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Waschechter Psychopathenhaushalt

„Wenn ich auf diesen Knopf da drücke, kommen die Roboter und begraben dich lebendig“, sagte Ruedi, jener Ruedi mit der am rechten Ärmel zerrissenen Windjacke nämlich, fröhlich in die morgendliche Frühlingskälte hinein. Der glibberige Rotztropfen, der permanent unter seinem rechtem Nasenloch hing, zitterte genauso fröhlich mit.

Ich wusste nicht, ob ich es ihm glauben sollte.

Dieser unbeschriebene, etwas zu gross geratene Klingelknopf, der – von den ordentlich beschriebenen Klingelknöpfen einige Zentimeter abgesetzt – neben der Haustür prangte, hinter der Ruedis Familie wohnte, hatte schon etwas Rätselhaftes.

Wir schreiben das Jahr 1973. Ruedi ist mein Kumpel aus der Primarschule. Wir sind acht Jahre jung. Ich wäge ab: Einerseits hat mein Vater gesagt, dass Ruedi immer bis in alle Nacht hinein vor dem Fernseher sitzen dürfe – ein Umstand übrigens, um den ich ihn eigentlich beneidet habe – und dabei auf allerlei dumme Gedanken komme.

Er dürfe dies nur, so meine Grossmutter ihrerseits missbilligend, weil seine Eltern derart mächtigen Durst hätten – und die ganze Nacht lang am Küchentisch trinken würden…

Ich sah zwar nicht ein, was am Durst haben falsch sein könnte – aber … Okay…

Andererseits war Ruedis Familie schon ein bisschen unheimlich. Sein Vater arbeitete bei den Lichtpausen, einer Firma, bei der allerlei ominöse Geräte rumstanden. Vielleicht konnte man aus denen ja auch Roboter zusammensetzen…?

Seine Mama hatte struppige rote Haare, trug immer einen Minirock und Netzstrümpfe über ihren dicken Schinkenbeinen, wie mein Onkel Albi letztere zu nennen pflegte, sowie eine rosa getönte Brille. Zudem hatte sie eine seltsam tonlose Stimme. Vielleicht war sie ja ebenfalls ein Roboter…?

Fragen über Fragen…

Jedenfalls unterliess ich es, den Plan auszuführen, den ich Ruedi gerade angekündigt hatte. Ich hatte ihn nämlich – unmittelbar vor seiner Roboter-Drohung – wissen lassen, dass ich für die Jugend-Europameisterschaft im Arschtreten trainieren wolle. Er sei nun mein Übungsobjekt, als solches müsse er die Qualität meiner heftigen Tritte in seinen Allerwertesten professionell beurteilen.

Genauso, wie es die Jury dann bei der Meisterschaft tun würde.

Wie ich heute weiss, ist es weitaus angenehmer, Jurymitglied bei der „International Brain Salad Surgery Competition“ (IBSSC) zu sein, die der Volksmund auch Blow Job Rallye nennt – als Jurymitglied bei der Europameisterschaft im Arschtreten! Aber in den Seventies gab es die BJ Rallye noch nicht, jedenfalls ganz sicher nicht als offizielle olympische Disziplin, die am TV live übertragen wird, wie dies heutzutage der Fall ist.

Ruedi besiegte mich also mit seinen Robotersprüchen – Ideen triumphierten über Arschtritte. Mind over matter. Eine Scheiss-Situation. Nicht zum ersten Mal!

Wir waren böse Buben. Oft ärgerten wir die Kioskfrau und reizten den Schuhmacher bis aufs Blut, mit unseren unerwünschten, frechen Besuchen, garniert mit vor-pubertären, total danebenen Pippi-Kacka-Sprüchen sowie allerlei Lärm und sonstigen Schikanen, Besuchen, die immer mit unserem fiesem Gelächter, wohlverdienten Ohrfeigendrohungen und mit Fersengeld geben endeten.

