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24 Stunden frei sein

In den sozialen Medien geht zurzeit eine Frage viral und die Antworten darauf sind so einfach, wie auch erschreckend. «Was würdest du tun, wenn es einen Tag lang keine Männer gäbe?»

Einige der Antworten sind:

  • Nachts alleine einen Spaziergang machen.
  • Tragen, was ich will, ohne mich unwohl zu fühlen.
  • Um 3 Uhr morgens in der Stadt tanzen und mich vor nichts fürchten.
  • Mich selbstbewusster in den sozialen Medien bewegen.
  • Einen Minirock und ein bauchfreies Top tragen.
  • Nachts Fahrrad fahren.
  • Mit Freundinnen oben ohne ein Picknick machen.
  • Einen Drink im Club unbeaufsichtigt stehen lassen, ohne mir Sorgen zu machen.

Dies ist nur ein Auszug der Antworten, die aber grundsätzlich eines aussagen: Die befragten Frauen würden sich freier fühlen, wenn es für einen Tag keine Männer geben würde. Und ehrlich gesagt war ich erleichtert, als ich die Antworten gelesen habe. Denn genau so hätte auch ich geantwortet! Bis anhin zweifelte ich aber an mir und dachte, ich würde überreagieren. So schlimm sei es doch gar nicht. Aber, doch, es ist so schlimm: Ich traue mich tatsächlich nicht, nachts einen Spaziergang bei Vollmond zu machen, obwohl ich das gerne würde. Ich traue mich auch nur in der Frauen-Disco im Berner Frauenraum so zu tanzen, wie ich das möchte. Ich klammere die Schlüssel zwischen meine Finger, wenn ich nachts nach Hause laufe. Und ich schreibe meiner Freundin eine SMS, sobald ich zu Hause bin, damit sie sich nicht sorgt. Und das sind keine irrationalen Ängste – sie basieren auf Erfahrungen, die jede Frau in meinem Umfeld schon gemacht hat. Jede meiner Freundinnen wurde schon einmal belästigt, verfolgt oder schlimmeres. Auch ich.

Was sagt das über unsere Gesellschaft aus? Wir leben in einer Gesellschaft, die Mädchen und Frauen sagt, sie sollen sich nicht so sexy anziehen, wenn sie nicht vergewaltigt oder belästigt werden wollen, anstatt den Männern zu sagen, sie sollen ihre Finger bei sich behalten. Wir wachsen mit der Überzeugung auf, dass Frauen, die Miniröcke und High-Heels anziehen und sich schminken, das nur tun, um die Aufmerksamkeit der Männer auf sich zu ziehen. Meist ist dies aber nicht der Fall, ich kann nur von mir selbst sprechen. Und auch wenn das der Fall ist – das wäre ebenfalls kein Grund, eine Frau als Schlampe zu bezeichnen und sie als Freiwild anzusehen. Denn eine flirtende Single-Frau, die gerne die Aufmerksamkeit der Männer auf sich zieht, ist noch immer eine Frau, die «Nein» sagen kann, wenn sie das will. Sie ist kein Opfer und kein Wild, welches man nach Belieben abschiessen kann. Es kann doch nicht so schwierig sein, respektvoll miteinander umzugehen und ein solches «Nein» einfach zu akzeptieren.

Vor einigen Wochen bin ich das erste Mal seit dem Lockdown wieder ausgegangen – in Kleid und Stöckelschuhen und mit viel Schminke. Es hat gutgetan, die Wohnung mal wieder verlassen zu können und mit geliebten Menschen einen schönen Abend zu verbringen. Als ich danach auf die Strassenbahn wartete, um nach Hause zu fahren, sprachen mich innerhalb von 10 Minuten drei verschiedene Männer an. Was ich denn heute Nacht noch mache, wo ich hingehe, ob ich ihnen meine Nummer geben wolle. Alle drei Männer wies ich freundlich, aber bestimmt ab – ich hätte kein Interesse und wolle nur nach Hause fahren. Aber keine der drei Männer akzeptierte dieses «Nein» auf Anhieb. Sie fragten mich weiter, ob ich denn nicht noch mit ihnen eins trinken gehen wolle (komischerweise kam es mir so vor, als hätten sie alle denselben Ratgeber gelesen – «Wie Mann eine Frau NICHT ansprechen sollte»). Wieder lehnte ich ab, ich wolle wirklich einfach nur nach Hause fahren. Einer der Männer bezichtigte mich sogar des Rassismus – ob ich denn keine indischen Männer mögen würde. Langsam fühlte ich mich bedrängt und gab jedem der Männer die gleiche Antwort: «Ich habe einen Freund.» Und auf magische Weise verabschiedeten sie sich und gingen ihres Weges. Ein grundloses «Nein» reicht also nicht. Es muss ein anderer Mann im Spiel sein, damit die Frau nicht mehr als Freiwild gilt. Manchmal habe ich so genug davon. Und manchmal frage ich mich, ob der Feminismus seine Aufgabe nicht erfüllt hat. Ob er die Fronten nicht eher verhärtet, als sie aufzuweichen.

