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Gesetzloses Territorium

Das Unvermeidliche

«Willst Du einmal etwas sehen?» So oder ähnlich lauteten die Einladungen. Sie erfolgten immer mündlich. Ein Flugblatt wäre zu heiss gewesen, damals, kurz nach der vorletzten Jahrhundertwende. Ein Plakat undenkbar.

Man bewegte sich auf gesetzlosem Territorium. Klandestin.

Noch nicht lange war es her, da hatte man sie erstmals gesehen, jene bewegten Bilder auf – mehr oder minder – flachem Grund. «Projiziert», das neue Wort war ein Zungenbrecher, gemahnte an wissenschaftliche Prozeduren, hinter geschlossenen Fensterläden durchgeführt, von Professoren die viel zu gescheit waren, so gescheit, dass sie am Ende gewiss im Irrenhaus landen würden, wie man damals gerne sagte.

Doch im bunten Zelt, auf dem Jahrmarkt, erhielt dieses neue Wort aufregende Dimensionen. Da manifestierte sich etwa plötzlich eine Dampflok im abgedunkelten Raum, eine Fotografie, die sich bewegte, wie aus dem Leben geschnitten, auf einem grossen Rechteck aus Textil. Sie raste auf das Publikum zu. Da ist Grosstante Ruf prompt in Ohnmacht gefallen und einige Leute haben geschrien.

So überwältigend war die Illusion, die jenes neue Phänomen hervorbrachte: Film.

Grosstante Ruf wäre erst recht in Ohmacht gefallen, wenn sie jener Einladung gefolgt wäre, die am Anfang dieses Texts steht. «Willst Du einmal etwas sehen?». Überhaupt wäre es niemandem in den Sinn gekommen, sie einer Dame wie Frau Ruf gegenüber auszusprechen.

Die mündliche Einladung richtete sich nur an Herren. Manchmal brachte einer ein Luder mit, aber sicher nicht an eine Dame.

Sonntagnachmittag, draussen Regen, doch es kommt keine Langweile auf. Denn im Hinterzimmer des «Café Crème» gibt es heute etwas zu sehen. Herr März ist da. Er zeigt seine Filme aus Paris, Wirt Treu hat ihn eingeladen. Die Türe des Cafés ist heute verschlossen. Man muss anklopfen. Zweimal kurz, zweimal lang, dann öffnet Lisa, die Servierdüse, und flötet den Eingeweihten ein süsses «Willkommen» entgegen.

Aufregend ist auch die Tatsache, dass Lisa bei den Filmvisionierungen immer zugegen ist. Stecken doch unter ihren Kleidern genau jene entzückenden Geheimnisse, die in den Filmen des Herrn März so genüsslich enthüllt werden.

Der nackte weibliche Körper war das Geheimnis, was man so alles damit anfangen kann, war die Geschichte. Alles flimmernd, in schwarz-weiss, alles in zwei Dimensionen. Aber lebensecht. Aufregender, verbotener Stoff.

Zigarettenqualm im Hinterzimmer. Alle sind mit Kaffee-Schnaps ausgerüstet. Lisa schaut ganz unschuldig, Herr Borer hat eine Schlampe mitgebracht, sie kichert. Das Licht wird gelöscht, der Projektor surrt, auf dem Leintuch, das hier als Leinwand dient, wird es Tag. Grautag.

Sie ist blond und sitzt auf einem Feldbett, Bluse, Rock, Strümpfe, Schuhe. Wahrscheinlich handelt es sich beim Schauplatz um eine jener berüchtigten Pensionen in Paris, die Fensterläden sind geschlossen, trotzdem ist der Raum sehr hell, den nun ein Herr betritt, Hosen, Unterhemd, festes Schuhwerk, Zigarre, tüchtiger Schnauzer im Gesicht.

Er setzt sich auf einen Hocker, der dem Bett gegenüber steht.

Stumm bewegen sich seine Lippen, wir wissen schon, was er der Dame befiehlt. Etwas zögerlich knöpft sie ihre Bluse auf, zieht sie schliesslich aus. Dann steht sie auf. Nun fällt noch der Rock.

Die Strümpfe, die Schuhe und die Unterwäsche bleiben.

Stumm bewegt sich wieder der Mund, wir wissen schon, was da Wunderbares gesagt wird: «Alles».

Sie entledigt sich also ihrer Unterwäsche. Nun ist alles bar und im Licht. Die Strümpfe und Schuhe hat sie anbehalten, sie weiss, dass diese guten Stücke in jenes ominöse «Alles» grundsätzlich nicht einbezogen sind.