Unser grosses gemeinsames Geheimnis war der Umstand, dass wir gelegentlich bei Fischers in den Briefkasten geschifft haben. Dies schweisste uns zusammen. Machte uns zu Blutsbrüdern, obwohl ich es aus meiner heutigen Sicht, die vor erhabener Altersweisheit nur so strotzt, eher als Urinbrüderschaft bezeichnen würde.

Zudem waren wir beide ins Marteli aus der Parallelklasse verliebt…

Ja wir waren böse Buben. Aber einige Erwachsene waren noch viel böser.

Vor allem Ruedis Grosstante Elsa, die im gleichen Haus wohnte wie Ruedis Familie, im Parterre – und immer das Gefühl hatte, dass sie die bösen Buben gut im Auge behalten sollte…

Manchmal mussten wir, wenn wir auf der Strasse, an der wir beide wohnten, herumlungerten, dringend auf die Toilette. Fischers Briefkasten stand nur in unbeobachteten Momenten zur Verfügung. Die waren eher selten geworden, seit Frau Fischer den verschifften Briefkasten mehrmals und angeekelt hatte putzen müssen. Grosstante Elsas Klo stellte den Weg des geringsten Widerstands dar, da sie eben im Erdgeschoss wohnhaft war, und wir dann nicht mit unseren gutgefüllten Blasen (shit, der BJ-Rallye-Jury-Gedanke lässt mich heute nicht mehr los, selbst während ich schreibe) nicht gezwungen waren, unzählige Treppen hochzusteigen.

Nun. Die Wohnung von Elsa und ihrem Gatten Oski ward ein waschechter Psychopathenhaushalt. Oski schien eigentlich ganz nett zu sein. Aber er hockte den ganzen Tag neben dem Radio, das ununterbrochen deutsche Schlager der Seventies spielte, „Schmidtchen Schleicher mit den elastischen Beinen…“ und so. Er hing mit seinem beachtlichen Körpergewicht in einem alten Fauteuil, las im Blick, stundenlang, der Mann muss langsamer gelesen haben, als so mancher schreibt, und trank literweise Warteck Bier.

Die Grosstante hatte einen gesunden Hass auf alle Menschen, die nicht zu ihrer Verwandtschaft gehören. Und Kinder waren sowieso unter ihrer Würde. Mich ignorierte sie total. Sie sprach von mir nur in der dritten Person und würdigte mich keines Blickes. Manchmal sagte sie streng zu Ruedi, wenn wir ihr Logis betraten: „Aha. Bist Du wieder mit dem Büebli unterwegs, das so neidische Augen macht? Nimm es nur nie in Dein Kinderzimmer mit. Sonst stiehlt es Dir noch Deine schönen Spielsachen.“

Ich verachtete die Tante natürlich. Ich wünschte mir, dass Ruedis Roboter sie lebendig begraben würden.

Grosstante Elsas Tage waren dergestalt, dass sie von einem psychotischen Wahnanfall in den anderen glitt, ansatzlos. Wie ein guter DJ, der unmerklich von einem Song zum anderen übergeht. Da gab es keine Entspannung, keine Pause – die Frau muss enorme Blutdruckwerte gehabt haben. Ein Druck, wie ein Dampfkochtopf kurz vor der Explosion. Ich liebe übrigens Dampfkochtopf-Explosionen und provoziere sie gelegentlich mit Absicht.

Natürlich nur in fremden Wohnungen.

Auch die Jurymitglieder einer gewissen BJ Rallye stehen ja manchmal unter einem derartigen Druck, doch die peer pressure verbietet es ihnen, diesem Druck zu früh nachzugeben. Sie werden sonst zum Gespött ihrer lieben Jurykollegen.

Zum Glück war ich nie das direkte Ziel von Grosstante Elsas Wahnanfällen. Nur ein stummer Zeuge.

