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Der permanente, der uferlose Moment

So fährt mein Zug geradewegs ins Herz von Mutter Mitternacht hinein, mit 180 Stundenkilometern durch die Dunkelheit, gebündelte elektrische Kraft, dem Bahnhof entgegen, der am Rande jener uralten Hauptstadt platziert wurde, deren Uhren permanent die Stunde 00.00 anzeigen.

Hier lebt und arbeitet ein Stationsvorsteher. In tiefster geistiger Umnachtung. Eine häufige Krankheit in dieser uralten Stadt, welche in seinem Fall noch verfinstert wird, durch eine Gewohnheit, pflegt er sich doch in einem immer-währenden Zustande der Betrunkenheit zu erhalten, stets an der Grenze zur finalen, zur tödlichen Dosis Alkohol.

Doch niemals darüber hinaus.

Wie einst der Herzog von Blangis, der ja auch ein mächtiger Feind aller Tugend gewesen sei.

Die Bauten dieser Hauptstadt, die im Zentrum des Herzens von Mutter Mitternacht liegt, weisen keine Fenster auf. Zu tief, zu abscheulich, ja unaussprechlich sind die Geheimnisse, welche die Mauern bergen, an denen Blut klebt und Sekrete aller Art hinunterlaufen, vermischt mit Tränen.

Diese Säfte vereinigen sich zu jenem klebrigen Cocktail, den Mutter Mitternacht immerzu zu schlürfen pflegt…

…in Erwartung einer blauen Stunde, die niemals, niemals, niemals anbrechen wird.

Das geographische Zentrum des Planeten Neptun im Winter ist wohl ein ganz gemütlicher Ort, wenn man es in Relation zu jener Hauptstadt unter dunklem Himmel setzt. Hier werden luftig-libidinöse Fantasiegebilde zu unerbittlich-schwerem Fleisch, hier manifestieren sich verborgene, tollwütige Wünsche in Raum und Zeit, in Qual und Leid. Unaufhörlich.

Die Opfer werden dabei ohn’ Unterlass schikaniert, ohne in jenem Meer des Todes versinken zu dürfen, das immerhin alles auflösen könnte.

Schikaniert. Von Tätern, angetreten, ihre Untaten zu geniessen, die hier aber zu permanenter Aktion verdammt sind, welche keinen Abschluss kennt, keine Ermattung nach vollendetem Lustvergehen, welches hier natürlich immer wider jeden Konsens zur Ausführung gelangt: Permanente Aktion unter dem Banner der Übertretung, bar jeder Erlösung. Derart ermüdend, so anstrengend, dass die Taten lediglich noch verzweifelte, seelenlose, quasi maschinelle Aufführungen darstellen.

Unter denen die Täter genauso leiden wie die Opfer.

Hauptstadt im Herzen von Mutter Mitternacht, wo die vier lasterhaften Mönche das arme junge Ding Justine und ihre Leidensgenossinnen unaufhörlich traktieren, ohne Ruhepausen. Einem mechanischen Uhrspiel gleich, das einen ewigen, einen pausenlosen Tanz der schmerzhaften Passionen, der bittersüssen fleischlichen Ausschweifungen vollführt, zu dem ein trauriges kleines Lied erklingt, es besteht aus 666 Takten, das – sobald es geendet hat – immer und unverzüglich wieder von vorne beginnt.

Dieses Uhrspiel verkündet ausschliesslich jene eine Stunde: 00.00 Uhr.

Perpetuum Mobile der Grausamkeit.

In dieser dunklen Hauptstadt spielt jener irdische Zeitpfeil nämlich keine Rolle, der ja immer derart hastig von der Vergangenheit in die Zukunft rast, dass die Gegenwart kaum Zeit erhält, sich zu entfalten. Hier dehnen sich die Geschehnisse in die Breite aus, folgen keinem chronologisch Ablauf.

