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High in den Bergen/ Tag Eins

Überzüchtete Pudel, Joints, literarische Fragen und ein schlimmer Ausrutscher, was fliessende Geschlechterrollen angeht, der erste Tag High in Montreux.

Du musst kein abgehalfteter Literat sein, um schnell zu bemerken, dass wenig Dinge am Bahnhof in Montreux beginnen, der Ort am Genfersee strahlte die Mondänität von Untergang und Überalterung aus. Zwei alte Damen blickten mich sauer an, weil ich neben dem Pronto-Shop gegenüber der Station versuchte einen Joint zu drehen, ohne dass mir der Wind allzuviel Gras aus der Handfläche wehen würde.

Am späten Nachmittag im Herbst glänzten ein paar Luxuskarrossen in der nicht allzu kräftigen Sonne, vor den Souvenirläden standen Körbe mit Krimskrams herum, der niemanden interessierte und es schien mir verwunderlich, dass sich die Ladenbesitzer die Mühe gemacht hatten, ihre Storen auszufahren. An dieser Strasse schien lange nicht mehr losgewesen zu sein, immerhin kamen zwei junge Mädchen kichernd aus dem Prontoshop nebenan, die Teenies erkannten sofort den süsslich-beissenden Geruch von Marihuana und kicherten noch lauter und sahen zu Boden, peinlich berührt, dass ein alter Knacker wie ich etwas rauchte, was sie auch mochten.

Vor dem Casino etwas weiter die Strasse hinunter waren die Fahnen gehisst und ein Hobby-General mit langen goldenen Kordeln über den Schultern, einer über die Stirn gezogenen Mütze wachte vor der automatischen Türe. Verzweifelt sah ich mich nach einer Bar um, das Montreux Palace war in Sichtweite, doch ich hatte noch keine Lust in den alten Kasten hineinzugehen. Schliesslich zog ich meinen Rollkoffer auf einen kleinen Kiesweg und folgte dem Pfad zum See hinunter. Langweilig leckte das Wasser an den grossen schwarzen Steinen am Ufer. Der Wirt neben dem Palace musste die Tische aus reiner Verzweiflung raus an die Sonne gestellt haben, da er sonst der Eintönigkeit des Tages erlegen wäre, der Energieschub hatte allerdings nicht gereicht, um das Radio im langen schlauchartigen Lokal anzustellen oder gar Aschenbecher auf die Tische draussen zu stellen.

Die Sonne war angenehm warm, der Himmel  thronte in klassischem Blau über den Bergen, kleine saubere Boote schaukelten friedlich auf den Wellen des Sees, die weissen Wolken waren makellos und symmetrisch wohlgeformt, eine wunderschöne Blondine in einer gestärkten weissen Schürze stellte ein Bier vor mich hin, das zwar zweistellig kostete, dafür aber umso kleiner war. Hier trank man nicht, um zu bechern, sondern um protzig an der Promade zu sitzen und den anderen Angebern beim Protzen zuzuschauen. Der richtige Drink für einen mittellosen Schriftsteller also.

Die Blondine brachte auf den runden Tischen eine nicht vorhandene Unordnung in Ordnung, sie hatte es nicht eilig ins Innere des düsteren Schlauchs zurückzukehren, dort wartete nur ein dickes Jura-Buch auf sie. Seufzend holte sie mir ein zweites Bier. Zwei kleine, überzüchtete Hunde schnüffelten an meinem Koffer, was die Tiere offenbar in asthmatische Erregung versetzte. Traurig erinnerte ich mich daran, dass ich jetzt zuhause vor meiner Konsole gehockt wäre und versucht hätte, die religiösen Fanatiker zu erschiessen, um ein kleines Dorf im mittelamerikanischen Westen von den Spinnern zu befreien. Schliesslich muss sich auch ein erfolgloser Autor einmal erholen, später hätte ich mir eine Pizza bestellt, zuviel Wein getrunken und mich selbst bedauert, da mich meine Freundin wegen eines Gymnasiallehrer verlassen hatte, der zwar unausstehlich und pedantisch war, aber wie sie sagte, immerhin etwas mit ihr unternahm. Seltsam, dass für Carla kiffen und Alkohol trinken nicht mehr als Unternehmungen galten.