Wieder befehlen die stummen Lippen, sie fordern Bewegung, dreh dich, bieg dich, auf die Knie, wackeln, dehnen, spreizen. Man sieht der Dame an, dass sie sich bei alldem nicht so wohl fühlt. Ihre Bewegungen wirken linkisch, ja mechanisch. Ihr Gesichtsausdruck wirkt teilnahmslos. Dann steht der Monsieur vom Hocker auf, im hellsten Scheinwerferlicht macht er mit der Dame einiges, das die anwesenden Herren daheim mit ihren Ehefrauen im Dunkeln zu tun pflegen, aber halt schon raffinierter, pariserisch raffiniert eben. Dann lässt er sie aufregende Dinge tun, von denen die Herren im Hinterzimmer schon gehört haben.

Und dann noch etwas ganz Freches, etwas von dem man selten spricht, höchstens im Flüsterton.

Am Ende kommt das Unvermeidliche.

Das Licht wird wieder angemacht, von Lisa, die immer noch ganz unschuldig schaut – als wäre nichts gewesen. Alle sind zufrieden. Sie haben eine verbotene Frucht genossen. Herr Borer zwickt seiner Schlampe in die Nase. Die Anwesenden preisen den Realismus des Gebotenen in den höchsten Tönen. Abschied, alles schleicht ab, in den frühen Sonntagabend hinein.

Es ist dunkel geworden. Lisa sitzt in ihrem Zimmer auf dem Feldbett. Es ist kleines Zimmer. Im Erdgeschoss. Leise klopft es an der Tür. Emanuel, der Sohn des Wirts Treu, tritt ein. Er setzt sich auf den Hocker, der dem Bett gegenüber steht. Seine Lippen bewegen sich: «Zieh dich aus», sagt er leise aber unüberhörbar. Lisa leistet seiner Anweisung Folge. Ganz in Farbe, dreidimensional, lächelnd, vergnügt, real, im trüben Licht der Nachttischlampe. Ihre Augen sprühen vor Vergnügen.

Und dann vollführen sie alle Akte, die im Film aus Paris gezeigt wurden – sogar jenen einen.

Im Fotolabor 

Sie wissen ja, jenes Kino am Bahnhof. Alle Mamas verbieten ihren Buben, in die Schaukästen, die an der Fassade dieses Lichtspielhauses prangen, hineinzusehen. Die Buben tun es natürlich trotzdem, in Gruppen, lachend, drücken sich die Nasen am Fensterglas platt. Wenn die Nacht kommt, ganz allein, unter der Bettdecke, denken die Buben dann über das Gesehen nach.

Ganz ernst zunächst, bis sie jenes neue, jenes scheinbar uferlose Vergnügen in sich aufsteigen spüren, von den Bildern in den Schaukästen geweckt.

Nonnen mit nackten Brüsten, vielversprechende Blicke über prallen Busen, unbekleidete junge Damen in Ketten, eingeölte Hinterteile – und dazu die Titel: «Nackt unter glühender Sonne», «Sklavenmarkt der weissen Mädchen», «Das Haus der willigen Frauen», dergestalt sind die Aushänge des Bahnhofskinos. Und weil wir uns in der Mitte der 1970-er Jahre befinden, schreitet niemand dagegen ein, ausser die Mamas und Grossmamas, wenn ihre Buben Neugier zeigen. Die Mädchen interessieren sich ja sowieso nicht für so etwas. Dass die Mädchen solche Dinge einfach diskreter beobachten können, zudem weitaus genauer, als es den Buben gegeben war, wurde damals noch nicht diskutiert.

Doch wenn die Nacht kam, unter der Bettdecke…

Thomas ist vor drei Monaten 18 Jahre alt geworden. Er ist sich bewusst, dass er seither dazu berechtigt ist, ins Bahnhofskino zu gehen. Schon seit Jahren gelüstet ihn nach einem Besuch. Doch als es endlich so weit war, hat er es zunächst einmal hinausgezögert. Thomas wohnt auf dem Dorf, arbeitet in der Stadt, in einer Firma, die Lichtpausen macht, deshalb kommt er zweimal täglich am Bahnhof vorbei. Und täglich juckt es in stärker.

Heute spürt er den notwendigen Mut in sich. Thomas ist schon lange in Nicole verliebt, sie ist allerdings bereits 19.

Doch Luisa, sie ist erst 17, die er zwar mag, aber nicht gar so schön und anmutig findet wie Nicole, ist in ihn verliebt.