Hier herrscht der permanente, der uferlose Moment. Ein Umstand, der alle Ereignisse zu einem Reigen der Repetition formt. Zu endlos aneinander gereihten Routinen, einige davon dauern kürzer, andere länger, die allesamt Kombinationen darstellen, aus Versatzstücken geformt, die sich bereits seit Anbeginn der Existenz permanent wiederholen. Eine nimmer endende, recht elende Parade von Revuenummern. Ohne Finale. Und weil Mutter Mitternacht auch die grosse, scharlachrote Madame Babylon ist, sind hier alle Nummern exakt an jener Grenze angesiedelt, wo unerträgliche Lust und unerträglicher Schmerz aufeinander treffen – zwei Seiten der gleichen Medaille –, physisch aufeinander treffen.

Inmitten einer Klanglandschaft, die aus Schmerzensschreien, flehentlichen Klagen, verzweifelten Bitten, unerbittlichen Befehlen und gotteslästerlichen Flüchen gewirkt ist.

Dergestalt sieht die Lust von Mutter Mitternacht aus, die über den Dächern ihrer Hauptstadt auf ihrem Diwan thront, bedient, umsorgt, verwöhnt von Sklavengeschöpfen beider Geschlechter, die entweder unbekleidet sind – oder derart aufreizend knapp kostümiert, dass interessante Körperstellen halt noch unbekleideter wirken, als wenn sie bloss nackt, wenn sie bloss unbekleidet im Kontext von nackt wären. Mutter zieht den Dampf der zeitlosen Ausschweifungen, der aus dem durch Laster aufgeheizten Stadtkörper zu ihr emporsteigt, genüsslich in ihre geräumigen Nasenlöcher.

Um sich dann wieder einen tiefen Zug aus ihrer Opiumpfeife zu genehmigen. Ja. Mutter Mitternacht geniesst den Lustschmerz, die Schmerzlust ihrer Kreaturen. Eine Lust, die hier mehr Ewigkeit erhält. Weitaus mehr. Als die Kreaturen es jemals angestrebt haben. Eine Lust, die nur noch enden will.

Mein Privileg: Ich bin hier bloss ein Durchreisender. Ein Zugpassagier, der ein Stündchen verweilen darf.

Ich nehme einen St. George Absinthe Verte im Bahnhofsrestaurant. Ich werde von einer Servierdame bedient, die den Skye Open Cup Lace Teddy von Frederick’s trägt. Und mich dazu ermuntert, allerlei unanständigen Schabernack mit ihr zu treiben – auf Geheiss der Wirtin.

Danach stromere ich in der geräumigen Bahnhofshalle herum. Hier kann ich den Stationsvorsteher dabei beobachten, wie er ängstlichen Wesen, Schwarzfahrerinnen, die ihm von Zugbegleitern ausgeliefert wurden, allerlei hochnotpeinliche Zurschaustellungen und Gefälligkeiten abnötigt, in aller Öffentlichkeit.

Mit dem Versprechen, dass er die Ladies, nach befriedigender Ausführung seiner vielfältigen, von einem lüsternen, grausamen, unersättlichen Hirn, das am Rande des Imbezilen agiert, ausgeklügelten Anliegen, mit dem nächsten Zug weiterfahren lasse.

Ich weiss aber, dass sie niemals weiterfahren werden, dass sie unter einem der Dächer der fensterlosen Bauten dieser uralten Hauptstadt verschwinden werden; vielleicht als Verstärkung für das arme junge Ding Justine und ihre Leidensgenossinnen. Als Spielzeuge jener vier legendären lasterhaften Mönche: Frater Sévérino, Frater Antonin, Frater Clément, Frater Jérôme.

Denn merke; wer als blinde Passagierin, als blinder Passagier in dieser Hauptstadt landet, bleibt hier gestrandet und muss sich einordnen. In den ewigen Schüttel-Reigen der Transgressionen.