Wie viele Männer in einer solchen Situation hatte ich mich in die Arbeit gestürzt. Nichts Vernünftiges, was Geld gebracht hätte, sondern einen langen Essay über «gebrochene Poesie und Satzstellung», an dem ich fast eine Woche geschrieben hatte und dessen Honorar knapp für die zwei Bier hier am See reichen würde. Meinem literarischen Agenten war ich seit langem ein Dorn im Auge. Nicht nur hatte ich seit meinem Roman «Metzgersmeistertocher» nichts mehr Substantielles veröffentlicht, ich weigerte mich auch eine Short Story für eine «spritzig-heiss-freche» Anthologie zu schreiben.

«Sie wollen deinen Namen, wollen der ganzen Sache einen literarischen Anstrich geben und sie zahlen gut», sagte Adrian und meinte, es könne doch nicht schwierig sein, etwas über Sex zu schreiben, es sei doch eine Sache, die jeder kenne. Tatsächlich war ich verzweifelt genug, es zu versuchen, so bebten die Lenden, zitterten die Knie und schon auf den ersten Seiten nannte ich ganz in der Manier der allerbesten Hausfrauenliteratur, die Namen von mehreren Metropolen, wie Budapest (der Schweiss drang aus ihren Poren und strömte über die makellose Haut ihres Rückens), Paris (die Gänsehaut streckte sich über die reine Haut ihres Rückens als sie die Stufen nach Montparnasse hinaufkletterte) und London, natürlich (am obersten Punkt des Riesenrades strich er sanft über die schimmernde Haut ihres Handrückens).

Ich starrte auf schöne Blondine, die hinter dem Fenster in den dicken Schinken vertieft erschien, ihre blonden Locken umrahmten ihr Gesicht, sie sah abwesend und zugleich verzückt aus, die Haut auf ihrem Rücken war sicher auch makellos und ihr Handrücken schimmernd. Ich vermisste Carla, aber ich hatte die Geschichte versaut, auch wenn ich das nie zugeben würde. Die Blondine servierte elegant noch ein Bier, sie verscheuchte mit einer Fussbewegung die Hunde, die sich schon wieder an meinem Koffer zu schaffen machen.

«Monsieur, are you in Montreux for business?», fragte sie und ihre grünen Augen waren ein Versprechen.

«Hallo, hallooooo …», tönte die laute Stimme einer auf meinen Tisch zu eilenden Gestalt, bevor ich ihr antworten konnte. Adrian hatte verschwiegen, dass der vielversprechende Schriftsteller ebenfalls aus Basel anreisen würde, wenigstens hatte er mich im Zug nicht zu fassen bekommen. Ausser sich vor Euphorie erschlug er beinahe einen der überzüchteten Hund mit seinem Koffer, schüttelte mir begeistert die Hand und bestellte «deux pression, s’il vous plait» und befreite mich auf effektive und einfache Art von der Aufmerksamkeit einer schönen jungen Frau.

Warum hatte ich das Programm nicht gelesen? Hätte ich das Wochenende noch absagen können? Der Besitzer holte seine beiden seltsam geschorenen Pudel, die offenbar nie einem Ruf des Herrchens folgten, auf den Spazierweg zurück, vielleicht kein Wunder, denn der Hundebesitzer bediente mit Hut, Pfeife und Zigarre das Klischee eines fehlgeleiteten Gentleman-Bildes, so wie es nur an einem Ort möglich sein konnte, dessen Weltoffenheit es nur noch in der Erinnerung gab. Geblieben waren dafür teure Preise, ein zweitklassiges Casino und die stoische Ruhe der Berge. Der Typ verstaute seine überzüchteten Viecher in einer Tasche und ich musste eingestehen, ich hätte den Trip hierher nie und nimmer absagen können, da ich pleite war. Adrian hatte mir für die Reise sogar einen Teil des Honorars vorschiessen müssen.

