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Industrieschnee

Alle Pfade sind vereist, alle Wege krumm, alle Strassen führen nach Nirgendwo. Die Kälte dringt nun sogar durch die dicksten Mauern, keine Isolation, und sei sie noch so ausgeklügelt konstruiert, kann die Wärme mehr drinnen halten, in den Häusern, Gefängnissen, Regierungsgebäuden.

Liebe und Hass haben sich gegenseitig durchdrungen, sind zu einem homogenen Amalgam verschmolzen, man kann sie nicht mehr voneinander unterscheiden.

Die Sprache kennt nur noch Zweideutigkeiten. Je glatter ihre Oberfläche, desto tiefer die Abgründe, die sich darunter auftun.

So ein Menschenleben ist bloss noch ein flüchtiger Hauch, der sich auflöst. Im Nichts.

Denken wir nur an meinen lieben Vetter Tuni, ein Mondgesicht, der dann einsam krepiert ist, vor Jahren. Ein tragischer Fall.

Tuni, das alte Haus, wie die Leute sagten, er selbst sagte zu sich «alter Trottel», hatte noch nie den Blutmond gesehen. Die Sicht darauf ward ihm immer durch Wolken versperrt.

Fremdes Blut

Dabei liebte er das Blut, nicht unbedingt sein eigenes, im direkten oder übertragenen Sinn, sondern fremdes Blut, das war aus seiner Sicht interessanter.

Tuni sass auf der Strassenbank und dachte an jenen unglückseligen Brief, den er jener wundervollen Dame geschickt hatte, die er einst in Tijuana kennengelernt, im Rahmen eines Vortrags über Kindermumien.

Es war ein ehrlich gemeinter Brief gewesen, vielleicht ein wenig schleimig formuliert.

Letzteres würden allerdings nur Leute denken, die unrettbar dem Massengeschmack verfallen sind. Für Tuni war dieses Schreiben durchdrungen von wertvollstem Herzblut, seinem Blut.

«Das sollte doch auf Interesse stossen», dachte sich das alte Haus.

Aber er hat nie eine Antwort erhalten. Dies fand er, angesichts seiner Formulierungen im Brief, nur recht und billig – und am Ende schämte er sich sogar für das Schreiben, der Arme.

Alsdann reflektierte Tuni weiter. Über die glorreichen Tage seiner persönlichen Vergangenheit, die eine unstete gewesen war, so viel ist gewiss, ja eine dreckige.

Doch unser Tuni konnte zwischen dreckig und sauber halt nicht richtig unterscheiden, zwischen Pizzeria und Toilette, zwischen Teetrinken und Koitus auf dem Küchentisch, zwischen gemütlichem Zusammensein und hemmungslosem Hintenrein.

Sie hatten es ihm in seinen Kindertagen nie beigebracht – und später hat er es halt auch nicht mehr gelernt.

Unschuldig!

Er war also – trotz all jener dreckigen Geschäfte und schmutzigen Angelegenheiten, die sein Leben durchzogen, den kräftigen weissen Fettstreifen gleich, wie sie einen guten Speck durchziehen – gewissermassen unschuldig.

Und dies war nun endlich ein Wort, mit dem er etwas anfangen konnte: Unschuldig!

Trotzdem hat er am Ende leider blutigen Suizid verübt, wegen etwas anderem.

«Ja dann, ja dann…», war der Kommentar unserer Sippenältesten – das sind übrigens alles sexy junge Damen, die immerzu lediglich rosa Unterhöschen tragen, von der durchsichtigen Sorte, wir nennen sie bloss aus Tradition «die Ältesten» –, als sie von seiner Selbsttötung erfahren haben. Gegen Kälte sind diese Sippenältesten übrigens komplett unempfindlich.

Doch es gibt auch bessere Tage, selbst in den Zeiten des Untergangs. Zum Bespiel heute.

Vorne rein

Schlafen im Motel, Leben auf der Strasse, immer mit einem Kugelschreiber in der Innentasche meines grauen Kittels, einem Messer in dessen Seitentasche, nebst einem blanken Stück Papier, für Notizen, die ich nie mache, immer drei, vier vorgebaute Joints in einem der drei Zigarettenpäckchen, die – nebst dem Feuerzeug – zu meiner Standardausrüstung gehören.

Und natürlich eine .357 Magnum im hinteren Hosenbund, manchmal stecke ich sie sogar vorne rein, je nach Bedarf. Bin schliesslich paranoid. Auch das muss sein, auch das ist modisch.

