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Der Tag als Sex starb

Die Büros von TerraPorn lagen auf einem ehemaligen Fabrikgelände in Zürich, das von immer mehr jungen und hippen Firmen belebt wurde, hier wurden Apps entwickelt bis der Arzt kommt, Dachgärten begrünt, bis es dem armen Medizinmann schlecht wurde und an jeder Ecke konnte sich der aufstrebende Webdesigner seinen Bart büscheln lassen. An diesem frühen grauen Montagmorgen war das Gelände wenig belebt, nur wenige Elektro-Trottinetts oder Velos waren an die Backsteinwände gelehnt und auch im Bus hatte Marisa mehr als genug Platz gehabt.

Die 25-Jährige hatte den Job widerwillig angenommen, sie hielt Pornografie für schmuddelig, obwohl sie Sex mochte, doch sie mochte es weniger, wenn fremde Bilder eigene Phantasien  überdeckten. Dazu war ihr in den Jahren, die sie hier gearbeitet hatte mehr und mehr bewusst geworden, dass sie ein kleines, dreckiges Geheimnis hatte: Als Katholikin mit einer portugiesischen Mutter glaubte sie an Gott. Nicht, dass sie es gegenüber ihren Freunden zugegeben hätte, aber sie mochte es manchmal sogar in den Gottesdienst zu gehen.

Schmuddeliger als die Pornoindustrie ging es fast nicht mehr, was aber nicht hiess, dass der Arbeitsbeginn zum Leidwesen von Marisa doch nicht recht früh gewesen wäre. Als globales Unternehmen, Sex war universal, war TerraPorn so strukturiert, dass die Büros in Zürich waren, eine riesige Serverfarm in Sibirien betrieben wurde und die Stiefmutterfilme weltweit eingekauft wurden. Obwohl ihr Boss Terry tief im Geschäft mit allen Stiefmüttern, Stiefschwestern undsoweiter steckte, blieb Marisas Arbeit erstaunlich trocken. Im Grunde hätte sie in irgendeiner international tätigen Handelsfirma arbeiten können, die ihr Geschäft aufs Internet konzentrierte.

Es lag in der Natur der Sache: Die ganzen Filme mit poetischen Titeln, wie: «Erwischt, Stiefmutter hilft ihm aus, anal!» waren bei Terra Porn ein Mittel zum Zweck, ein Produkt wie ein Bier oder eine Banane, allein dazu da, um den Profit zu maximieren. In den Züricher Büros gab es zwar eine «kreative» Abteilung, doch hier wurden auf eben kreative Weise eher harmlose Trailer und Werbeeinspieler zusammengeschnitten in welchen meist nur wenig nackte Haut zu sehen war. Davon bekam man nicht viel mit, wenn man sich von den Schnitträumen fern hielt. Mit Marisas Alltag hatte Pornografie nicht viel zu tun. Als Sekretärin beschäftigte sie sich mit Zahlen, sammelte Protokolle aus aller Welt und fasste sie für Terry zusammen.

Heute war sie früh dran, darum waren die Büros noch verlassen. Marisa wusste nicht, ob sie es sich einbildete, doch seit einigen Wochen hatte sie das Gefühl in den Gängen spukten graue Ängste vor dem Untergang herum. Erste Vorzeichen waren aus Kalifornien gekommen. Eine Filmproduktionsfirma mit dem farbenfrohen Namen «GangBangBros Ltd.» hatte in einem Memo geschrieben, dass sich die Darsteller weigerten Sex zu haben, man habe es mit Viagra und Koks versucht, ihnen sogar mehr Geld geboten, aber dennoch habe es nicht geklappt, sie dazu zubringen den Geschlechtsakt zu vollziehen. Da Marisa gelernt hatte, dass sie in einer in jeder Beziehung knauserigen Branche arbeitete, erzählte sie Terry davon, dass die Produzenten es «sogar mit mehr Geld» versucht hatten.

Terry, der sich für eine Abteilungsleitersitzung in Schale geworfen hatte und dauernd den Sitz seiner Krawatte prüfte, meinte nur: «Das macht mir keine Sorgen, im Notfall werden es die Russen schon richten.» Auf Terrys mittelgrossem Schreibtisch lag zehn vorbereitete Dossiers, die die Zukunft und die Vision der Stiefmutter-Reihe darlegten. Seit Jahren war es das Ziel ihres Chefs «die Freunde des Analen» auszustechen und endlich clickmässig an ihnen vorbeizuziehen. Je mehr Clicks die Stiefmütter bekamen, umso besser liess sich die Werbung verkaufen und umso mehr stieg Terrys Ansehen in den Augen der Bosse von TerraPorn.

