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Die Welt sehen – eine Sammlung

Ein alter Mann sitzt auf einem menschenleeren Platz und erzählt der Stille von seiner liebsten Kindheitserinnerung, die voll Sonne und Glück war. Dabei verliert sich sein Blick in der Atmosphäre von rohem Beton. Er lächelt selig, als stünde der kleine Junge aus seinen Gedanken direkt vor ihm. Als wäre diese eine Erinnerung der übriggebliebene Beweis für das Leben in ihm.

Die weisse Wintersonne scheint durch den Baldachin auf dem Berner Bahnhofplatz. Männer schreien andere Männer an: «Fickt euch alle!» Männer schreien Autos an: «Fussgänger sind auch Menschen!» Männer singen zwischen Säulen: «Stand by me!» Und ein Bus geht in Flammen auf. Manche Dinge ändern sich nie.

Es ist dunkel und Menschen eilen über den Bahnhofplatz. Ein mir bekanntes Gesicht eines wohnungslosen Mannes zeichnet stehend auf ein zerknittertes Blatt Papier, mit hastigen Strichen, das Papier auf seine Oberschenkel gepresst. Immer wieder blickt er auf, nimmt seine Umwelt kurz wahr, um sich dann wieder auf seine Zeichnung zu konzentrieren. Die Menschen rauschen an ihm vorbei, müssen irgendwo hin. Aber er zeichnet unbeirrt weiter. Denn er ist einfach da – in seine eigene Welt vertieft. Und ich beobachte ihn dabei. Sooft weigern wir uns, der Stille zu begegnen. Als könnten wir sie nicht ertragen.

Zwei Gestalten tanzen ausladend zu unsichtbarer Musik im Schatten des Bahnhofs. Sie liegen sich in den Armen, jubeln, während der Rest der Welt zu den Zügen rennt. Ihre Kopfhörer als Mikrokosmos, sozusagen.

Eine Frau mit dunklen langen Haaren und rot geschminkten Lippen verlässt den Bus. Mit einer Hand umklammert sie einen eingerollten Liebesroman – einer von der schnulzigen Sorte. Ein sanftes Gefühl der Vertrautheit überkommt mich. Sie verschwindet so plötzlich in der Tür der Drogenabgabestelle, als hätte ich nur von ihr geträumt.

Es lässt mich schmunzeln, wenn ich Menschen beobachte, die andere Menschen beobachten und dabei schmunzeln müssen.

Auf einer Bank neben der Berner Heiliggeistkirche liegt eine Tüte Karamellbonbons. Einige der Bonbons sind auf dem Boden verstreut. Die Öffnung der Packung gähnt mir entgegen, als wäre sie so drapiert worden. Eine halbe Stunde später sammelt eine Frau die braun glänzenden Bonbons vom nassen Boden auf. Nur die Packung bleibt unberührt auf der Bank liegen. Die einsam gähnende Packung auf der Bank hinterlässt in mir ein Gefühl der Hoffnung. Sie ist ein Sinnbild für alles, das bleibt. Übrigbleibt. Auch ich fühle mich manchmal wie die gähnende Packung Bonbons – ich bleibe auf der Bank liegen und lasse den Regen auf mich niederprasseln.

Ich warte auf die Strassenbahn, als eine Frau auf mich zukommt und mir eine Sonnenblume entgegenstreckt. Ob ich sie haben wolle, fragt sie mich. Die unbekannte Frau und ich diskutieren über das Schicksal dieser Blume. Sie spricht mit der halbverwelkten Pflanze wie mit einem verwaisten Kind. Die einsame Sonnenblume beruhigt mich. Vielleicht hat sie nun ihren Platz gefunden. Hoffnung. Alberto Giacometti sagte, wenn man hofft, gibt man auf. Wie erkenne ich diesen kurzen und entscheidenden Moment zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit? An welchem Punkt entscheide ich, weiterzumachen? Die Frau verschwindet in den unbeschwerten Nachmittag, die Sonnenblume thront noch immer in ihrem Griff.

Ein alter, dürrer Mann verschwindet eilig und verstohlen in eine Seitenstrasse, wo er die Lavendelblüten pflückt, die in Gruppen am Strassenrand wachsen. Er presst die Blüten in seine Hände, reibt sie aneinander und öffnet sie sanft. Er vergräbt sein Gesicht in den Blüten und schliesst dabei seine Augen. Er fühlt sich ertappt und blickt hastig über seine Schulter. Ich laufe an ihm vorbei, der Lavendelduft steigt mir in die Nase.

Ein Musiker sitzt nachts auf einer Bank in der Innenstadt. Eine Schwermut liegt in der Luft, der Wind klirrt. Er wirkt einsam, in diesem Moment. Er schliesst die Augen und spielt ein Instrument, welches klingt, als würden Regentropfen auf ein Dach prasseln. Er taucht die Stadt in eine zeitlose Stille. Und mir wird schmerzlich bewusst, wie weit ich davon entfernt bin, zu lieben. Vielleicht werden die Zeiten besser, denke ich, während ich den unsichtbaren Regentropfen zuhöre. Sie zwingen mich zur Hingabe in diesem Moment, obwohl ich innerlich brenne.

Ein Mann steht im Gegenlicht der sich anschleichenden Dämmerung. Neben ihm ragt ein dicker Baum in den rosa Himmel, der sich Schwarz vor der gleissenden Sonne abzeichnet. Der Mann zieht an seinem Dampfgerät und die Luft füllt sich mit weissem Rauch. Er verschwindet fast gänzlich in der Dampfwolke und steht weiter reglos da, als wäre er selbst ein Baum – mit Blick auf das vorbeirauschende Wasser des Flusses. Die Äste des Baumes verlieren sich im Himmel.