Adrian war zwar Literatur-Agent, ein Poet war er aber nicht, er sagte trocken und meinte es: «Du gehst dahin, faselst etwas über Poetik, gibst einen Workshop, besäufst dich drei Tage, nagelst eine Teilnehmerin und bereust es am Schluss, so dass du übermüdet und beschämt nach Hause zurückkehrst, so wie es jeder andere Kongressteilnehmer auf der ganzen Welt tut. Ausser vielleicht die im Vatikan, da haben sie an Kongressen andere Schweinereien im Kopf.» Ich hatte nicht weiter nachgefragt.

Das Gesicht des vielversprechenden Schriftstellers leuchtete vor Begeisterung, er sagte: «Montreux, dieser See, die Literatur, ganz fantastisch, ganz fantastisch.» Die Blondine sah ihn verwundert an, er redete laut, schien sonderbar erregt und sie fragte sich wohl, ob wir ein Pärchen seien, ich grinste sie hilflos an, woraufhin sie sich schnell hinter ihr Fenster zurückzog und wieder in dem dicken Schinken blätterte.

Offensichtlich hatte vielversprechende Schriftsteller geschriftstellert, sein neues Buch würde im Frühling erscheinen, er brenne darauf, mir an diesem Wochenende alles zu erzählen, er könne aber vorab schon sagen, er habe filmische Techniken benutzt, verschiedene Plotstränge miteinander verwoben und manchmal, so unerschrocken sei er halt, habe er «harte» Schnitte gesetzt. Er nahm vorsichtig ein Schluck Bier und grinste: «Naja, weisst du im richtigen Leben bin ich nicht so unerschrocken, also wenn jetzt da vor uns jemand ertrinken würde, dann weiss ich nicht, ob ich ihn retten könnte. Das ist ein moralisches Dilemma. Eine grosse Frage, oder?»

Wegen diesen Dingen war er eben vielversprechend, er scheute sich nicht die banalsten Fragen zu stellen und diese schienen in grosser Menge aus seinem Mund zu fallen. Auch um literarische Tipps war er nicht verlegen und er wollte immer literarische Fragen diskutieren: «Hör’ mal, für mein Buch habe ich mir einen genauen Stundenplan gemacht, so dass ich keine Ausreden hatte, nicht zu schreiben.»

Als er sich mit Toni Morrison verglich, die jeweils dem Sonnenaufgang zugesehen hatte, einen Kaffee trank und dann anfing zu schreiben, hörte ich nicht mehr weiter zu. Wirklich, ich mag Toni Morrison. Vielleicht die Essays nicht. Aber mir wäre egal gewesen, wenn sie so wie sie geschrieben hatte, es auf dem Scheisshaus getan hätte und manche Autoren hatten das ja sogar tun müssen, schlicht und einfach, weil man sie weggesperrt hatte.

So ging es an den literarischen Veranstaltungen immer: Irgendwer versuchte immer hinter das «Geheimnis» des Schreibens zu kommen, was etwa so sinnvoll war, wie jemand jemand anderem erklären wollte, wie er Sex haben oder seinen Rasen mähen sollte. Es war sinnlos. Was für deinen Rasen funktioniert, muss ja nicht für meinen funktionieren. Als Schreiberling, der nicht einmal eine «heiss-freche» Short Story zustande brachte, konnte ich leider nicht das grosse Wort führen, dennoch war ich mir ziemlich sicher, dass Leute, die sich fragen mussten, wie, wann und wo sie schreiben sollten zu sehr mit diesen Fragen beschäftigt waren, um zu schreiben. Zu dem deutete die Werweisserei um Technik und Äusserlichkeiten sehr daraufhin, dass sie vielleicht nicht so viel zu sagen hatten.