Vielleicht war es nur ein wildes Gerücht, doch hiess es hinter vorgehaltener, dass neben den grossen amerikanischen Konzernen wie etwa Amazon oder Alphabet auch der Vatikan stark in die Muttergesellschaft von TerraPorn investiert hatten, die neutraler TerraCom hiess und ihren Hauptsitz in der amerikanischen Steueroase Colorado hatte. In den letzten zwei Wochen hatte sich herausgestellt, dass es die «Russen» auch nicht hinbekommen hatten: Auch dort hatten weder Viagra noch Geld geholfen, die Darsteller dazu zu bringen, eine abfilmbare Nummer zu schieben. Zuerst war Terry noch ruhig geblieben und hatte nur selbstbewusst gemeint, so würden es halt die Amateure richten. «Es gibt genug Spinner, so dass wir die Plattform bespielen und für Traffic sorgen können, vielleicht müssen wir die Qualität ein bisschen senken, aber das geht schon.»

Terry brauchte ihr nicht zu erklären, dass der Pornokunde ein rastloser Genosse war, der immer wieder neue Filmchen brauchte, er, der Pornokunde clickte sich durch ein paar Videos, sah sie vielleicht eine halbe Minute an, um dann zur nächsten Stiefmutter zu surfen und dies so lange, bis er den passenden Schmuddel gefunden hatte und zwar nicht wirklich befriedigt, aber vorerst zufrieden war.

Terrys Ruhe endete mit dem Einbruch. Der Einbruch der Clickzahlen hatte das Gesicht von Raphael. Er betreute eine Unterseite, die sich mit der Oma-Thematik beschäftigte und er klopfte an Terrys Tür, weil dieser den aus Golfgründen abwesenden Direktor vertrat. Raphael entsprach dem Klischee, er sah aus, wie ein echter Perverser und war in jeder Kaffeepause für einen grenzwertigen Spruch gut. Kein Wunder vielleicht, wenn man bei TerraPorn arbeitete und Oma-Pornofilme einkaufte und daneben «Schwanzvergrösserungsinserate» plazierte. Immer, wenn sie Raphael traf, machte sich Marisa Sorgen um ihren sozialen Status und studierte für den Rest der Woche Stelleninserate. Typen, wie ihn konnte sie einfach nicht mit ihrem Selbstbild vereinbaren.

«Die Clicks sind weg, sie sind verschwunden, zuerst dachten wir, es sei ein technisches Problem oder das Tracking stimmt nicht. Wir haben es drei Mal geprüft und wir müssen sagen, die Clicks sind weg. Die Seite ist tot, wir haben noch ein paar Zufallstreffer, aber die bleiben nicht auf der Seite. Es ist jetzt den dritten Tag schon so.»

Terry starrte auf den bleichen Mann mit dem heraushängenden grünen Holzfällerhemd und es sah so aus, als dächte er darüber nach, wann der Mensch, der ihm gegenüber stand, das letzte Mal geduscht hatte. Normalerweise gab sich Marisas Chef gerne dynamisch und entschlosssen, wenn er den Direktor vertrat und hatte normalerweise auch die gedankliche Schnelligkeit, um genauso zu wirken.

«Hör’ mal, sie sind verschwunden, sie sind weg. Niemand kommt auf die Seite!», erklärte Raphael, der bleicher und perverser als sonst wirkte ein zweites Mal. In einer Welt der Clicks, auf der Datenautobahn, in der es auf religiöse Weise um Reaktionszeiten und Traffic ging, war das eine Aussage, die so unvorstellbar war, wie wenn man dem Papst erklärt hätte, der Beweis läge vor, dass Gott tot sei.

Noah war ein Schönling, der eine Hornbrille trug und damit durchkam, trotz Jugend und disziplinierten Hipsterklamotten, also engen Hochwasserjeans mit freier Sicht auf gebräunte Fussknöchel zu jeder Jahreszeit, aber er war nicht nur ein Schönling, bei Terraporn galt er als «Wissender», was Technik und Internet anging. Terry, der Raphaels Geschichte nach wie vor nicht über den Weg traute, bat Marisa abzuklären, ob es Probleme mit Unterseiten oder mit dem Tracking gebe, Marisas Chef wollte auf keinen Fall den Direktor beim Golf stören, wenn es keinen guten Grund gab. Während die Oma-Schiene kaum als Blockbuster oder als übermässig sexy galt, so war der Bereich doch ein verlässlicher Click-Lieferant, der einen Werbemarkt öffnete, der begehrt war. In den Worten von Terry: «Da kannst du jeden Scheiss verkaufen». Vor allem Bordelle, dubiose Bars und schlecht aufgezogene Escortservices wussten das Oma-Werbemfeld zu schätzen und das weltweit.