Nicht so ich. Ich habe nicht nur ein Billet für diese eine Zugreise. Ich besitze einen Dauerfahrschein, Erste Klasse, von der Firma bezahlt. Weil ich im Auftrag von Therion Bros. & Co. unterwegs bin, jenem berühmten Traditions-Herstellerhaus hypnosexueller psychedelischer Drogen. Deshalb steige ich nach einer Stunde wieder in mein gemütliches Luxusabteil und schlage mein Buch auf, das zweite Seminar von Jacques Lacan.

Seite 163. Ich lese: „Was mag wohl die Erinnerung an etwas sein, das derart ausgelöscht ist, die Erinnerung einer Erinnerung?“

Zufrieden flatuliere ich in meinen gepolsterten Passagiersessel, bevor ich weiterlese.

Ich schenke mir ein Glas Whisky ein. Bunnahabhain Tantalus. Der Zug nimmt wieder Fahrt auf, rast durch die Wüsten der Nacht, durch ihre tiefsten Ebenen. Jenseits von 00.00 Uhr. Nächste Station wird der Bahnhof des Reichs der Göttin der Morgenröte sein, der ganz isoliert auf einem Höhengrat des mächtigsten Gebirges dieser Welt steht, in lupenreinem Bauhaus-Stil gestaltet.

So werde ich den kräftigen, den taufrischen Körper der Göttin aus dem Wolkenmeer emporsteigen sehen. Eine Stunde lang. In herrliches rotes Licht getaucht. Sie wird nur mit einer leichten, fast durchsichtigen, leuchtend orangen Schleppe bekleidet sein, die im Winde einer besseren Zukunft weht. Mit ihrem Schwert wird die Göttin der Morgenröte alle Gespenster der Nacht verscheuchen, ihr Licht über den Planeten entsenden.

So manche Sünde sieht im gleissenden Tageslicht halt schon noch etwas besser aus…

…als unter den Gaslaternen der Nacht. Ich kann das beurteilen, bin ich doch ein erfahrenen Passagier.

Und glücklich ist, wer reisen darf!

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Autor: Christian Platz

Lebt in Basel. Arbeitet überall. Reist recht viel. Vor allem nach Asien. Und in den Deep South der USA. Verdient sein Geld seit über einem Vierteljahrhundert mit Schreibarbeiten. Vorher hat er als Pfleger in einer Irrenanstalt gewirkt. Hat mehrere Bücher veröffentlicht. Spielt seit 40 Jahren fanatisch Gitarre, zwischendurch singt er auch noch dazu. Schreibt unter anderem für Kult. Ist manchmal gut aufgelegt. Manchmal schlecht. Meistens so mittel. Sammelt Bücher, CDs, Filme, Artefakte. In einem psychisch leicht auffälligen Ausmass. Verfügt, bezüglich der Dinge, die er sammelt, über ein lexikalisches Wissen. Platz ist einerseits ein Wanderer auf dem Pfad zur linken Hand. Andererseits Neofreudianer mit Waffenschein. Liebt Blues und Voodoo, Rock'n'Roll und die schwarze Göttin Kali. Trinkt gerne Single Malt Whisky aus Schottland. Raucht Kette. Ist bereits über 50 Jahre alt. Macht einstweilen weiter. Trotzdem wünscht er nichts sehnlicher herbei als die Apokalypse.

WARNHINWEIS:
Dieser Mann tritt manchmal als katholischer Geistlicher auf, stilecht, mit einem besonders steifen weissen Kragen am Collarhemd. Dies tut er in gänzlich irreführender Art und Weise und ohne jegliche kirchliche Legitimation. Schenken Sie ihm - um Gottes Willen - keinen Glauben. Lassen Sie sich nicht von ihm trauen, ölen oder beerdigen. Lassen Sie sich von ihm keinesfalls Ihre Beichte abnehmen. Geben Sie ihm lieber Ihr Geld.

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