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Tournee der toten Seelen

Wo die Welt war, da waren wir nie. Wir mischten uns schon unter die Menschen, um ihnen einen gehören Schrecken einzujagen, mit unseren Zurschaustellungen im Zeichen des Zwielichts, unseren Afterkünsten, Bestialitäten.

Separat lebten wir, entfernt von den Leuten und ihren Problemen, wenn wir nicht gerade eine unserer Aufführungen hinlegten.

Geld haben sie uns sogar dafür gegeben, Sold, den wir nie brauchten.

Bezahlt haben sie uns, weil wir mit unserem obszönen kleinen Varieté und seinen kitzligen Nummern, die immer auf Messers Schneide balancierten, zwischen Eros und Thanatos, Futter in jene Löcher stopften, die in den Seelen unserer hochverehrten Zuschauerinnen und Zuschauer klafften.

Ja, die alte Welt, jene vergangene, war ein herrlicher Jagdgrund für uns fahrende Artisten. Wir reisten auf verschlungenen, auf obskuren Pfaden, ein buntbemalter Wagen-Konvoi unter grauem Himmel, auf dem Zwischenweg, wir wählten unsere Spielorte dergestalt aus, dass sie Sternzeichen ins Land brannten.

Denn überall, wo wir auftraten, kochten alsbald die Gemüter, brannten die Lenden.

Eva zum Beispiel, die mit dem prächtigen braunen Haarschopf, und Hiob, ein Hengst aus der wilden Prärie, führten formidable Freikörperkünste auf, reich an wahnwitzigen Stellungen, geschickten Übergängen, die dem staunenden Publikum den kollektiven Atem raubten und manchen die Schamröte ins Gesicht trieben, auch Zelte wuchsen unter Hosentüren, zudem wurden Stoffe angefeuchtet.

Die Dinge, die sie auf unserer kleinen Bühne sahen, die betörende Musik, die sie dazu hörten, hatten die Leute sich vorher noch nie ausgemalt. Nicht einmal in jenen einsamen Momenten, in denen sie alleine an ihren verborgenen Teilen herumspielten, hatten sie solche Ausschweifungen imaginiert.

Es wäre ihnen auch nie in den Sinn gekommen, solche Dinge zu verlangen, in jenen intimen Momenten, die sie mit jemandem alleine verbrachten.

Aber nun hatten sie dieses Neue, Aufregende gesehen, nun wünschten sie es sich auch.

Da war Laura, Augen wie Flutlichter in der Nacht, mit ihren ausgefallenen, glitzernden, ganz und gar unanständigen Kostümen, ihrem Tanz, bei dem das Interessante immer von neuem gezeigt und wieder verborgen wurde. Am Ende stellte sie dann genüsslich alles zur Schau. Lediglich jene weiss-goldenen Schnürstiefel, die bis zu den Oberschenkeln reichten, blieben an ihren Beinen.

Sie zeigte alles, also eigentlich nichts, was die Zuschauerinnen und Zuschauer noch nie gesehen hätten, aber sie zeigte es auf eine Art und Weise, die wie Honig war, die in Hirnwindungen kleben blieb, Begehren schuf.

Ja und dann diese Spezialvorführung der beiden starken Männer Ene und Eber, eine Seemannsnummer, sehr männlich, athletisch, Salzwasser sprühend, mancher zugeknöpfte Junghans im Publikum weinte eine heimliche Träne, aber auch manche Mamsell fühlte sich wohlig inspiriert.

Annalinde und Sappho gaben flugs das Gegengewicht dazu, dies erst noch am Trapez hängend, eingeölte Amazonen der Arena, extra vergine.

Claude und Camilla waren auch noch da, mit einer Dressurnummer, er animierte sie zu Kunststücken, sie führte diese mit sichtlichem Vergnügen aus – und was sie da alles geschickt und unverdrossen auf die Bretter brachte… unglaublich.