Normalerweise hätte Terry ein Mail geschickt, in dem er den Datenanalysten Noah um eine Meinung zum Problem gebeten hätte. Aber wie selbst der Putzfrau und dem Hausmeister beim Internetgiganten TerraPorn klar war, Daten hinterliessen Spuren und manchmal war es besser, einen einfacheren, direkteren Weg zu gehen. Deshalb sah Marisa ein paar Büros weiter zu, wie Noah verschiedene Datenbanken aufrief, die Funktionalität von Servern in Sibirien überprüfte, während er gleichzeitig noch irgendetwas auf seinem I-Phone abfragte. Die drei riesigen Bildschirme zeigten ein Resultat, dass selbst Marisa auf den ersten Blick verstand: Die Server in Sibirien waren gut gekühlt, ihre Leistung war maximal, auf einem zweiten Bildschirm war der aktuelle Traffic auf TerraPorn zu sehen und da war nichts los. Das war nicht gut, denn keine Clicks hiess schlicht und einfach kein Geld.

«Verdammte Scheisse, die mögen Sex nicht mehr, wir haben einen unerklärlichen Einbruch», sagte Noah noch immer auf sein I-Phone starrend. «Was meinst du denn damit?», fragte sie, da er ihren fragenden Blick nicht bemerken würde, weil er auf sein Telefon starrte. Er sah auf, seufzte ungeduldig und sagte: «Sieh mal, bei dieser Kurve, es kommen auch keine Uploads mehr. Das hat es noch nie gegeben, normalerweise uploaden tausende von Bettakrobaten oder geldgierigen Amateurfilmern Content hoch. Tag und Nacht. Immer! Auf die geltungssüchtigen Perversen können wir uns verlassen. Darum geben wir auch so viel Geld aus, dass ganze Zeug zu filtern. Aber jetzt: Fast keine Uploads.»

Am liebsten hätte Marisa gesagt, sie arbeite nur hier und habe wenig mit den Perversen am Hut und doch fragte sie sich, wie eine der grössten und widerlichsten Webseiten so einbrechen konnte, sie wusste ja, dass ihre Bosse mit jedem legalen Trick arbeiteten und der Konzern auf der ganzen Welt nichts unversucht liess, um nicht noch die letzte kleine sexuelle Vorliebe, die aus ihrer Sicht lieber unter der Bettdecke verborgen geblieben wäre an Licht zu zerren, auszunutzen und zu Geld zu machen. Marisa wusste nur zu genau, dass ein Datenanalyst sich bei TerraPorn ganz analystisch damit beschäftigte, wie lange ein Blowjob dauern sollte, über die Daten aus Japan wollte sie gar nicht nachdenken, weil sie dann immer am Sonntag in die Kirche müsste und immer schlecht schlafen würde.

Nach dem Gespräch mit Noah entschloss sie sich, einen Kaffee in der trendigen Bar an der Ecke zu holen. Sie wartete am Tresen auf ihren Becher Café Latte und ihr Kopf sah im Spiegel über ihr viel zu gross aus, sie hatte Noah gebeten, selbst mit Terry zu sprechen, war aber verwirrt, sie konnte sich nicht erklären, was sich verändert hatte. Eine Sicherheit hatte ihre letzten Jahre geprägt: Als Christin arbeitete sie in einem widerlichen Business, gleichzeitig war es ein Geschäft das die Gesellschaft durchdrang, so dass perverserweise ein Arbeitsplatz bei TerraPorn sehr sicher sein musste, da der Bedarf nach schmuddeligen Videos unendlich war.

Sie war gerade dabei gewesen mit ihrem Mami neue Bettwäsche in einem neu eröffneten Skandi-Shop auszusuchen und wäre an diesem Samstag noch mit einigen Freundinnen verabredet gewesen, seit einem halben Jahr Single war sie froh, dass sie sich noch nicht einsam fühlte. Die Nähe, auch die körperliche fehlte ein bisschen, aber sie war auch froh, dass sie nach langen Monaten in einer sterbenden Beziehung aus der Geschichte herausgekommen war, ohne dass ihr Herz gebrochen war.  Ihre Mutter war gerade dabei die helllen Farben «zu kalt» zu finden, als Terry anrief und sie hektisch bat ins Büro zu kommen, da der Traffic auf der Hauptseite eingebrochen sei und sie für ihn einige Videokonferenzen einrichten müsse.

