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High mit der Metzgersmeister–Tochter

Die Strasse, die aus der kleinen Stadt in Richtung Flughafen führte, war öde und lag mitten in einem trostlosen Industriegebiet, aber der Gedanke, sie könnte ein Boulevard der zerbrochenen Träume sein, war dann doch nicht naheliegend. Dazu gehörte der Sound der amerikanischen Punk-Rocker Green Day nicht zu den Dingen, die mich beschäftigten. Der Taxifahrer hatte vor meinem Haus erstaunt gesagt: «Da wollen nicht viele hin», als ich gesagt hatte, ich wolle raus zum Schlachthof. Er hatte noch ergänzt: «Und das erst noch morgens.»

An der Uni hatte ich für die Studentenwebseite einige Meinungsstücke veröffentlicht und hatte für die Lokalzeitung schon über eine Premiere am Theater der kleinen Stadt berichtet, was mich kaum zu einem erfahrenen Rechercheur machte. So hatte ich darüber gestaunt, dass mir die Türen im Schlachthof weit offenstanden, obwohl ich als Begründung nur ein vage Pläne für ein Buchprojekt vorweisen konnte. Der Veterinär, eine Art amtlicher Totengräber für das Schlachtvieh, würde sich an diesem Dienstag sogar Zeit nehmen, um mich herumzuführen.

Den einen Teil meines Romans konnte ich mir recht gut vorstellen: Ich schickte nämlich die «Metzgersmeistertochter» auf die Uni und liess sie Wirtschaft studieren, um noch einige Witze über die Ökonomen und vor allem deren weisse Socken und Krawatten loszuwerden. Von jungen Frauen hatte ich zwar nicht viel Ahnung, aber damals gingen die Achtziger zu Ende, an seltsamer Kleidung fehlte es also nie. Dummerweise meinte ich, genau zu wissen, was auf einem Schlachthof geschah, glaubte als Schriftsteller, mir das Ganze gut vorstellen zu können und sass deswegen unbeschwert und ideenreich im Taxi.

Der Schlachthof war ein Zweckbau auf einem grauen Feld hinter einem hohen Zaun. Vor dem Eingangstor deutete nichts darauf hin, dass in dem langgezogenen Gebäudekomplex seit Stunden massenhaft Tiere getötet wurden. Später würde ich erfahren, wozu die Rampe und die Container dienten, die man nach dem Eingangsbereich zu sehen bekam. Ich würde wissen, dass die Tiere mit Lastwagen im Morgengrauen angeliefert wurden.

Veterinär Lund, der mich in einem weissen Arztkittel herumführte, war ein grossgewachsener, hagerer Mann mit Hornbrille und hellen Haaren, dem man den begeisterten Wissenschaftler sofort abkaufte. Während mir, kaum hatte die Führung durch Schlachthof begonnen, immer schlechter wurde, erinnerte ich mich später doch daran, dass er viel von Seuchen, Seuchenverhinderung, Rinderwahnsinn und Untersuchungen gesprochen hatte. Wäre ich ein Journalist und nicht ein verträumter Schriftsteller gewesen, wäre mir aufgefallen, dass all die Hygiene und die Atemschutzmasken und die Plastikschuhe darauf hindeuteten, dass fabrikmässiges Abschlachten und Ausweiden von Tieren durchaus etwas Heikles hatte.

Bei der Begrüssung in Veterinär Lunds kleinem Büro war mein Magen noch völlig in Ordnung gewesen. Viel konnte ich noch nicht zur Gestaltung meines Buches sagen, doch sprach ich begeistert von der anrührenden Vater-Tochter-Geschichte, der kleinen Metzgerei im Quartier und davon, dass die Tochter im Quartierladen an die Stelle der Mutter getreten war, obwohl sie eigentlich ein Praktikum als Analystin in einer Bank hätte absolvieren wollen, stapelte sie nun mit Gummihandschuhen rohes Fleisch in die Auslage der kleinen Metzgerei.