Deshalb konnte er sie in letzter Zeit konnte dazu überreden, einige Dinge mit ihm zu treiben, nicht alles, was er so möchte, aber einiges. Zungenküsse, damit hat es angefangen, dann durften seine Hände unter den Pullover, später durfte er sehen, was unter dem Pullover wohnt, dann durfte er ihr in die Hose greifen, während Luisa ihn dort anfasste, wo er es gerne hatte. Und gestern hat sie ihm endlich alles gezeigt, im Fotolabor seines Onkels, zu dem er einen Schlüssel besitzt. Auf dem Bürostuhl sitzend hatte sie vor ihm die Beine gespreizt und ihn, der neben ihr stand, gleichzeitig so angefasst, wie er es gerne hatte.

Danach war er zunächst hochzufrieden gewesen, doch später am Abend begannen die Wünsche wieder an ihm zu nagen. Er wollte mehr.

Vielleicht bringt er deshalb heute den Mut, den Übermut dazu auf, nach einem kleinen Bier, das Bahnhofskino zu betreten.

Die ältere Dame mit den blond gefärbten falschen Locken und dem dünnen Schnurrbart über den Lippen an der Kasse, sie erinnert ihn an Frau Melzer, Nicoles Mutter, will seinen Ausweis sehen: «Sind Sie schon 18?» «Das will ich meinen», sagt er mit gespielter Forschheit. Nun hat er die Karte. Er betritt das Foyer, zerschlissene rotsamtene Tapeten zeugen von besseren Tagen, zudem hängen hier noch mehr jener Bilder, solche allerdings, die für den Schaukasten draussen dann doch zu heiss sind. Thomas stösst die Flügeltür zum Vorführraum auf, lautes Stöhnen empfängt ihn, das aus knacksenden Lautsprechern in den Saal dringt.

Nur vier Zuschauerköpfe sind zu sehen, obwohl es sicher 200 Plüschsessel hat. Er setzt sich in einen davon. Weit weg von den anderen Pilgern. Nun nimmt er wahr, was auf der Leinwand vor sich geht. Die Figuren sprechen englisch, aber es gibt deutsche Untertitel.

Der Film ist in verwaschenen Technicolor-Farben gehalten, zeigt Risse und Brandlöcher, überspringt hin und wieder einige Bilder.

Eine Frau ist im Bild, riesengross, mit mächtigen Lockenkopf , ebenso mächtigen Brüsten, sie trägt ein schwarzes Seidennachthemd, das dort aufhört, wo ihre Beine anfangen, und die Brüste schwingen frei aus einem weit offenen, supertiefen Ausschnitt heraus.

Er trägt eine Sheriffuniform und sitzt in einem tiefen Sessel, sie kniet auf einem enorm breiten Bett, an dessen Fuss- und Kopfende geschwungene Metallgestelle angebracht sind, zur Zierde. «Sieht aus wie in einem kalifornischen Hotelzimmer», denkt Thomas.

«Los, zeig mir alles», verkünden die deutschen Untertitel, auf der Tonspur hört man derweil eine raue heisere Männerstimme.

Und, wahrlich, sie zeigt es, das kann sie ausserordentlich gut, sie führt ihm und dem Publikum alle Stellungen vor, die man in Sexmagazinen auf Fotos sieht, aber sie bewegt sich, stöhnt laut, «aaaah» und «ooooh», vollführt dazu Dinge mit ihren Händen, ihren Fingern, die bei Thomas erst recht physische Tatsachen schaffen.

Dann ihr Blick – wie hypnotisiert, unter zentimeterlangen falschen Wimpern. Und selig lächelt sie immerfort.

Schon steigt sie auf das Zier-Metallgestell am Fussende des Bettes, reitet es wie ein Pferd, hohe weisse Stiefel mit goldenen Nieten und ein breites Halsband gleicher Machart – «wie ein Hundehalsband», denkt Thomas – mehr trägt sie nun nicht mehr am Leib.

«Jetzt komm’ her», grunzt der Mann mit der Sheriffuniform, er hat sich eine dicke Zigarre angesteckt. Lasziv tänzelt sie auf ihn zu. «Auf die Knie», melden die Untertitel, wie eine Marionette tut sie alles, was ihr aufgetragen. «Schau mit in die Augen», «tiefer». Vorne im Bild ihr Gesicht, die Augen weit aufgerissen, der Mund voll, hinten ragt ihr fabelhafter Hintern in die Höhe – und, fast verschlägt es Thomas den Abend, sie wackelt auch noch gekonnt mit dem Prachtstück, während sie virtuos mit der Zunge, mit den Lippen arbeitet.

Alsbald zückt der Sheriff Handschellen, kettet die Lady an das geschwungene Metallgestell, welches nun plötzlich ganz praktisch wirkt, und macht Dinge mit ihr, gegen die sie anfänglich protestiert, die sie jedoch bald wieder verzückt stöhnen lassen.

Nun steigt Thomas ein bisschen die Schamröte ins Gesicht, aber das ist ihm diesmal nicht besonders unangenehm. Schliesslich sitzt er im Dunkeln.