Wenn Ruedi beispielsweise auf dem WC war, liess dieser Umstand der Grosstante keine Ruhe. Das fing dann so an; Elsa sagte, mit durchdringender Stimme, schneidend wie ein elektrisches Messer: „Du schliesst die Tür aber nicht ab!“

Grossonkel Oski, er wusste, was gleich abgehen würde, meldete sich mit dumpfer Stimme aus seinem Sessel: „Hör jetzt auf Elsi. Lass den Buben in Ruhe!“

Sein Einwand verhallte wirkungslos.

Elsa noch wütender: „Und spiel da drinnen ja nicht mit Deinem Du-weisst-schon-was. Sonst kommt Grosstanti mit der Pouletschere und schneidet alles ab.“ Sie hörte nicht mehr auf: „Wenn Buben damit spielen, macht der liebe Gott, dass ihr Zipfelchen faul und grün und dunkelbraun wird. Dann muss der Doktor sowieso alles abschneiden. Da kann auch gleich ich mit der Pouletschere für Ordnung sorgen.“

Oski, verzweifelt: „Hör auf Elsi, lass den Buben in Ruhe…“

Die Wirkung diesmal?

Als hätte niemand etwas gesagt!

Wenn Ruedi, für Grosstante Elsas Geschmack, zu lange auf dem WC, oder AB, wie wir damals sagten, verweilte. Holte sie die Pouletschere aus ihrem Chuchichäschtli, riss die Türe zum stillen Örtchen auf und schnippte und schnappte mit dem Gerät ein paar Mal herzhaft durch die Luft.

Manchmal rannte sie Ruedi, nachdem er sein Geschäft endlich erledigt hatte, mit der scharfen Schere durch die ganze Wohnung nach. Er, atemlos auf der Flucht, über Tische und Kommoden hinweg, Vasen und allerlei Pozellan-Nippes zertrümmernd, sie hintendrein. Dabei schrie sie unentwegt: „Der Bub hat mit seinem Zipfeli gespielt. Schnipp-schnapp, Grosstanti schneidet alles ab.“

So war das damals…

Als ich später Sigmund Freud gelesen habe, musste ich immer wieder an Grosstante Elsa denken.

Wir wurden älter. Ruedi war einer von denen, die auf der Wortebene unglaublich heftig pubertieren. Immer, wenn er den Mund aufmachte, kam etwas Klebriges raus: Eher in einer einfachen, nicht besonders ausgefeilten oder gar originellen Tonlage, aber nichtsdestotrotz hochgradig genüsslich. Jener glibberige Rotztropfen, der immer noch permanent unter seinem rechten Nasenloch hing, zitterte in fröhlicher Erregung mit. Wie Ruedi ein Jung-Teenager war, ging er jeden Tag nach der Schule zum Kiosk – und fragte: „Haben Sie das Schlüsselloch? Haben sie das Sexy?“ Die Kioskfrau erwiderte: „Das haben wir alles. Aber das ist ab achtzehn. Wie alt bist du?“ Ruedi erwiderte laut und burschikos: „Alt genug!“ Und dann prustete er los, hielt sich den Bauch vor lauter Lachen…

Die Kioskfrau schaute ihn verachtungsvoll an.

Ich wusste, dass er es nur tat, damit er der Kioskfrau das schöne Wort „sexy“ sagen konnte.

Zuhause, unter seiner Matratze, hatte er nämlich eine beachtliche Sammlung solcher Seventies-Sex-Heftli, „Schlüsselloch“, „Wochenend“ oder „Dreimal kurz gelacht“, die er wiederum unter der Matratze seines Grossonkels Oski hervorgeklaubt hatte, nachdem dieser dann endlich abgekratzt war, an einer massiven Leberzirrhose.

Aber ach, es sollte kein gutes Ende mit unserem Ruedi nehmen.