«Gummihandschuhe, Gummihandschuhe, sehr gut», murmelte der vielleicht etwas zu früh ergraute Veterinär und wies darauf hin, dass bei der Behandlung von Lebensmitteln die Hygiene eine ganz entscheidende Sache sei. Wie es sich herausstellte, sollte diese Einstellung für eine kleine Metzgerei fast zur Überlebensfrage werden. Das, und natürlich, dass die Leute mehr und mehr die Beziehung zu den Waren verloren, die sie in sich hineinstopften. Ob Kuh, Schwein oder andere Viecher wichtig war vor allem, dass es auf aufwändige Weise in Plastik abgepackt war.

«Das wird sicher eine gute Geschichte von Ihnen», ermunterte mich Lund und meinte, es sei Zeit, das Schlachthaus zu besichtigen. Ich ahnte nicht, dass meine romantische Vorstellung von der Quartiermetzgerei, der Vater-Tochter-Geschichte und meine leichte Verliebtheit in meine Hauptperson, die damals noch keinen Namen hatte, schwer erschüttert werden würden. Im Empfangsbereich gab mir die Sekretärin Lunds einen Plastikoverall, Handschuhe einen hellblauen Haarschutz und Plastikhüllen für die Schuhe. Noch immer war alles in Ordnung, die Welt normal und ich sah das ganze Zeug als übertriebene Vorsichtsmassnahmen an, da ich immer noch davon ausging, dass die ganze Schlachterei gar nicht so schwierig sein konnte. Noch war ein Schlachthaus für mich ein steriler Prozess, so steril eben wie die säuberlich im Supermarkt aufgestapelten Schnitzel.

Durch eine Luftschleuse gingen Lund und ich in einen Kühlraum durch. Lund erklärte: «Der Kühlraum schafft etwas Distanz zum Schlachthaus und darum stinkt es unseren Büroräumen nicht so sehr.»

«Klimaanlage?», fragte ich durch meinen Mundschutz, entdeckte aber einen Augenblick später, dass Lund recht hatte, wenn er meinte: «So eine Klimaanlage müsste schon sehr stark sein damit sie etwas bewirken könnte, die Kosten können wir dem Steuerzahler nicht zumuten.»

Selbst im Kühlräum war der Gestank unerträglich. Da die Luftschleuse kurz offengestanden hatte, waberte Nebel zwischen reihenweise aufgehängten Rindshälften und geteilten Schweinen, der Geruch von Blut und Fleisch wirkte wie ein Schlag in die Fresse.

«Geht es Ihnen gut?», fragte Lund. Ich nickte schwach und schwankte ihm hinterher, während er mir erklärte, wir würden nun in den Verarbeitungsbereich wechseln, wie ich sehen könne, würden hier in diesem Schlachthaus die hygienischen Vorschriften peinlich genau eingehalten.

Klar, Lund war viel zu ernst, als dass er mich hätte verarschen wollen und doch hätte ich ihn beinahe angeschrien, ob er mich auf den Arm nehmen wolle. In der Fabrikationshalle gingen blaugekleidete Arbeiten mit Kettensägen zu Werke, um Rindern den Kopf abzusägen, ihre Körper in Hälften zu spalten und wir wateten in den Plastikhüllen an den Füssen durch galleertartige Innereien und ab und zu lagen neben dem Blechgitter aus dem die Wege im Schlachthaus bestanden stumpf glotzende runde Tieraugäpfel herum. Selbstverständlich waren die Blechgitter ebenfalls toll für die Hygiene, da man sie leicht abspritzen könne, erklärte Lund und mir fiel auf, dass die Wände und die restlichen Böden von oben bis unten weiss gekachelt waren.

Entweder waren die Kacheln die hygienischste Lösung oder jemand hatte ein Paradies für Folterknechte und Massenmörder schaffen wollen. Auf jeden Fall kam das Blut sehr gut zur Geltung. In der Fabrikation war der Gestank noch schrecklicher geworden, was daran lag, wie Lund erklärte, dass hier die Därme der Tiere aufgesäbelt wurden. Fürs zarte Gemüt waren auch die Geräusche schlimm: Das Kreischen der Sägen, das stumpfe Splittern der Knochen und das Klatschen von Fleisch auf die weissen Kacheln.

