf der Wiese einen herrlich duftenden Joint herumreichen mögen. Alle sehnten sich nur noch nach Ruhe.

Mama sah die schwarzen Wolken als Erste. „Oh mein Gott“, entfuhr es ihr, „ein Unwetter.“ Schon prasselte der harte Regen los. Die Gesellschaft räumte den Tisch ab, so schnell es mit vollem Bauch und stockbesoffen halt möglich ist, und verzog sich ins Haus.

Doch gegen dieses Unwetter konnte ein Haus keinen Schutz bieten. Es fegte die Dächer weg. Die Winde zerbrachen Mauern. Als wären es Eierschalen. Und trugen jene kleinen Menschlein, die doch gerade eben noch dermassen sympathisch gegrillt und gechillt hatten, dem Himmel entgegen, wo sie sogleich von Blitzen abgeschossen wurden. Alle.

Andernorts, weit weg, war halt gleichzeitig Krieg. Der Krieg, in dem Herr Zutti so einsatzfreudig kämpfte. Bei schlechtem Wetter hatte dieser Krieg begonnen, nun setzte er sich bei herrlichem Sonnenschein fort, was die Launen der Kämpferinnen und Kämpfer beträchtlich steigerte. Denn das Unwetter war seinerseits ja inzwischen zu Hause angekommen, wo niemand überlebte, kein Mensch, kein Hund, keine Ziege. Doch davon wusste wiederum im Krieg niemand etwas, also töteten sie einander fröhlich weiter.

Im Namen einer untergegangenen Heimat.

Der grosse Puppenspieler, von manchen auch Demiurg genannt, schaute auf sein Werk hinab – und sah, dass es gut war. Er zündete sich eine Cohiba Siglo V an, schenkte sich ein Glas Glenfarclas 105 ein. Unter dem Tischchen, an dem unser Puppenspieler hockte, kauerte die Morgengöttin Aurora, kaute dem Alten lustlos einen ab, sie trug nichts anderes an ihrem herrlich geröteten Leibe als einen funkelnagelneuen Rhinestone Strappy Teddy von Frederick’s of Hollywood.

Fliegende Fische beobachteten derweil die Szene und liessen sich davon zu einem Lied inspirieren, dessen wesentliche Textzeilen folgendermassen lauteten: „Alles Handeln ist vergebens, das Scheitern ist der Menschen Los, so mühen sie sich ab zeitlebens, versagen dabei ausnahmslos.“

Dann der Refrain: „Oh Mammasita, lass es einfach bleiben, oh Pappacheeba, lass es doch einfach sein, verbrennt all die blöden Behördenschreiben, schlagt die alte Bude kurz und klein.“

Brüllte noch einer aus dem Off: „Nur die Knarre löst die Starre!“ Dann war endlich, endlich, endlich Ruhe.

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Autor: Christian Platz

Lebt in Basel. Arbeitet überall. Reist recht viel. Vor allem nach Asien. Und in den Deep South der USA. Verdient sein Geld seit über einem Vierteljahrhundert mit Schreibarbeiten. Vorher hat er als Pfleger in einer Irrenanstalt gewirkt. Hat mehrere Bücher veröffentlicht. Spielt seit 40 Jahren fanatisch Gitarre, zwischendurch singt er auch noch dazu. Schreibt unter anderem für Kult. Ist manchmal gut aufgelegt. Manchmal schlecht. Meistens so mittel. Sammelt Bücher, CDs, Filme, Artefakte. In einem psychisch leicht auffälligen Ausmass. Verfügt, bezüglich der Dinge, die er sammelt, über ein lexikalisches Wissen. Platz ist einerseits ein Wanderer auf dem Pfad zur linken Hand. Andererseits Neofreudianer mit Waffenschein. Liebt Blues und Voodoo, Rock'n'Roll und die schwarze Göttin Kali. Trinkt gerne Single Malt Whisky aus Schottland. Raucht Kette. Ist bereits über 50 Jahre alt. Macht einstweilen weiter. Trotzdem wünscht er nichts sehnlicher herbei als die Apokalypse.

WARNHINWEIS:
Dieser Mann tritt manchmal als katholischer Geistlicher auf, stilecht, mit einem besonders steifen weissen Kragen am Collarhemd. Dies tut er in gänzlich irreführender Art und Weise und ohne jegliche kirchliche Legitimation. Schenken Sie ihm - um Gottes Willen - keinen Glauben. Lassen Sie sich nicht von ihm trauen, ölen oder beerdigen. Lassen Sie sich von ihm keinesfalls Ihre Beichte abnehmen. Geben Sie ihm lieber Ihr Geld.

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