Denn in den achtziger Jahren musste ich ihn erschlagen. In einem besetzten Haus. Wir waren beide achtzehn, in die Punk-Szene abgeglitten und besoffen. Er hatte keine Freundin. Ich schon. Und eines Abends hat er meinen Schatz derart derb und klebrig angemacht – zunächst mittels eines Schwalls obszöner Worte, dann griff er ihr unvermittelt und mit irrem Blick, mit beiden Händen gleichzeitig, heftig hinten an den Arsch und vorne zwischen die Beine -, sodass ich ihm mit einem Feuerlöscher krachend den Schädel eingeschlagen habe. Das gab eine Riesensauerei…

Quite a bit of raspberry jam – I’d say – quite a bit of raspberry jam…

Der glibberige Rotztropfen zittere nimmermehr. Und kein Roboter ist gekommen, um Ruedi beizustehen. Seither habe ich meinen Glauben an Roboter endgütig verloren.

Diese blutige Geschichte ist ja nie ans Tageslicht gekommen. Sie hatte keinerlei rechtliche Konsequenzen. Ich staune immer noch darüber. Heute, da dies alles schon lange verjährt ist, kann ich es im KULT endlich exklusiv gestehen. Für einige Zeit hatte ich wegen dieses Vorfalls übrigens ein bisschen ein schlechtes Gewissen. Aber das hat sich gelegt. Seit ich mein Lebensziel erreicht habe und endlich Jurymitglied bei dieser BJ Rallye, Sie wissen schon, geworden bin.

Seither spüre ich nämlich nicht mehr viel. Ausser – gelegentlich – jenem unendlichen Druck, den ich manchmal, während der Wettbewerbs-Saison, recht lange aushalten muss. Das ist besonders schwierig, wenn dir die Teilnehmerinnen, mit perfekt eingeübtem Blick, direkt in die Augen schauen, während sie ihre Kür absolvieren, an der sie monatelang geschliffen haben, zusammen mit einem unerbittlichen professionellen Trainer. Aber man will vor den Jurykollegen ja keinesfalls das Gesicht verlieren. In den heftigsten Druckmomenten, beispielsweise in jenen gefährlichen Augen-Augenblicken, mache ich, um mich etwas abzulenken, immer gerne Fotos von den Teilnehmerinnen. Close ups. Wenn die jeweilige „International Brain Salad Surgery Competition“ (IBSSC) dann gelaufen ist, im Rahmen der Schlussfeier, schenke ich den Damen die Fotos. Dies bereitet ihnen grosse Freude, was wiederum mich freut.

Freude. Freude. Freude.

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Autor: Christian Platz

Lebt in Basel. Arbeitet überall. Reist recht viel. Vor allem nach Asien. Und in den Deep South der USA. Verdient sein Geld seit über einem Vierteljahrhundert mit Schreibarbeiten. Vorher hat er als Pfleger in einer Irrenanstalt gewirkt. Hat mehrere Bücher veröffentlicht. Spielt seit 40 Jahren fanatisch Gitarre, zwischendurch singt er auch noch dazu. Schreibt unter anderem für Kult. Ist manchmal gut aufgelegt. Manchmal schlecht. Meistens so mittel. Sammelt Bücher, CDs, Filme, Artefakte. In einem psychisch leicht auffälligen Ausmass. Verfügt, bezüglich der Dinge, die er sammelt, über ein lexikalisches Wissen. Platz ist einerseits ein Wanderer auf dem Pfad zur linken Hand. Andererseits Neofreudianer mit Waffenschein. Liebt Blues und Voodoo, Rock'n'Roll und die schwarze Göttin Kali. Trinkt gerne Single Malt Whisky aus Schottland. Raucht Kette. Ist bereits über 50 Jahre alt. Macht einstweilen weiter. Trotzdem wünscht er nichts sehnlicher herbei als die Apokalypse.

WARNHINWEIS:
Dieser Mann tritt manchmal als katholischer Geistlicher auf, stilecht, mit einem besonders steifen weissen Kragen am Collarhemd. Dies tut er in gänzlich irreführender Art und Weise und ohne jegliche kirchliche Legitimation. Schenken Sie ihm - um Gottes Willen - keinen Glauben. Lassen Sie sich nicht von ihm trauen, ölen oder beerdigen. Lassen Sie sich von ihm keinesfalls Ihre Beichte abnehmen. Geben Sie ihm lieber Ihr Geld.

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