Lund nickte den Arbeitern zu, schritt hocherhobenen Hauptes über die Blechgitter und sprach über Hygiene, moderne Erkenntnisse und die Gefahr von Bakterien, stolz wies er darauf hin, dass es für das Blut der Tiere Abflusskanäle gebe, die das Sekret davon abhielten in die Kanalsation zu gelangen. Er sagte triumphierend: «Das Schlachthaus verfügt über eine eigene Kanalisation». Unterdessen war mir schlecht und schwindelig und ich fragte mich, ob es sehr peinlich wäre, wenn ich kotzen müsste. Zwei Schlachthäuser und einen Kühlraum weiter meinte ich, ich hätte es überstanden und war stolz, mich noch nicht übergeben zu haben. Es konnte ja schwerlich noch schlimmer kommen.

Es kam schlimmer: Wir waren bei der Anlieferungsrampe angelangt. Hier wurden die Tiere zuerst in ein kleines Gehege gepfercht, dann einen kleinen Steg hochgetrieben um dann «ganz human» getötet zu werden. Lund erklärte mir sicher Interessantes über die Entwicklung der Schlachtmethoden und dem «humanen Kodex» der in ganz Europa gelte und darauf könne man stolz sein. Alle Vorschriften würden aufs Humanste eingehalten. Lund sah ganz begeistert aus, aber unter mir gaben die Beine fast nach, als ich sah, wie das Tier nach einem Elektroschock einen Bolzen in den Kopf geschossen bekam und dann mit einem letzten Schrei zusammensackte. Du musst kein Kuh- oder Schweinefreund sein, um das schrecklich zu finden.

«Selbstverständlich gehen wir auch mit den Innereien und den Gehirnen der Tiere sorgsam um, wir wollen ja nicht, dass diese Dinge unkontrolliert in die Umwelt gelangen», sagte Lund und zeigte mir einen mit grauen Gedärmen gefüllten Container, der direkt der Kehrrichtverbrennungsanlage zugeführt werden würde. Obwohl wir draussen standen, half die frische Luft nur wenig. Es war die Zeit der blauen Nokia Handys, die alle mit dem gleichen Klingelton klingelten, so sah mich Lund fragend an, aber ich war zu schwach um mein Telefon zu suchen, so dass Lund nach seinem suchte und sich dann verabschiedete. Er zeigte mir noch einen Behälter, in den ich meine hellblauen Plastiksachen werfen konnte und entschuldigte sich dann.

Er sagte: «Wissen Sie, wir zeigen hier unsere Arbeit gerne, es ist eine wichtige Sache …»

Eigentlich hatte er noch mehr gesagt, aber ich war zu erledigt gewesen, um es noch mitzubekommen und war nicht sicher, ob ich es schaffen würde auf den Metallzaun zuzuwanken ohne umzufallen. Immerhin dankte ich ihm, nickte an den mehr oder weniger richtigen Stellen und war überzeugt, dass ich ab sofort vegetarisch leben würde.

Einige Monate später hatte die Metzgersmeistertochter einen Namen bekommen. Fleisch ass ich immer noch nicht, aber meine Geschichte nahm Formen an. Meine Vorstellung von der Quartierstrasse war gereift und auch für die kleine Metzgerei hatte ich ein Vorbild gefunden. Die Schreiberei lief nicht schlecht und für die ersten Seiten und eine Zusammenfassung des Inhalts hatte ich ein kleines Stipendium gewonnen, das mir half über die Runden zu kommen und meine Schichten beim Pizzakurier etwas zu reduzieren. Zugegeben: Die Metzgersmeistertochter fuhr viel und detailversessen mit dem Bus herum, liebevoll und ausschweifend beschrieb ich jedes noch so bedeutungslose Blatt, wenn sie an einem Baum hochssah und im ersten Entwurf fasste ich sogar den Inhalt der Vorlesungen zusammen, die sie besuchte, um die geneigten Leser darüber zu informieren, welche Theorien in der Wirtschaft oder Volkswirtschaft gerade in Mode waren.

Da sass Roberta früh morgens im Bus, half älteren Damen und Herren in ihre Sitze, blickte sehnsuchtsvoll – im ersten Entwurf war sie immer sehnsuchtsvoll – aus dem Fenster und verlieh der Welt durch diesen Blick und durch ihre innere Zerrissenheit eine tiefe Bedeutung, so bald eine junge Frau mit dem Kinderwagen Mühe hatte über den Fussgängerstreifen zu kommen oder der Asia Shop seine frischen exotischen Früchte und Gemüse auf die Strasse stellte, verfiel die 22-Jährige in etwas, was man nur «philosophische Betrachtungen» nennen konnte. Für Kristin war alles eine Metapher, alles, was sie sah war eine Tür, nein, eher ein Portal zu einer tieferen Bedeutung und diese Gedankengänge schrieb ich ausufernd und viel zu detailliert auf.