Zum Finale am Ende, Du glaubst es nicht, sind wir dann alle zusammen aufgetreten, in einer choreographierten, durchinszenierten Abschlussnummer mit Kollektivem Happy End, unter jenen magischen Theaterlichtern, die blanke Haut in Farben tauchen.

Es war eine Kavalkade der kecken Kunststücke.

Jede Gemeinde, die wir besuchten, war danach nicht mehr dieselbe. Die Leute, die nach der Vorstellung paarweise nachhause gingen, vollführten dort plötzlich seltsame Dinge, bei Licht, die sie vorher nur im Dunkeln getan hatten. Und länger dauerte es als sonst.

Jene, die ihren Heimweg alleine antraten, schmiedeten Pläne, ernsthaft wollten sie nun jemanden kennenlernen, um jene Wünsche, die nun so plötzlich in ihnen gewachsen waren, in fleischliche Realitäten umzusetzen, was ihnen auch innert kurzer Frist gelang, da alle im Ort von der Schau verzaubert waren – und diese Inspirationen am eigenen Fleisch erfüllen wollten.

Bald schon taten sie nichts anderes mehr. Wo vorher das Geld verdienen durch harte Arbeit an allerersten Stelle gestanden hatte, da standen nun die Glieder und süsse Wasser flossen aus den Scheiden – wie herrliche Bergbäche im Frühling, während der Schneeschmelze.

Es waren ein stetiges Stöhnen, ein lauwarmer Fleischsalat.

Und die Frucht verdorrte auf den Feldern, die Brunnen versiegten, die Viecher verendeten. Sie trieben es, die lieben Leute, miteinander, bis sie alle vor Erschöpfung starben – und ihre Kinder flüchteten in die Wüste, wo sie von Nomaden aufgelesen wurden, zur Sklaverei verdammt.

Und das alles nur, weil die lieben Leute ein Varieté-Programm gesehen hatten. Unser Varieté.

Dennoch fahren wir weiter, sind wir doch Vampire, Wiedergänger, Motten des Bühnenlichts. Nun spielen wir halt vor leeren Rängen, uns ist es einerlei; unsere endlose Tournee der toten Seelen.

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Autor: Christian Platz

Lebt in Basel. Arbeitet überall. Reist recht viel. Vor allem nach Asien. Und in den Deep South der USA. Verdient sein Geld seit über einem Vierteljahrhundert mit Schreibarbeiten. Vorher hat er als Pfleger in einer Irrenanstalt gewirkt. Hat mehrere Bücher veröffentlicht. Spielt seit 40 Jahren fanatisch Gitarre, zwischendurch singt er auch noch dazu. Schreibt unter anderem für Kult. Ist manchmal gut aufgelegt. Manchmal schlecht. Meistens so mittel. Sammelt Bücher, CDs, Filme, Artefakte. In einem psychisch leicht auffälligen Ausmass. Verfügt, bezüglich der Dinge, die er sammelt, über ein lexikalisches Wissen. Platz ist einerseits ein Wanderer auf dem Pfad zur linken Hand. Andererseits Neofreudianer mit Waffenschein. Liebt Blues und Voodoo, Rock'n'Roll und die schwarze Göttin Kali. Trinkt gerne Single Malt Whisky aus Schottland. Raucht Kette. Ist bereits über 50 Jahre alt. Macht einstweilen weiter. Trotzdem wünscht er nichts sehnlicher herbei als die Apokalypse.

WARNHINWEIS:
Dieser Mann tritt manchmal als katholischer Geistlicher auf, stilecht, mit einem besonders steifen weissen Kragen am Collarhemd. Dies tut er in gänzlich irreführender Art und Weise und ohne jegliche kirchliche Legitimation. Schenken Sie ihm - um Gottes Willen - keinen Glauben. Lassen Sie sich nicht von ihm trauen, ölen oder beerdigen. Lassen Sie sich von ihm keinesfalls Ihre Beichte abnehmen. Geben Sie ihm lieber Ihr Geld.

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