Vor dem Montreux Palace rauchte ich noch einen Joint, was einem weiteren mit Kordeln behängten General missfiel, der vielversprechende Schriftsteller eilte mit federnden Schritten in die mit Kronleuchtern und dicken Teppichen überladene Lobby, freudig grinsend auf das Schild deutend, das daraufhin hinwies, dass sich der Belle Epoque-Schupppen auf die Besucher des «Literarischen Kolloquiums» freue. Frag’ nicht, bitte frag nicht, welche Leute viel Geld dafür zahlen, drei Tage lang einen Event zu besuchen der «Kolloquium» im Titel trägt.

Mag sein, in der Chirurgie machen Kolloquien, Konzile und all die wissenschaftlichen Zusammenkünfte Sinn, aber hier sprachen wir über Workshops im «kreativen Schreiben», irgendwelche Lesungen, dann zum Tagesabschluss Panels mit so scharfen Titeln, wie: «Charakterentwicklung, Treiber oder Hindernis», oder der Klassiker: «Stil: Zwischen Blüte und Alleinstellungsmerkmal». Solche Dinge wurden von irgendwelchen Besserwissern diskutiert, die meist nie etwas brauchbares geschrieben hatten, ausser die Kritiken, in den Zeitungen, die ihren überhöhten Lohn zahlten oder Typen, wie mir, die nichts Besseres zu tun hatten. Nüchtern war das auf jeden Fall nicht durchzuhalten.

Der Empfangs-Apéro des Kolloquiums fand auf einer Seitenterrasse statt, Adrian hatte mir zu verstehen gegeben, ich müsse dahin und immer fröhlich lächeln, wollte ich mein exorbitant hohes Honorar nicht gefährden. Die Sonne stand noch über den Bergen, die Wolken trieben wohlgeformt über den ansprechend geröteten Horizont. Ein Glas Champagner gab mir Halt, dennoch fühlte ich mich fremd im gutgelaunten Simmengewirr. Konnte sein, ich kam tatsächlich nicht genug aus dem Haus. Mag sein, Carla hatte recht, wir unternahmen zu wenig, gleichzeitig konnte ich ja schlecht eine virtuelle mittelamerikanische Kleinstadt den religiösen Fanatikern überlassen, oder?

Der vielversprechende Schriftsteller hatte seinen Anzug gewechselt und sich eine Fliege umgebunden, ich fragte, während meine Krawatte tot an mir herunterbaumelte: «Welchen Kurs gibst du denn? Oder hast du einen Vortrag?»

Er schüttelte den Kopf und meinte, er sei am Kollquium, weil er sich, sein «Schreiben» «weiterentwickeln» wollte. Er sei ein Gast, er wolle etwas übers Schreiben lernen, er habe sofort gebucht, als er meinen Namen beim «kreativen Schreiben» gelesen habe. Wie immer, wenn ich das Wort «Schreiben» so oft in so kurzer Zeit hörte, verlor ich jede Hoffnung für die Literatur. Beim dritten Glas fing er an über seinen Roman «Der vergessene Goldfisch» zu sprechen, ein Werk, bei dem es vor allem um die «zeitlosen Dinge» ging, eben nicht nur um Goldfische. Von diesem Monolog inspiriert, gesellte sich Irene zu uns, die hoffte, es irgendwann zu schaffen, die Geschichte ihrer Grossmutter aufzuschreiben, «schliesslich sind die Kinder ja aus dem Haus.»