Undenkbar, dass diese fleissige Heilige, die durchaus auch sexy, aber auch ein bisschen verklemmt war, vor der Uni in einen Hundeschiss treten würde, undenkbar, dass in ihrem Eastpack Unordnung herrschte. Roberta war das ideale Mädchen. Sie sah toll aus, brauchte aber keine teuren Klamotten dazu, sie war lustig, kiffte und soff manchmal, blieb aber immer nüchtern genug, um ein guter Kumpel zu sein. Wie viele Frauenfiguren, die von Männern geschrieben wurden, war sie ein Paradoxon: Im Grunde unschuldig, unberührt, mädchenhaft, aber nicht zu sehr, so wäre sie denn, wenn es darauf ankam, dennoch leidenschaftlich und versaut.

Als Baby-Schriftsteller hatte ich die Charakterentwicklung vernachlässigt, ich hätte nicht beantworten können, ob die Studentin mit 22 noch Jungfrau war, hätte nicht gewusst, ob der Tod ihrer Mutter als sie sechzehn oder achtzehn gewesen war, die Trauer sie nicht in Drogenkonsum und Wahnsinn getrieben hatten. Dafür konnte ich genau beschreiben, was in ihr vorging, wenn sie mit den verdammten Bussen rumkurvte. Ich konnte nicht sagen, ob sie gerne eine Schwester gehabt hätte oder ob sie ihre Eltern überhaupt mochte. Ich hatte eine Vorstellung, aber sie war noch nicht ausgereift.

Trotz des kleinen Stipendiums wurde schnell klar, dass es nicht beim ersten Entwurf bleiben würde. Es würde mehr Fantasie brauchen und die langen Busfahrten waren einfach zu langweilig, obwohl mir bis heute klar ist, dass meine Busse am liebevollsten und am akribischten bremsten, die Türen ausführlich «hydraulisch zischten» während sie auseinander glitten, so dass «das Rauschen der Aussenwelt in den Innenraum eindringen konnte». Obwohl unerfahren und jung war mir bald klar, das Literaturgenre «junge Frau im Bus» war völlig überflüssig.

Nach wie vor war die Angewiderheit gegen Metzgereien und Fleischwaren ungebrochen: Dennoch war ich gezwungen in einer kleinen Metzgerei zu recherchieren, was zwar schlecht für meinen empfindlichen Magen sein würde, aber dafür nützlich für meinen Roman, unterdessen war ich dabei den fünften Entwurf durchzugehen und noch immer fehlte etwas. Immerhin wurde die Geschichte allmählich anschaulicher und ich kannte unterdessen meine Protagonisten und ihre Welt etwas besser.

Während ich im Schlachthof von Veterinär Lund mit offenen Armen und Schutzkleidung empfangen worden war, verliefen die Gespräche mit den Metzgersmeistern, die noch selbst Tiere schlachteten nach einem ähnlichen Muster: «Schriftsteller, was ist das denn? Wenn Sie ein Buch schreiben, was wollen sie dann bei mir, schliesslich arbeite ich in der Fleischzubereitung?» Wenn ich meine kleine Geschichte zu erklären versuchte, traf sie ebenfalls auf wenig Zustimmung: «Warum gehen Sie dann nicht gleich zu dem Kerl?» bieb eine oft gestellte Frage. Eine weitere Sache, die mir die Fleischer mit auf den Weg gaben waren: «Sie sollten versuchen etwas Gescheites zu schreiben, dass interessiert doch keinen, machen Sie doch etwas mit einem Mord, etwas Interessantes».