Ihr fielen Worte wie <Internetfirma>, <Facetime> und andere ein, Terry kannte sich in diesen Dingen eigentlich besser aus als sie es tat, aber der Unterton in seiner Stimme hielt sie davon ab. Widerwillig sagte sie, dass sie in einer halben Stunde da sein würde und verabschiedete sich hastig von ihrer Mutter. Vor dem Fabrikgebäude von TerraPorn standen zuviele BMWs, Fahrräder waren keine zu sehen, aber die Ansammlung von Fahrzeugen des jüngeren Kaders an einem Wochenende schrie nahezu Krise und Marisa hätte ihre bescheidenen darauf gewettet, dass in jedem Kofferraum schwere Golfbags lägen, die ein dynamischer junger Boss einfach brauchte, um zu überleben. Kein gutes Zeichen.

Die Zeit der Entscheidung sei gekommen, vielleicht sei es besser den Stecker zu ziehen, TerraCom zu informieren und die Verluste auf dem Werbemarkt hinzunehmen, meinte Terrys Boss, während er nervös über das geschmacklose Polohemd strich, das er trug um Golf zu spielen. Auf verschiedenen Grossbildschirmen und an die Wand proijeziert waren die unterschiedlichsten Statistiken und Kurven und alle zeigten nach unten. Analyst Noah mit nach wie vor braunen Fussfesseln und einem etwas übernächtigten Blick erklärte, dass all diese Kurven am Wochenende eigentlich hochgehen müssten, das Wochenende sei ohne Frage die Primetime für Wichser und nun wolle niemand mehr etwas wissen.

Die Bosse, in Gedanken auf eine Fahrt im fetten Schlitten und achtzehn Löcher am Bodensee eingestellt, missbilligten die derbe Sprache, hatten aber keine Lust mit einem unwichtigen Analysten zu diskutieren. Auf die erste Krisensitzung folgte die nächste und dann kamen die Videokonferenzen zwischen den verschiedenen Standorten von TerraCom. Marisa hatte Mühe den Überblick zu behalten. Sie wusste, dass Geschäft war ein Aufwändiges, vor allem wenn man weltweit die Leute mit Schmuddel rund um die Uhr zuscheissen wollte, gleichzeitig war in den Gängen dieser Büros die Einstellung immer gewesen, dass das Business besser sei als Geld zu drucken.

Terry war betrunken, die Krawatte hatte er längst in die Jacketttasche gesteckt und das weisse Hemd war verschwitzt. Sie hatte ihn schon zwei Mal gefragt, ob sie nicht ein Taxi bestellen solle, es werde langsam spät. Aber er bestellte immer noch eine Runde im Volkshaus und die Mai Tais liessen ihn viel zu viel reden.

«Meinst du, wir haben den Sex umgebracht?», wollte er wissen.

«Ich glaube nicht, dass man Sex umbringen kann. Ist ja kein Mensch», meinte sie dann verlegen und erst später als der Oberboss der Belegschaft erklärte, man werde sich an die vertraglich geregelten Kündigungsfristen halten und noch eine Entschädigung zahlen, fiel ihr ein, dass sie bei überteuerten Drinks in einer gemütlichen Bar in ihrer Verlegenheit recht gehabt hatte: Sex war kein Mensch, Sex brauchte man um Menschen zu machen. Aber Marisa dachte nicht so gerne über Sex nach. Und schon gar nicht, wenn es um perverse Geschäfte ging.

«Es interessiert niemanden mehr und die Darsteller machen es nicht mehr. Wir haben die Sexualität umgebracht. Es ist wahr. Sex ist tot!», erklärte Terry und schwankte davon, um sich auf der Toilette zu übergeben. Ironischerweise hatte Marisa das erste Mal in ihrem Leben um drei Uhr morgens nach Pornografie auf dem Internet gesucht und, tatsächlich, seit TerraPorn den Stecker gezogen hatte, war die Sexualität tot.

Foto: Unsplash

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Autor: Andy Strässle

Andy Strässle umarmt Bäume, mag Corinne Mauch und verleugnet seine Wurzeln: Kein Wunder, wenn man aus Blätzbums stammt. Würde gerne saufen können wie Hemingway, hat aber immerhin ein paar Essays über den Mann zu stande gebracht. Sein musikalischer Geschmack ist unaussprechlich, von Kunst versteht er auch nichts und letztlich gelingt es ihm immer seltener sich in die intellektuelle Pose zu werfen. Der innere Bankrott erscheint ihm als die feste Währung auf der das gegenwärtige Denken aufgebaut ist und darum erschreckt es ihn nicht als Journalist sein Geld zu verdienen.

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