Sprechen wir über die «zeitlosen Dinge», sprechen wir über Fische: Der Plot des Buches des vielversprechenden Schriftstellers drehte sich um einen Goldfisch, der in seinem Aquarium einen Mord beobachtete, eine Geburt und allerlei Liebesgeturtel. Während der vielversprechende Schriftsteller erklärte, es handle sich natürlich um eine Metapher, das Geblubber im Aquarium symbolisiere die Vergänglichkeit der Zeit. Unterdessen hatte sich der junge dynamische Finn von der österreichischen Werbeagentur zu uns gestellt. Überflüssigerweise stellte er mich als «Star» des Kolloquiums vor, worauf Irene eine Art Juchzer entfuhr, auch der vielversprechende Schriftsteller drehte sich voller Bewunderung zu mir um und erklärte, wie ich an einer Party mit einer Koks-Dealerin gesprochen habe (in Wirklichkeit war sie nach einem Satz an meiner Schulter eingepennt, einfach weggetreten). Der vielversprechende Schriftsteller sagte: «Er ist eben ein Schriftsteller des prallen Lebens, jemand der sich nicht scheut, der Realität entgegenzutreten.»

Der Schriftsteller des prallen Lebens war unterdessen dabei, das sechste Glas Champagner in sich hineinzuschütten, verbrachte im Alltag seine Tage mit einer Spielkonsole und brachte es nicht fertig, eine Beziehung mit einer schönen, intelligenten und eben «echten» Frau aufrechtzuerhalten, die Erinnerung an die Koks-Dealerin liess die Gedanken des Schriftstellers prallen Lebens abschweifen, er fragte sich, ob man in Montreux wohl Stoff auftreiben konnte. Ich versuchte, das Gespräch wieder auf den «Goldfisch» und die «Wertigkeit von Metaphern» zu lenken, als Finn, ein dynamischer Mann des Fitnesszentrums, der sich ebenso sicher viel in den Sattels eines Bikes schwang, die «Metzgersmeister Tochter» ins Spiel brachte. «Ich lese ja nicht viel, aber dieses Buch, es war toll, und ich habe es ganz gelesen. Ich habe nicht einmal das Hörbuch gebraucht.»

Er war ein gutaussehender Junge, vielleicht hätte ich ihm von der Blondine in der Bar erzählen sollen, er hätte bei der Studentin sicher eine Chance gehabt und sie hätten viel über die komplizierten Diplome reden können, die sie im Laufe ihres Lebens noch zu erwerben gedachten. Erwartungsfroh starrte mich die Runde an, offenbar hatte Irene wissen wollen, woran ich arbeitete, während ich kurz weggedriftet war. Ich nahm mir ein Glas von einem Tablett und sagte: «Seht mal, ich habe vom Leben keine Ahnung, ich habe schon ziemlich lange nichts mehr geschrieben, ich finde die Worte nicht, um zu beschreiben, was in der Welt oder im Leben geschieht.» Zu meinem Glück wurde unsere jetzt enttäuscht und wenig begeistert dreinblickende Runde von Finns Chef abgelenkt. Ein glatzköpfiger Muskelprotz, der ebenfalls ein Ober-Dynamiker war und breit lachend erklärte, er «LIEBE», ja genau «er LIEBE», Schriftsteller einfach.

Vor meinem Fenster dämmerte der Morgen überraschend früh, auf der Seeseite des Montreux Palace war der Sonnenaufgang spektakulär, trotz mehreren Aspirin schien jemand in meinem Mund Wolle vergessen zu haben und ich hatte keine Ahnung mehr, wie der Abend zu Ende gegangen war, auf dem Beistelltisch auf der runden Terrasse war der Aschenbecher voll und ein paar leere Flaschen aus der Minibar standen herum.