Vielleicht gab es Schriftsteller, die sagen konnten, wann und wie ihnen die Idee für einen Roman oder eine Geschichte gedämmert hatte, ich selbst wusste das nicht so genau, was keine Rolle spielte, da die Ablehnung der Metzgersmeister mich von meiner Idee überzeugte. Schroff am Telefon waren die wortkargen Männer doch bereit darüber zu sprechen, dass das Geschäft schwierig, das Überleben im Quartier schwierig geworden sei. Einer der rauen Charaktere zeigte sich gar enttäuscht darüber, dass sein Sohn nicht in seine Fussstapfen treten wollte und lieber Spengler geworden sei, obwohl er den Laden hätte übernehmen hätte können. Sicher war ich nicht, doch er schien mit den Tränen zu kämpfen, als er mir sagte, meine Geschichte sei «völlig unrealistisch» und ich sei «ein Arschloch», das keine Ahnung habe, was es bedeutete mit den Händen zu arbeiten.

Da konnte man nur zustimmen: Schliesslich lebte ich von Gelegenheitsjobs und der Kohle, die mir ein sechsseitiges Exposé und einige Seiten Prosa eingebracht hatten. Und ich lebte nicht schlecht, obwohl ich noch weit davon entfernt war, wirklich etwas Ähnliches wie ein Schriftsteller zu sein. Meine Anrufe führten mich mehr und mehr aus der Stadt hinaus, keine der kleinen Metzgereien zeigte Interesse mich zu empfangen, offensichtlich hatten sich die Typen verschworen, mich abblitzen zu lassen oder sie hatten einfach zu viel Arbeit, um einem Kerl mit vagen Ideen ihr Handwerk vorzuführen.

Ich feilte gerade an der letzten übrig gebliebenen Busfahrt im sechsten Entwurf und wäre schon bereit gewesen, den Abgabetermin des Manuskripts ein weiteres Mal zu verschieben, als ein Fleischer etwas ausserhalb der kleinen Stadt zurückschrieb, er sei bereit mir alles zu zeigen, sein Laden sei nicht ganz so klein und das Publikum aus dem Ort goutiere durchaus seine Spezialitäten, so dass er nicht mit dem Rücken zur Wand stehe, zudem habe er sein Catering ausgebaut und das sei ein zweites Standbein, das Arbeit bedeute, aber damit könne er dafür sorgen, dass sein Geschäft eine bessere Warenbewirtschaftung erreichen und er weniger Abfälle wegwerfen müsse.

In einem weiteren weissgekachelten Raum war mir erneut schlecht geworden, wieder war das Blut in rauen Mengen geflossen, wieder wurden mit sehr scharfen Messern, Muskeln und Sehnen herausgeschnitten, Gehirne in Behälter entsorgt, wieder herrschte ein schrecklicher Geruch und dennoch war es weniger schlimm: Wäre es mir nicht so schummrig geworden, so hätte mich die Begeisterung von Metzgermeister Albrecht angesteckt: Er war begeistert von seinem Rinds- oder Kalbshack, wobei die Kälber erst in einer Woche drankommen, diese Woche würde er das Rind verkaufen. Der Kerl füllte zwar auch in grosser Menge Würste in Gedärme, tat es aber begeistert, irgendwie respektvoll, irgendwie so, dass man sich vorstellen konnte, so etwas auch essen zu wollen. Mag sein, der Vergleich zwischen einem industriellen Schlachthof und einer mittleren Metzgerei war nicht fair, aber die Typen hier, sie wollten möglichst schmackhafte Nahrung herstellen und das ganze Blutbad an den verschiedenen Tieren erschien sinnvoller.

Es ist Kristin, die Metzgersmeistertochter, die dann in einem kleinen inneren Monolog denken wird, als der sechste Entwurf endlich fertig wird: «Kein Missverständnis, in der Metzgerei meines Vaters überlebt kein Tier, niemand kommt hier lebendig raus, aber die Arbeit, die er tut, egal wie blutig, er führt sie mit Respekt aus und wir geben uns Mühe, das Fleisch gut zu verarbeiten. Unerträglich für mich, ich hasse den Geruch der frischgeschlachteten Ware, ich will den Scheiss nicht einmal mit Gummihandschuhen anfassen und offensichtlich bin damit unseren Kunden ähnlicher, als ich es sein möchte. Ich möchte meinen Weg gehen, in der Wirtschaftsberatung arbeiten, meine Hände nicht dreckig machen und trotzdem gut essen.»