Vielleicht werde ich ja einmal jenen greisen Schriftsteller erschiessen, der mich immer so böse anstarrt…

Ich treffe sie. Plötzlich ist sie da. Im Taschenlampenfachgeschäft. Blond. Blowjob-Augenaufschläge. Lasterhafter Zug um die Lippen. Während des kurzen Gespräch, das sich entspinnt, beim Warten an der Kasse, es herrscht Grossandrang heute, schliesslich wird der Laden in 24 Stunden für immer geschlossen sein, die Feuertage stehen auch gerade vor der Tür, kommt es zu einer blitzartigen gegenseitigen Sympathieübertragung, deren Macht uns in ein Café drängt.

Das passiert mir sonst nie.

Sie ist so intelligent, sie erzählt so schön – und dieses Lächeln, dieser Allerwerteste. Beim Öffnen der Tür zum Café, ihr charmant den Vortritt lassend, konnte ich ihn ausführlich betrachten. Sie hat es bemerkt – und mir einen frivolen kleinen Schwung ihres Hinterns als Signal geschenkt.

Wir quatschen, zum Espresso, zur Latte, zum Irish Coffee. Und dann lädt sie mich unvermittelt in ihr Logis ein. Kaum kann ich es glauben.

In den Vorstädten

Als wir dort ankommen, sie wohnt weit draussen, in den Vorstädten, ist es schon dunkel. Und der Schnee hat die Welt begraben. Es ist grauer, hässlicher Schnee. Industrieschnee.

Schon sitzen wir in ihrem Wohnzimmer, es ist zwar keineswegs warm, daran haben wir uns ja alle schon vor geraumer Zeit gewöhnt, aber gemütlich. Wir rauchen einen Joint. Dann sagt sie: «Warte ein bisschen auf mich, im Dunkeln». Sie löscht das Licht, verlässt den Raum.

«Leuchte mich an»

Ich warte geduldig, meine Zigaretten sind meine Lichter, meine Heizung sind sie ebenfalls.

Meine Gedanken wandern hinaus, in die Felder der Indifferenz.

Plötzlich betritt sie das Zimmer wieder – und sagt, mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldet: «Pack deine Taschenlampe aus, leuchte mich an.» Da steht sie. Im Lichtkegel. Sie trägt das Chloe Dessous Set von Anais, in Rot, dazu Stiletto-Overknee-Stiefel von DOK 136, die sie höchstselbst mit Totenmännchen bemalt hat.

«Sing mir ein Lied», haucht sie, «und ich zeige Dir Dinge, die Du nie vergessen wirst».

Ich singe also: «Song for Europe» von Roxy Music. Sie zeigt sich, oh du mein Heiliger Satansbraten, wie intensiv sie sich zeigt, ich singe, sie kommt auf mich zu…

Dann: Heilige Nacht.

Ich bete. Zu meiner Heiligen Schwarzen Schutzengelin, die über eine freche Zunge verfügt, die sie der Welt gerne entgegenstreckt. Eigentlich ist sie sogar Gott, also allmächtig, aber das ist jetzt gerade Nebensache.

Denn alle Pfade sind vereist, alle Wege krumm, alle Strassen führen nach Nirgendwo.

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Autor: Christian Platz

Lebt in Basel. Arbeitet überall. Reist recht viel. Vor allem nach Asien. Und in den Deep South der USA. Verdient sein Geld seit über einem Vierteljahrhundert mit Schreibarbeiten. Vorher hat er als Pfleger in einer Irrenanstalt gewirkt. Hat mehrere Bücher veröffentlicht. Spielt seit 40 Jahren fanatisch Gitarre, zwischendurch singt er auch noch dazu. Schreibt unter anderem für Kult. Ist manchmal gut aufgelegt. Manchmal schlecht. Meistens so mittel. Sammelt Bücher, CDs, Filme, Artefakte. In einem psychisch leicht auffälligen Ausmass. Verfügt, bezüglich der Dinge, die er sammelt, über ein lexikalisches Wissen. Platz ist einerseits ein Wanderer auf dem Pfad zur linken Hand. Andererseits Neofreudianer mit Waffenschein. Liebt Blues und Voodoo, Rock'n'Roll und die schwarze Göttin Kali. Trinkt gerne Single Malt Whisky aus Schottland. Raucht Kette. Ist bereits über 50 Jahre alt. Macht einstweilen weiter. Trotzdem wünscht er nichts sehnlicher herbei als die Apokalypse.

WARNHINWEIS:
Dieser Mann tritt manchmal als katholischer Geistlicher auf, stilecht, mit einem besonders steifen weissen Kragen am Collarhemd. Dies tut er in gänzlich irreführender Art und Weise und ohne jegliche kirchliche Legitimation. Schenken Sie ihm - um Gottes Willen - keinen Glauben. Lassen Sie sich nicht von ihm trauen, ölen oder beerdigen. Lassen Sie sich von ihm keinesfalls Ihre Beichte abnehmen. Geben Sie ihm lieber Ihr Geld.

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