Der Spaziergang an der Promenade half wenig, den Kopf frei zu kriegen, überraschend immerhin, dass offensichtlich schon früh morgens überzüchtete Pudel Gassi geführt wurden, säuerliche Gesichter deuteten allerdings daraufhin, dass es die Bediensteten waren, die früh rausmussten. Geduscht und einigermassen lebendig kam ich durch mein ganz ok durch mein Seminar. Ich schickte die Leute mit Bleistift und Papier raus und sagte ihnen, sie sollen die Geschichte eines normalen Menschen ergründen und forderte sie dann auf, etwas Kurzes dazu schreiben. Gerne würde ich sagen, ich hätte die Idee selbst gehabt und grossartige Vorbereitungen getroffen, doch tatsächlich hatten mich Irene und der vielversprechende Schriftsteller darauf gebracht, die ja dauernd nach echten Geschichten gesucht hatten.

So lief es nicht schlecht und für Samstag blieb mir nur noch über die Metzgersmeistertocher ein kleines Referat zu halten. Wie gewohnt würde ich Dinge sagen, wie: «Wissen Sie, ich habe auch keine Ahnung, worum es geht, es gibt keine Botschaft, das Publikum liest nicht, was ich geschrieben habe, sondern es liest, was es lesen will. Die Leserinnen und Leser sind es, die eine Geschichte mit Farbe und mit Bildern versehen, es sind meine Worte, aber diese Worte sind jetzt allein da draussen, ich habe da keine Kontrolle mehr. Sie sind alleine, jede Leserin, jeder Leserin versteht besser, was ich geschrieben habe, als ich.»

Normalerweise brachte ich damit die Leute zum Schweigen. Nicht ganz zu Unrecht war ich nach solchen Aussagen in der Presse als «postmoderner Schwätzer» gebrandmarkt worden. Und das in drei Ländern!

Kaum hatte ich bei der Frage bei was es eigentlich bei der Metzgersmeistertochter eigentlich ging den Kopf aus der Schlinge gezogen, stand eine Frau auf, die eigentlich zu jung war, um am Wochenende etwas zu besuchen, was «Kolloquium »im Titel trug – ehrlich gesagt, fühlte ich mich auch zu jung dazu, da ich ja kein Arzt oder toller Wissenschaftler war – und fragte mit fester, bestimmter Stimme: «Wie halten Sie es mit ««fliessenden Geschlechterrollen»», spielt das in ihrem Roman nicht auch eine Rolle oder ignorieren sie aktiv diese Entwicklung und schreiben in ihrem Werk die traditionellen Geschlechterrollen fest und zementieren sie auf diese Weise».

Leichtsinn, Dummheit, Hybris? Auf meiner leicht erhöhten Warte, in einem Saal mit dicken Teppichen, vollgestopft mit modernster Technik, den obligaten Kronleuchtern und geschmacklosen Bombastgemälden mit Pferden drauf und Ornamenten an der Decke, die sagen sollen: Luxus und Prunk sind selbstverständlich, sagte ich unglücklicherweise, was ich dachte. Und ja, ich war nüchtern (die paar Joints am Nachmittag) und ja, es war reaktionär.

Versonnen sah ich kurz auf den See, versonnen stützte ich mich in meinem Sakko auf den Tisch und fragte in den vollbesetzten Saal: «Wissen Sie, warum der Hintern Hintern heisst?» Die Frau irgendwo in der Mitte schien bereit aufzuspringen, aber wahrscheinlich fehlte ihr die Kraft, weil sie Schlimmeres kommen spürte.

«Der Hintern ist hinten. Stimmt’s? Darüber müssen wir nicht sprechen, oder? Er ist hinten. Spätestens seit Freud ist klar, dass Sex und sexuelle Ausrichtung tief im Unbewussten verankert sind, auf einem dunklen Kontinent, den man nicht erklären kann. Klar ist allerdings auch, dass wir alle Sex sublimieren müssen. Und genau dahin gehen diese verklemmten Identitätsdiskussionen. Je komplizierter das Ganze wird, je genauer sie ihre sexuelle Rolle definieren wollen, desto weniger werden sie flachgelegt. Die Tyrannei von Schönheit, Fitness und Hygiene, die bis heute gilt, wird einfach von der Tyrannei der Identität abgelöst und sie werden wieder nicht flachgelegt, weil sie zu viel darüber nachdenken müssen, ob sie nun was machen wollen oder nicht. Aber Sex ist ein Risiko, ein Wagnis und wenn sie immer neue komplizierte Abkürzungen oder fliessende Geschlechterrollen erfinden, passiert nur eins: Sie haben keinen Sex».