Im sechsten Entwurf wird sie mehr und mehr vegetarisch für ihren Vater zu kochen, versuchen ihr Leben zu leben und ihre Mutter zu verstehen, die immer ihrem Vater zur Seite gestanden war, sie wird in dem kleinen Laden arbeiten und versuchen die Gratwanderung hinzukriegen, den Witwer nicht im Stich zu lassen und doch etwas Eigenes zu entwickeln, das alles in einer Welt, die sich für den Vater sehr schnell ändert, weil die Leute statt Suppenfleisch irgendwelche abgehobenen Crevetten essen wollen oder das Publikum kurz und simpel einfach Pizza oder Thai bestellt und gar nicht mehr weiss oder wisssen will, dass im Küchenschrank Kochtöpfe Platz hätten.

Vielleicht hatte ich es nicht perfekt hingekriegt und auch nur mit flauem Magen, doch als ich das Manuskript ablieferte, war ich überzeugt, etwas einigermassen brauchbares geschrieben zu haben. Nicht nur erzählte ich die Geschichte vom Untergang eines kleinen Geschäfts, von sich ändernden Zeiten, irgendwie hatte die Metzgerei auch damit zu tun, dass man sich entfremdete, von den Dingen, den Nahrungsmitteln, die zu Produkten und von den Nachbarn, obwohl man in deren Mitte man wohnte.

Du gehst nicht mehr in die Bäckerei, in die Metzgerei, du lässt dir alles liefern und hast keine Ahnung mehr davon, was du da eigentlich isst, weil das in diesen auch von Wirtschaftlichkeit bestimmten Prozessen schlicht und einfach nicht geht und du auch nicht bereit bist, etwas mehr dafür zu bezahlen. Manchmal denke ich an diese Strasse, die Autobahn hinaus ins Industriegebiet, dort, wo die Fabriken und Lagerhallen stehen und obwohl ich Green Day noch immer nicht mag, scheint es mir, als würden auf dieser Strasse die Träume zerbrechen: Nicht nur war die Metzgersmeistertochter ein erstaunlicher Misserfolg, erst noch in beiden Auflagen, darüber hinaus schienen sich die Entfremdung vom Alltag und kulturelle Ignoranz zu steigern. Kann gut sein, die Metzgersmeistertochter ist nun nicht das stärkste oder beste Buch, schwer zu verstehen dagegen, dass «Die Stille der Lämmer» immer lauter wird. Ist es in «Der Stille» die Munition in den Polizeipistolen, die nicht stark genug ist, um Übeltäter sofort zu stoppen, so dass der Übeltäter mit zwei Kugeln im Bauch noch erstaunlich lange wüten kann, so betonieren schwedische Autoren ihre Opfer gleich ein und foltern sie weit länger und beschreiben ausufernd deren Leiden, es ist kein Widerspruch für diese Typen, dass es in Schweden fast keine Gewaltverbrechen gibt, genauso wenig wie es Robert Harris gestoppt hatte, Psychopathen zu erfinden, die man nicht erschiessen konnte.

Sozialer Ausgleich ist in der Literatur immer ein Punkt: Aber gleich Folter die jahrelang dauert und immer die schlimmsten Ideen. Wenn du die Zeichen der Zeit nicht erkennst, zerbrichst du auf dem Boulevard der Träume. Immerhin konnte ich darauf hoffen, es ginge der Metzgersmeistertochter gut und wusste bei allem Misserfolg des Buches, wo ich mein Fleisch kaufen würde.

Foto: Edwin Andrade/Unsplash

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Autor: Andy Strässle

Andy Strässle umarmt Bäume, mag Corinne Mauch und verleugnet seine Wurzeln: Kein Wunder, wenn man aus Blätzbums stammt. Würde gerne saufen können wie Hemingway, hat aber immerhin ein paar Essays über den Mann zu stande gebracht. Sein musikalischer Geschmack ist unaussprechlich, von Kunst versteht er auch nichts und letztlich gelingt es ihm immer seltener sich in die intellektuelle Pose zu werfen. Der innere Bankrott erscheint ihm als die feste Währung auf der das gegenwärtige Denken aufgebaut ist und darum erschreckt es ihn nicht als Journalist sein Geld zu verdienen.

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