Der zeitgenössische Feminismus ist für mich eine Blase – eine glitzernde, pinke, sichere, zuckersüsse Blase – aber immer noch eine Blase. Und doch exklusiver, als sie gerne sein würde. Aussenstehenden fällt es schwer, zu verstehen, was in dieser Blase geschieht. Die einen Feminist*innen schreien nach Intersektionalismus und dass Feminismus nicht nur die Belange weisser cis-Frauen ansprechen dürfe. Andere wiederum beschweren sich in den sozialen Medien über sexistische Werbung und wie diese obsolete Rollenbilder reproduzieren würde. Ich verliere da manchmal den Überblick und frage mich, was denn nun wirklich wichtig ist. Wo liegt das Problem des Ungleichgewichts begraben? Es fällt mir sehr schwer zu glauben, dass unser grösstes Problem eine sexistische Werbung ist. Manchmal schäme ich mich dafür, eine weisse cis-Frau zu sein – denn die Ungerechtigkeiten, die ich als Frau am eigenen Leib erlebe, sind im Vergleich mit der Welt fern der Schweizer Landesgrenzen wirklich klein. Ich plädiere ja immer dafür, Leid nicht zu vergleichen. Aber ich kann nicht anders. Ja, Frauen in der Schweiz werden genauso vergewaltigt und umgebracht wie anderswo. Und die Rollenbilder, die in der Schweiz herrschen, erinnern doch oft noch an die 1950er Jahre. Die Schweiz ist ein eher träges Land – Fortschritt nimmt es nur widerwillig an. Und doch sind wir im Vergleich zu der Welt um uns herum ein sicheres Land. Unser blinder Fleck ist nicht nur unser veraltetes Rollenbild – wir leben in einem Land mit hoher Kinder- und Altersarmut, mit einem ungerechten Asylsystem und gleichzeitig beherbergen wir viel zu viele, viel zu reiche Menschen. Ich bin verwirrt. Weltschmerz, lass nach! Manchmal denke ich, dass der Feminismus in der Schweiz ein Upgrade vertragen könnte. Die Menschen abholen, statt sie ausklammern – das wäre was. Wirklich tolerant sein, zuhören, verschiedene Meinungen zulassen. Endlich eine Diskussion starten, die zu führen lohnenswert wäre. Denn auch die feministische Blase ist auf ihre Art privilegiert.

Und da ist da noch unsere doch sehr ambivalente Beziehung zur entblössten Frauenbrust. Was soll das? Wieso ist es in Ordnung, dass Männer im Sommer oben ohne durch die Stadt laufen können – was ich sowieso ein Unding finde – und Frauenkörper werden sexualisiert? Und wieso stört es so viele Menschen, wenn eine Frau in der Öffentlichkeit ihr Kind stillt? Da ist es wieder, unser obsoletes Bild der Frau – entweder ist sie Hure oder Mutter. Oder doch nur Hure? Und wieso scheint es andere Menschen so sehr zu stören, wenn Frauen mit grösseren Brüsten keinen BH tragen? Weibliche Brüste stehen nun mal nicht stramm, so wie es in vielen Pornos Normalität zu sein scheint. Wir haben ein Bild des weiblichen Körpers in unseren Köpfen verankert, welches von Pornografie und Werbung geformt wurde. So viele Fragen drängen sich in mir auf, die ich nicht beantworten kann. Dass sich viele Frauen nicht zutrauen, sich oben ohne in der Öffentlichkeit zu zeigen, liegt wohl nicht nur an der Angst vor Übergriffen – sondern auch an der Angst vor Ablehnung. Übergriffe geschehen ja nicht nur, weil Frauen als Sexobjekt angesehen werden. Sondern ebenso, weil sie abgewertet werden. So müssten sie sich Kommentare über die Attraktivität oder scheinbaren Nicht-Attraktivität ihrer Brüste über sich ergehen lassen. Und wer will schon dauernd bewertet werden? Tja, als Frau kenne ich das nicht anders.

Solange ich in der sicheren Schweiz Angst habe, nachts alleine einen Spaziergang zu machen – solange haben wir Feminist*innen noch einiges an Arbeit zu leisten. Und die Gesellschaft muss aufhören, die Männer zu Triebtätern zu erziehen. Mütter und Väter, sagt euren Jungs: «Vergewaltige nicht!», anstatt euren Töchtern zu sagen, sie sollen sich weniger freizügig anziehen. Damit legitimieren wir doch übergriffiges Verhalten. Jungs sind nicht nun mal Jungs. Ich bin überzeugt, dass auch Triebtäter Opfer unserer Gesellschaft sind. Ich bin überzeugt, dass manche Vergewaltiger nicht per se frauenhassende Monster sind. Sie werden dazu gemacht. Damit entschuldige ich ihre Taten keineswegs – ich würde mir jedoch wünschen, dass unsere Blickwinkel erweitert werden. Dass wir das grosse Ganze betrachten. Als Feminist*innen sollte es unsere Mission sein, jedes schwache Glied in dieser Gesellschaft schützen zu wollen. Alles hängt zusammen, in unserer kapitalistischen Welt. Es gibt nicht nur Gut und Schlecht, nicht nur richtig und falsch. Es wäre wirklich befreiend, wenn wir eines Tages angstfrei um 3 Uhr morgens durch die Stadt tanzen könnten, in Minirock und bauchfreiem Top.

Was würdest du tun, wenn es 24 Stunden lang keine Männer gäbe?

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Autor: Susanne Grädel

Susanne Antoinette Grädel, wurde am 01.08.1990 in Bern geboren und hat einen Abschluss als Fotografin HF von der F+F Schule für Kunst und Design. Susanne schreibt Gedichte und Belletristik, malt, fotografiert und filmt. Seit über zehn Jahren versucht sie, ihre komplexen Gedanken und ausufernden Gefühle mit Lyrik und Belletristik in die Aussenwelt zu tragen. In ihren Texten untersucht Susanne die Melancholie in alltäglichen, ephemeren Situationen und entdeckt das poetische Potential in abgründigen Gedanken.

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