Sie hätte protestieren können, sie hätte mir widersprechen können und ich hätte mich entschuldigen und endlich an die Bar enteilen können. Sie tat es nicht und ich sprach länger von der Tyrannei der modernen Gesellschaft und davon, dass Sex schon immer ein Mittel gewesen sei, um die Menschen zu kontrollieren.

Klar, gebe es jetzt Leute, die dächten, sie seien verwirrt, ihre Körper habe keine Ahnung, wer sie wirklich seien, aber in Wirklichkeit sei das nur die Angst davor, sich einem anderen Körper anzunähern. Jemandem nahe zu sein. Viele waren schon vorher aufgestanden und einfach rausgegangen, trotzdem hatte ich nicht aufhören können. Vor allem die Abkürzungen, der Begriff «fliessende Geschlechterrollen» trieben mich weiter, da half nichts mehr, es trieb mich in den Wahnsinn und der ganze Saal sah mit offenem Mund zu.

Samstagabend. Ich war ein Aussätziger, aber ein Aussätziger mit einem Liegestuhl in einem doch sehr, sehr gepflegten Garten und einer gefüllten Mini-Bar im zweiten Stock. Wie jeder Selbstmörder hatte ich die Sinnsuche aufgegeben. Es war zu spät und ich wusste es. Zwar war der Hintern hinten, aber die fliessenden Geschlechterrollen waren die heilige Kuh der Zeit, gegen die ich nicht einmal viel einzuwenden hatte, ausser, dass es mir widersprüchlich erschien, dass es der sexuellen Vielfalt kaum aufs Velo helfen würde, wenn jede verwirrende Ausformung (Bi-sexuell, Metro-sexuell, A-sexuell, Trans- weiss Gott nicht alles) eine eigene Toilette und Anerkennung durch den Papst forderte, während Gesellschaft und der Oberhirte in Rom nach wie vor mit der Selbstbestimmung der Frauen über den eigenen Körper zu kämpfen hatten.

Richtig! hier wäre möglicherweise ein Kampf gewesen, den sich zu kämpfen gelohnt hätte, sexuelle Selbstbestimmung für alle, weder Gesellschaft noch Religion reden Individuen drein, niemand mehr wird geächtet, dafür hätte man kämpfen können. Stattdessen führte man einen Kulturkampf. So dass selbst komplett bedeutungslose Werke wie die «Metzgersmeistertochter» einer Lesart unterworfen wurde, für die sie nicht geschrieben worden war. Seit meiner kleinen Rede war ich der Pariah des Kolloquiums und «Trending» auf Twitter als alter Furz, der als Schriftsteller nicht mit der Zeit gegangen war. Der Hashtag «Sexist» gehörte mir allein. Für eine Weile jedenfalls, obwohl ich gar nicht so recht wusste, was ein Hashtag eigentlich war.

Und es hätte die Welt in ihrer Allwissenheit oder die Öffentlichkeit nicht überraschen sollen, denn ich hatte ein Buch über die Tochter eines Metzgers geschrieben. Nicht, dass die Tochter des Metzgers sich nicht auch Sorgen um das Wohlergehen der Tiere gemacht hätte und ja, die Tochter des Metzgers war emanzipiert, doch im Grunde hatte ich ein Buch darüber geschrieben, wie der Mann – selbst wenn seine Tochter den Impuls zu kotzen unterdrückte und ihm in der Metzgerei half    unterging: Neue und alte Dinge prallten aufeinander und waren nicht mehr wie vorher.

