Sie haben schon lange keine Freude mehr empfunden. Ihre Geisteshaltung basiert auf radikal minimierten Erwartungen, die in etwa – und in Relation zum Universum, das sie umgibt – die Grösse jener Kotwürstchen aufweisen, die Geisseltierchen von sich geben mögen.
Keine Wünsche mehr. Keine Sorgen mehr. Keine Freude mehr. Aber leider auch keine Trauer.
So leben sie unter einem rostigen Wellblechdach, auf das der Regen unaufhörlich trommelt; vertrackte Rhythmen – siebenschwänzig, neunschwänzig – ertönen. Zu einem permanent sich wandelnden imaginären Generalbass. Das ist ihre Musik.
Gebrauchter Katzenkistensand und alte Zeitungen stellen ihre Nahrung dar. Getrunken wird dazu reiner Ethanol aus Spiritus.
Und so geht es den beiden nicht schlecht. Weil sie – endlich – nichts mehr wollen. Inzwischen sind ihnen übrigens beachtliche Felle gewachsen, am ganzen Körper. Was unter anderem wohl an den Felidenfäkalien liegt, die sie stetig zu sich nehmen, wenn sie ihren gebrauchten Katzenkistensand vertilgen.
Diese braunen Bröckchen sind für sie gleichsam wie Rosinen.
Ja, wenn man seine Erwartungen radikal minimiert, werden schon die einfachsten Dinge auf dieser Welt zu veritablen Freudenquellen! Schön und gut.
Es war selbstverständlich nicht immer so. Ein derartiger Zustand muss hart erarbeitet werden. Dazu gehört, dass man alle nur möglichen irdischen Freuden und Verlockungen bis zum Überdruss durchexerziert. Maniakalisch. Bis sie sich sozusagen abgeschliffen haben, bis sie bedeutungslos geworden sind.
Klar. Früher haben sie alles gemacht. Haben sie alles ausprobiert. Dann weitergemacht. Bis zum Exzess zunächst, dann bis zum Überdruss, bis sämtliche Lichter und Irrlichter schliesslich erloschen sind.
Feinschmeckerei, bis hin zu gerösteten Papageienzungen, bis hin zu Braten, geschnitten aus Vertreterinnen und Vertretern von Tiergattungen, die akut vom Aussterben bedroht sind, ja bis hin zu geschmortem Long Pig, mit Palmenherzen und Ananas; salzig, umami, sauer, süss, scharf, am Ende sogar alles wild gemischt.
Das Erotische natürlich, bis keine Stellung, keine Verrenkung, kein Hilfsmittel, keine Fantasie mehr übrig blieb, Lust-Schmerz, Schmerz-Lust, dazu Übungen an der Ekelschwelle – und dann darüber hinaus, weit darüber hinaus…
Darauf folgten die Körpermodifikationen: Stattliche Tätowierungen, mächtige Piercings, darunter allerlei genitale. Zudem unzählige operative Eingriffe, zur Umgestaltung der äusseren Erscheinung, der inneren organischen Funktionen…
Extremsport durfte ebenfalls nicht fehlen, in Schnee und Eis, in vertikalen Felswänden, in luftigen Höhen, im Ring, im Kampfkäfig gar, bis alle Muskelfasern gerissen, alle Gelenke ausgerenkt, alle Sehnen massiv überdehnt waren….
Und Reisen und Alkohol und Drogen, und, und…
Dann haben sie es physisch nicht mehr gepackt, sogar Schmerzen hatten ihre Faszination verloren. Also haben sie sich den Geisteswissenschaften ergeben – und parallel dazu dem Studium der weissen, schwarzen, grauen Magie, in Theorie und Praxis.
Untertags haben sie ihren Hegel an ihrem Kant gerieben, ihren Nietzsche in ihren Freud getaucht, ihren Foucault mit ihrem Lacan penetriert.
Abends haben sie hochkomplexe okkulte Rituale auswendig gelernt. Und diese spätnachts mit höchster Präzision ausgeführt: Goetia, Clavius Salomonis, Abramelin, Hermetic Order of the Golden Dawn, Ordo Templi Orientis, Thelema, Zos Kia, Tantra, Palo (Monte und Majombe), Santeria, Macumba…
Und noch eine riesige Kunstsammlung, eine gigantische Filmsammlung, eine megalomanische Musiksammlung…
Alles!
Alles, was jener bunte Markt halt hergibt, den die Menschen Leben nennen.
Eines Tages war der Ofen aus. Kein Feuer mehr, keine Funken, ja nicht einmal ein Restchen Glut.
Keine Wünsche mehr. Keine Sorgen mehr. Keine Freude mehr. Aber leider auch keine Trauer.
Geisterwesen. Schwarze Löcher. Notdürftig verpackt in graue Hautsäcke. Gestützt von morschen Knochen. Der ewigen Niederlage entgegen schleichend. In vollkommener Gleichgültigkeit. So ist es gekommen, dass sie nun unter jenem rostigen Wellblechdach wohnen. Auf das der Regen unaufhörlich trommelt, mit seinen vertrackten Rhythmen.
Ebendort fällt selten nur ein Wort.
Er spricht nie. Sein Mund erzeugt nur noch hin und wieder ein Knack- oder Schnalzgeräusch. Sie gibt manchmal einige wenige Sätze von sich, die sich langsam der stygischen Finsternis ihres Inneren entwinden, in dem ausser ihrem Selbst noch etliche Dämonen wohnen, die da heulen im Dunkeln. Und mit den Zähnen knirschen.
Gerade jetzt drehen sich ihre Augäpfel auf weiss. Ihr zahnloser Mund öffnet sich. Dem also Worte und Sätze entweichen, die sie nicht mit ihren Lippen, ihrer eiterbelegten Zunge formen muss. Ihre Stimme drängt vielmehr aus ihren Untiefen hinaus – wie eine Boa Constrictor aus einem Loch drängen mag, das in einem toten Baum klafft, der nächtlichen Jagd entgegen.
Sie hat sich längst zu einer Bauchredner-Puppe des Teufels entwickelt.
Also spricht ES nun aus ihr: „Wenn jemandem ein Bein amputiert wird, leidet er danach unter Phantomschmerzen. Es ist, als wäre das Bein noch da.“
„Genauso verhält es sich mit dem ganzen Leben. Alles Leben ist ein Phantomschmerz. Unter dem tote Seelen leiden. Bis ans Ende der Zeit. Darüber hinaus gibt es kein Leben. Wir sind alle schon lange, lange schon gestorben. Und mit uns die Welt. C’est tout.“
Ihr Mund klappt zu. Genauso wie ihre Augen. Stille. Lediglich unterbrochen vom Trommeln des Regens. Auf dem rostigen Wellblechdach…
…und natürlich darf geschossen werden!