Rotes Licht, Sonnenuntergang über dem Bahnhof, Thomas rennt dem Zug entgegen. Denn er hat sich heute Abend noch mit Luisa verabredet.

Seine Eltern sind nämlich bei Nicoles Eltern eingeladen. Skatabend.

Endlich kann unser Thomas Luisa auf sein Zimmer führen. Sie trinken Whisky aus der Hausbar seines Vaters «Derby Club», dazu hören sie Led Zeppelin, «Houses of the Holy».

Er hält ihr, der Jüngeren, einen Vortrag, darüber, was Freiheit bedeute, darüber, dass man sich von allen Hemmungen befreien müsse, dass die Welt danach anders aussehe, doch Luisa müsse ihm nun beweisen, dass sie wirklich frei sei.

Und was der schönen Dinge mehr sind.

Nach dieser Einleitung gelingt es ihm, Luisa zu einem Strip zu überreden. Es bereitet ihm Spass, ihr dabei zuzuschauen, aber sie macht es schon ein bisschen ungeschickt, vor allem mit den Jeans hat sie Mühe. Danach verlangt er die Sache mit dem Mund. Sie tut es. Bis zum Ende. Sie schaut ihm dabei nicht in die Augen, obwohl er sie dazu auffordert, auch kniet sie nicht ganz akkurat, um ihren Hintern für ihn in Szene zu setzen. Es wäre jedoch zu kompliziert, hier und jetzt korrigierend einzugreifen.

Immerhin tut sie etwas Aufregendes, das die Leinwandgöttin nicht getan hat, weil die gute alte Schmuddelfilm-Regel verlangt, dass der Höhepunkt des Mannes immer sichtbar stattfinden muss, sie schluckt alles.

Danach ist er zunächst hochzufrieden, doch später am Abend beginnen die Wünsche wieder in ihm aufzulodern. Die Lady auf der Leinwand hat es trotzdem noch viel besser gemacht. So eine müsste man haben.

Privat würde die ja sicher auch noch schlucken.

Doch schon fällt ihm diese weitere Sache ein, zu der er Luisa überreden könnte. Diese heiklere Sache eben, von der im Aufklärungsunterricht Mitte der Siebzigerjahre kaum gesprochen, vor der man höchstens gewarnt wird. Sogar im Film brauchte der Mann Handschellen, um die Lady dazu zu bewegen. In seinem Kopf beginnen sich die Argumente zu formen, die er an Luisa ausprobieren will. Eine plumpe Aufforderung –à la Bahnhofskino – würde wohl nicht genügen, auch Handschellen wären eher nicht hilfreich.

Das ist auch ganz gut so, schliesslich macht unserem Thomas das Überreden grossen Spass. Doch jetzt muss er wieder an Nicole denken, in die er ja so verliebt ist.  

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Autor: Christian Platz

Lebt in Basel. Arbeitet überall. Reist recht viel. Vor allem nach Asien. Und in den Deep South der USA. Verdient sein Geld seit über einem Vierteljahrhundert mit Schreibarbeiten. Vorher hat er als Pfleger in einer Irrenanstalt gewirkt. Hat mehrere Bücher veröffentlicht. Spielt seit 40 Jahren fanatisch Gitarre, zwischendurch singt er auch noch dazu. Schreibt unter anderem für Kult. Ist manchmal gut aufgelegt. Manchmal schlecht. Meistens so mittel. Sammelt Bücher, CDs, Filme, Artefakte. In einem psychisch leicht auffälligen Ausmass. Verfügt, bezüglich der Dinge, die er sammelt, über ein lexikalisches Wissen. Platz ist einerseits ein Wanderer auf dem Pfad zur linken Hand. Andererseits Neofreudianer mit Waffenschein. Liebt Blues und Voodoo, Rock'n'Roll und die schwarze Göttin Kali. Trinkt gerne Single Malt Whisky aus Schottland. Raucht Kette. Ist bereits über 50 Jahre alt. Macht einstweilen weiter. Trotzdem wünscht er nichts sehnlicher herbei als die Apokalypse.

WARNHINWEIS:
Dieser Mann tritt manchmal als katholischer Geistlicher auf, stilecht, mit einem besonders steifen weissen Kragen am Collarhemd. Dies tut er in gänzlich irreführender Art und Weise und ohne jegliche kirchliche Legitimation. Schenken Sie ihm - um Gottes Willen - keinen Glauben. Lassen Sie sich nicht von ihm trauen, ölen oder beerdigen. Lassen Sie sich von ihm keinesfalls Ihre Beichte abnehmen. Geben Sie ihm lieber Ihr Geld.

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