Aber mit den sozialen Medien wollen wir lieber gar nicht erst anfangen. Ich war dabei mir «Einen» anzuzünden als mein Telefon vibrierte. Adrian, der unpoetische Agent, erklärte zur Begrüssung: «Willst du mich verarschen, dass erste Mal, dass du was auf Social Media machst und dann ist es das? Hättest du nicht einfach eine Serviertochter anbaggern können, aber jetzt hast du alle möglichen <Gender-Aktivisten> beleidigt …»

Ich sah der dicken Rauchwolke nach, die in den Abendhimmel aufstieg. Perfekter Nachthimmel mit wohlgeformten Wolken.

«Gender-Aktivisten? Was iss n’ das?»

Adrian fluchte und hängte auf, er hatte noch etwas von einem «hoffnungslosen Fall» gesagt und hatte gemeint, er wisse nicht, ob er es sich noch leisten könne mich zu kennen. Der Stummel meines Joints flog in weitem Bogen über den makellos geschnittenen Rasen. Ich schlich mich ins Hotel hinein, hoffte, die Kolloquiumsteilnehmer wären mit dem Essen fertig und ich könnte mich auf mein Zimmer schleichen.

Auf jeden Fall freute sich die Dame am Empfang mich zu sehen, sie lächelte als sie mir die Chipkarte gab und sagte etwas auf französisch und lächelte noch breiter, sie war hübsch, ich lächelte zurück und dachte: Ok, ich war wirklich ein Sexist. Über die dicken Teppiche schlich ich zum Lift und hoffte, wenigstens dem vielversprechenden Schriftsteller zu entgehen.

«Ich lade Sie zu einem Drink ein, wenn Sie wollen», bot die Frau an, die nachgehakt hatte, ob ich in meinem Roman die fliessenden Geschlechterrollen berücksichtigt hatte. Es war nicht meine Art zu einen Drink abzulehnen: «Tolle Idee! Sind noch viele Leute in der Bar, die mich erkennen würden.»

«Da sind noch ein paar Leute vom Veranstalter, aber die haben noch nie ein Buch gelesen und denken ein Schriftsteller ist ein Mann, der irgendwelche Dinge irgendwohin stellt.»

«Was denken die denn, was ein Autor so macht?»

«Keine Ahnung, dass er jemand ist, der mit Toren zu tun hat?»

In der Bar sagte sie, sie habe schon zuviele Wodka-Shots gehabt, darum würde sie selbst nur noch ein Bier nehmen, ich solle mir aber keinen Zwang antun. Mit den Zwängen und mit mir war es so eine Sache. Aber ja, ich mochte die Idee nicht. Irene sagte, ihr Name sei Irene, es sei der gleiche Name, wie der ihrer Mutter, was sie nicht so schlecht finde, aber manchmal sei es nicht so einfach für die eigene Mutter gehalten zu werden. Ich sagte, zwei Irenes seien besser als eine, was sie nicht richtig verstand und ich auch nicht. Dennoch kamen wir nicht schlecht klar und tranken auf alle Leute, die einen Namen hatten.

Foto: Noah Noah/Unsplash

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Autor: Andy Strässle

Andy Strässle umarmt Bäume, mag Corinne Mauch und verleugnet seine Wurzeln: Kein Wunder, wenn man aus Blätzbums stammt. Würde gerne saufen können wie Hemingway, hat aber immerhin ein paar Essays über den Mann zu stande gebracht. Sein musikalischer Geschmack ist unaussprechlich, von Kunst versteht er auch nichts und letztlich gelingt es ihm immer seltener sich in die intellektuelle Pose zu werfen. Der innere Bankrott erscheint ihm als die feste Währung auf der das gegenwärtige Denken aufgebaut ist und darum erschreckt es ihn nicht als Journalist sein Geld zu verdienen.

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