(red.) Vanessa Springoras autobiographischer Text «Le consentement» (Die Einwilligung) erschien im Januar 2020 im Grasset Verlag und löste ein literarisches Erdbeben aus, weit über Frankreich hinaus. Ute Cohen hat zwei intensive, verstörende Romane über sexuelle Transgressionen, Terrorszenarien, Tragödien geschrieben. «Satans Spielfeld» und «Poor Dogs», beide ernteten begeisterte Kritiken und sind im gut sortierten Buchhandel – sowie im Onlinehandel – erhältlich sind.
Im April 1980 interviewte Alice Schwarzer den Sozialwissenschaftler Günter Amendt, dessen «Sex-Buch» in den Siebzigerjahren zu einem Skandalon wurde. Schwarzer bringt es auf den Punkt: «Weil die Liberté, für die wir eingetreten sind und weiterhin eintreten werden, hier zur Libertinage degeneriert ist»; deshalb müssten wir alle uns engagieren für die geschützte Entfaltung kindlicher Sexualität.
Fakt ist, dass kindliche Sexualität nach ’68 dem Kampf gegen jede Form von Unterdrückung geopfert wurde. Die sexuelle Revolution sollte sich auf alle Körper, mithin auch den kindlichen, erstrecken. 1977 veröffentlichte die Zeitung «Le Monde» eine Petition, die sich für die Legalisierung von sexuellen Beziehungen zwischen Erwachsenen und Minderjährigen einsetzte. Der Aufruf unter dem Titel «Aus Anlass eines Prozesses …» protestierte gegen die Inhaftierung dreier Männer, die des sexuellen Missbrauchs beschuldigt wurden. Unterzeichnet wurde das Schreiben von zahlreichen französischen Intellektuellen, darunter Roland Barthes, Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir, Verfasser war der französische Schriftsteller Gabriel Matzneff, Liebling der libertären Pariser Intellektuellen und jener Mann, der Vanessa Springora als 14-jährige verführt und in höchste Bedrängnis gestürzt hatte.
Springora nimmt einen tiefen Zug an ihrer E-Zigarette, neigt den Kopf und überlegt: «Diese erste Liebe war ein einziges Missverständnis». Sie wartet einen Augenblick meine Reaktion ab, wohlwissend, dass «Liebe» aus dem Munde einer Frau, die betont, permanent gelitten zu haben, seltsam klingt. Ja, sie habe ihn geliebt, betont sie, sei aber nicht glücklich gewesen. Matzneff habe sie irregleitet, denn geliebt habe er nicht sie, sondern «den flüchtigen Moment der Adoleszenz». Sie selbst sei damals aber nicht in der Lage gewesen, dies zu erkennen. Männer wie Matzneff oder auch Klaus Kinski besäßen eine mephistophelische Verführungskraft, «etwas Verführerisches, Verwirrendes», das blind mache für die krude Wirklichkeit. Lange habe sie sich nicht einmal als Opfer gefühlt, weil sie in der Verdrängung lebte und eingewilligt zu haben glaubte. Dass der Schriftsteller ihre jugendliche Unerfahrenheit ausgenutzt habe, sei ihr erst später bewusst geworden; komplett befreit habe sie sich erst mit ihrem in diesem Jahr erschienenen Buch. In «Die Einwilligung» schildert sie, wie Matzneff sie umgarnte, mit Schmeicheleien und romantischen Briefen um sie wirbt. Schutz fand das Mädchen nicht einmal bei ihrer Mutter, die ihre Tochter sogar mit Matzneff zusammen wohnen ließ. Auch der Vater kümmerte sich nicht um das Schicksal seiner Tochter. Autodestruktive Phasen und Erkrankungen waren die Folge der Beziehung mit dem als pädophil bekannten Schriftsteller. Der Philosoph Emile Cioran hatte ihr damals gar geraten, Matzneff in seinem schriftstellerischen Wirken zu unterstützen, egal ob sie unglücklich dabei sei.
In Frankreich schlug Springoras Buch wie eine Bombe in die Literaturlandschaft ein und zwang das intellektuelle Establishment zur rigorosen Selbstkritik, es hagelte Entschuldigungen und Solidaritätsbekundungen. Verwunderlich ist das nicht: Der Zeitgeist hatte sich gewandelt, und mit #metoo war der Bann des Schweigens endgültig gebrochen. Spät für Springora, die zu lange in ihrer seelischen Zerrüttung von ihrer Umgebung im Stich gelassen wurde. Es zeugt von Größe und gewonnener Reife, dass Springora als «überzeugte Verteidigerin der künstlerischen Freiheit» trotz des erlittenen Missbrauchs keine Zensur fordert. Einem Autor, der damit prahle, wie er sich an den «frischen Ärschlein» kleiner Philippinos ergötze, müsse man zwingend rechtlich zu Leibe rücken. Ganz aus der Welt schaffen könne man das Böse nicht, denn «Monströsität ist menschlich»; wohl aber müsse man die Perspektive der Täter erkennen und den «Raum des Bösen ausloten», um Gefahren zu vermeiden.
Springora öffnet uns die Augen für die blinden Flecken in unserer eigenen Wahrnehmung und ist uns eine Warnung vor Hysterien à la mode.