Das Museum für Gestaltung in Zürich zeigt in der Ausstellung «Lee Miller – Fotografin zwischen Krieg und Glamour» das Lebenswerk der amerikanischen Fotografin, die vor allem als Kriegsberichterstatterin bekannt ist. Ihr Werk ist fester Bestandteil der Fotografiegeschichte – aber wer war Lee Miller? Ich hoffte, in der Ausstellung Antworten zu finden. Dennoch blieb ich unbefriedigt zurück. Dies ist aber nicht der Ausstellung zu zuschreiben. Sie zeigt sorgfältig ausgesuchte Werke Millers, welche in Themenfelder unterteilt sind und die Vielseitigkeit der Künstlerin unterstreichen. Genau jene Vielseitigkeit jedoch weckt in mir den Eindruck, dass die Fotografin stetig auf der Suche war. Aber wonach?
Ihre Modefotografien sind nicht «Glamour». Ich empfinde sie als unprätentiös, die Models posieren mal neben aufgestapelten Stühlen auf einer Strasse, das Spiel mit Licht und Schatten zieht sich durch die Bildkompositionen in Schwarzweiss. Selbst die wenigen Farbfotografien, die in der Ausstellung gezeigt werden, enthalten surreale Elemente – wie eine Spielzeugspirale, welche sich das Model in farbenfrohen Kleidern über die Hände stülpt. Ihre Porträts sind ebenfalls alles andere als Hochglanz. Mal verbirgt ein dunkler Schatten das halbe Gesicht des Models und lässt dessen Augen strahlen, mal sind die Gesichter unscharf, weichgezeichnet. Es steckt eine unglaublich spielerische Lust in diesen Modefotografien. Als Model wurde sie als kühle Grazie in unaufgeregten Posen abgelichtet, als Modefotografin jedoch zeigt sie uns eine Schönheit jenseits des Offensichtlichen. Für mich ist sie als Model mehr als einfach nur elegant oder graziös – sie hat etwas Raues an sich, etwas Ungeschliffenes, ihr Blick wirkt frech und konfrontierend. Es scheint, als wäre sie es leid gewesen, dem konventionellen Schönheitsbegriff der Modewelt zu folgen. Diesen Drang, die Welt mit anderen Augen zu sehen, lebte sie zuvor als Surrealistin aus. War sie also in ihrer Essenz schon immer eine Surrealistin gewesen? Die Surrealisten beschäftigten sich stark mit dem Unterbewusstsein, mit den unentdeckten Tiefen, die in uns schlummern. Sie suchten nach Erkenntnissen im Phantastischen, nach Mysterien in der alltäglichen Welt. Suchte auch Lee Miller nach diesen Tiefen in sich selbst?
Der surrealistische Fotograf Man Ray war Lee Millers Lehrer und Liebhaber gewesen. Für ihn war sie vor allem eine Muse – ihr Gesicht und ihr Körper sind auf vielen seiner fotografischen Experimente zu sehen. Lee Miller schien für ihn eine Obsession zu sein. Ihre Werke beeinflussten sich gegenseitig, die beiden Liebenden bildeten so zu sagen eine Symbiose. Lee Miller wollte aber nicht nur Muse, sondern ebenbürtige Künstlerin sein. Also löste sie sich von ihm. Sie wollte die Welt mit ihren eigenen Augen sehen. Man Ray durchlebte danach eine Schaffenskrise, denn seine Inspiration hatte ihn verlassen. Die Ausstellung im Museum für Gestaltung zeigt einige Fotografien Millers aus ihrer surrealistischen Zeit – schwebende Köpfe, Frauenköpfe in Glasglocken, Schattenspiele, Kompositionen mit nackten Körpern und Spielereien mit veränderten Bildausschnitten. In diesen Werken entdeckte ich eine Lust nach Ausdruck, ein Hunger nach neuen Werten und Bedeutungen. Als würde sie der Welt sagen wollen: Das bin ich, das ist mein Blick. Ihre Modefotografien sind also in gewisser Weise eine Erweiterung dieses surrealistischen Blickes – denn auch diesen hat sie ihren ganz eigenen Stempel aufgedrückt und ihnen eine neue Bedeutung verliehen. Und das mit einem grosszügigen Schuss Humor.
Umso erstaunter bin ich, dass sie von der experimentellen Surrealistin und Modefotografin zur Kriegsfotografin wurde. Für mich spiegelt sich aber ihre surrealistische Essenz auch in diesen Bildern wider. Wie beispielsweise auf einer Fotografie aus London von 1941, die in der Ausstellung zu sehen ist: Zwei Frauen sitzen vor einem Luftschutzbunker und tragen unterschiedliche Feuerschutzmasken, eines der Gesichter ist komplett bedeckt. Beide haben ihre Köpfe der Kamera zugewandt, wir können aber ihre Blicke nicht sehen. Das Bild wirkt einerseits beängstigend, andererseits surreal. Aber auch eine unprätentiöse Schönheit erkenne ich in diesem Bild – der geschwungene Mund jener Frau mit dem halb verdeckten Gesicht fiel mir besonders auf, sowieso ihre sanften Gesichtszüge, die locker zurückgesteckten Haare und die lässige Pose, die im Kontext des Krieges schon fast grotesk wirkt. Auf einem anderen Bild von 1940 spuckt eine Kapelle in London Trümmer aus seinem kaputten Tor, als wären es Innereien. Ihre bekanntesten Bilder sind jedoch die bildgewaltigen Dokumentationen aus den befreiten Lagern Buchenwald und Dachau – Miller zeigt uns befreite Häftlinge, die singend auf Brot warten oder ein unendlich wirkender Leichenberg. Wir sehen auch verprügelte SS-Männer, die uns entgeistert anstarren oder tot in einem Fluss treiben.
Laut der «Kontext»-Sendung «Fotografin Lee Miller: Die Frau in Hitlers Badewanne» auf SRF 2 Kultur schrieb Lee Miller in ihren Reportagen, dass sie sich als Teil der amerikanischen Truppen verstand und betonte, wie freundschaftlich das Verhältnis zu den US-Soldaten sei – obwohl sie in Wahrheit eine privilegierte Fotografin war. Denn sie hätte jederzeit nach Hause zurückkehren können, im Gegensatz zu den Soldaten. Offensichtlich fehlte es Lee Miller an Empathie, um ihre Rolle während des Krieges reflektieren zu können. Sie war eben keine Marlene Dietrich, die als US-Soldatin zu den Truppen gehörte. Aber im Gegensatz zu ihrer berühmteren Kollegin Margaret Bourke-White, die im Abendkleid zu den Kriegsschauplätzen reiste, steckte Lee Miller wochenlang in derselben Hose. Sie wollte mittendrin sein. Dieser Drang zog sich durch ihr ganzes Leben.
Und plötzlich befinden wir uns auf der Farley Farm in East Sussex, Grossbritannien. 1947 heiratete Lee Miller Roland Penrose, gebar einen Sohn und wurde zu Lady Penrose, einer berühmten Gourmetköchin. Was passierte zwischen dem berühmten und furchtlosen Foto in Hitlers Badewanne und dem behüteten Leben auf der Farm? Die in der Ausstellung gezeigten Fotos von blühenden Gärten und üppig gedeckten Tischen wirken auf mich wie eine Lüge. Lee Miller erfand sich ihr ganzes Leben lang neu. Ihre neuste Erfindung war nun Lady Penrose, die gute Gastgeberin und Köchin, die nach dem Krieg an der Kochschule «Le Cordon Bleu» in Paris studierte. Viele der Rezepte, die Lee Miller kreierte, sind von Gerichten aus anderen Ländern inspiriert. In ihrer fotografischen Karriere reiste sie viel, berichtete auch für die Vogue über diese Reisen. Diese Rezepte sind also wahrscheinlich von jener Vergangenheit inspiriert, die sie eigentlich hinter sich lassen wollte. Lee Miller wurde zur Botschafterin für die Vogue, ob als Fotografin oder Fotografierte. Und obwohl ihr als Fotografin viele Freiheiten zugestanden wurden, schaffte sie es nie, sich von der Vogue zu lösen. Das frustrierte sie.
Andere Fotografien in der Ausstellung zeigen unter anderem Picasso, Leonora Carrington und Max Frisch beim Sonnenbaden oder mit einem Glas Wein in der Hand, lachend. All diese berühmten Künstler und Künstlerinnen gehörten zu ihrem Freundeskreis. Wieso gab sie ihr Künstlerdasein für eine schön eingerichtete Küche auf? Ich kann nur spekulieren, warum sie sich dazu entschied – es könnte eine Flucht vor der traumatisierenden Erfahrung des Krieges gewesen sein. Es ist bekannt, dass sie depressiv wurde und sich dem Alkohol zuwandte. Vielleicht verlor sie sich selbst und lebte ihren Drang, Neues zu erschaffen, in der Küche aus. War dieses letzte Kapitel ihres Lebens ebenso ein selbstbestimmtes? Oder hatte sie ihren eigenen Krieg verloren?
Ich verliess die Ausstellung ernüchtert. Wer war Lee Miller? Hatte der Krieg ihre Essenz zerstört? Wie veränderte er ihren Blick auf die Welt? Fand sie, wonach sie suchte? Die Ausstellung bot mir keine Antworten auf diese Fragen. Vielleicht wollte sie sich nie ganz entblössen, nie ganz zeigen und entschied sich dazu, ihren wahren Blick für sich zu behalten. Ich denke: Lee Miller wollte sich ihr selbstbestimmtes Leben nicht nehmen lassen. Und für immer ein Rätsel bleiben.
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