Wir sitzen im Kino. Die Leinwand streut ihr bläuliches Licht auf ausgewählte Stellen unserer Körper. Deine Handfläche schimmert sanft, während sie auf meinem Bein ruht. Teile deiner Fingerknochen sind von Licht umhüllt. Von Zeit zu Zeit betrachtetest du meinen freigelegten Brustkorb, der weiss strahlt, als würde er von innen heraus leuchten. Und mein Oberteil glitzert im Halbdunkel, als würde ich tanzen, im Scheinwerferlicht.

Durch ein Fenster sehe ich eine Frau, von dichten Bäumen geschützt. Sie bewegt sich durch ein Zimmer und immer wieder blitzt ihre weisse Haut zwischen den Blättern der Bäume hervor. Ein Mann tritt in das Zimmer und schliesst langsam die Türe. Das Licht der Zimmerlampe erlischt.

Ich stehe in meiner kleinen Küche und rauche. Im Haus gegenüber sitzt ein Mann auf seinem Balkon und tut dasselbe. Ich frage mich, was ihn beschäftigt, ob er sich alleine fühlt. Ich fühle mich alleine, während seine Zigarette in der Dunkelheit weiterglüht.

Ein Sturm weht über die Stadt – Kirchenglocken bimmeln durch die kreischende Wand. Ich bilde mir ein, dass nach dem Sturm alles anders sein wird. Als wäre der Sturm ein Zeichen für Veränderung. Ich warte auf die unerträgliche Stille. Der Sturm reisst meine Gedanken mit sich, rücksichtslos. Ich habe keine Angst.

Der starke Wind trägt den Gesang des Strassenmusikers in jede Gasse, in jede kleine Ritze dieser alten Stadt.

Ein flackerndes Licht in einer Toilette – irgendwo in einem kleinen pittoresken Dorf voller Illusionen, die sich verstecken und wo nichts Gutes geschah. Der See bleibt und wartet. Ich bin ein Gast und nehme die tosende Stille mit.

Der Schneiderladen in der Innenstadt riecht muffig, süsslich – nach altem Leben. Ausgediente Stoffmuster liegen neben sich stapelnden Kassenzetteln, vergilbte Kartonwerbung für Herrenanzüge ruht neben nicht abgeholten Kleidern. So fühlt sich eine Zeitreise wohl an.

Ich sitze am Bahnhof und warte. Neben mir wartet ein Mann mit Mütze und Kopfhörern. Er dreht wie wild an einem Zauberwürfel, während er auf die Stoppuhr neben sich linst. Sein durchschnittlicher Rekord liegt bei 15 Sekunden. Einmal zeigt seine Stoppuhr 26 Sekunden an. Sein Gesichtsausdruck bleibt dabei die ganze Zeit unbeeindruckt. Weder Triumph noch Enttäuschung sind ihm anzusehen. Das Tram kommt und ich befreie mich aus der Hypnose seiner Bewegungen.

Ich fahre im Tram über eine Brücke, unter mir glitzert das Wasser in der Abenddämmerung. Schwärme von schwarzen Vögeln wirken noch schwärzer vor dem satten Magenta des Himmels – die Natur malt die schönsten Farbverläufe. Und ich frage mich, wann ich endlich zu Hause bin.

Eine Frau im Tram blättert in einem Reiseführer über das Loire Tal. Ich träume mit ihr.

Grauverhangene Hügel thronen vor meinem Fenster. Braune und gelbe Blätter erliegen dem Gewicht des Nebels, schwer und hartnäckig schlängelt er sich in die Höhe, legt tiefe Gräber frei, erdacht und vertraut. Es ist ein Tanz in grau, stille Bäume säumen den Weg in Nichts.

Die untergehende Sonne färbt die alten Häuser rot – sie treiben den wartenden Himmel in die Enge. Eine unsichtbare Frauenstimme singt in den schattigen Gassen und erfüllt mich mit Tristesse.

Der Schnee flüstert auf mein Wohnwagendach, in dieser dunklen alten Nacht. Als würde er mich gänzlich umfangen, meinen alten Kummer ersticken wollen. Die Zeitlosigkeit des dumpfen Weiss begleitet mich in ein neues Jahr. Und ich gebe mich hin.

Neujahrstag 2021: Eine Frau mit gelben Fingern und geblümtem Filzhut tigert unsicher durch den Zug und weiss nicht, wo sie ist. Wir haben den verlassenen See und die stillen Weinberge hinter uns gelassen – die verschneiten Dächer der Vorstadt rasen auf uns zu. Ich weiss, wo ich bin. Aber nicht, wo ich hingehe – das wusste ich noch nie.

Eine Frau in Schwarz füttert eine Gruppe Tauben und schenkt ihnen Trost, bevor sie schwer beladen in den nächsten Bus steigt. Die Tauben bleiben stehen und bewegen sich nicht, als würden sie warten. Worauf warten wir?

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Autor: Susanne Grädel

Susanne Antoinette Grädel, wurde am 01.08.1990 in Bern geboren und hat einen Abschluss als Fotografin HF von der F+F Schule für Kunst und Design. Susanne schreibt Gedichte und Belletristik, malt, fotografiert und filmt. Seit über zehn Jahren versucht sie, ihre komplexen Gedanken und ausufernden Gefühle mit Lyrik und Belletristik in die Aussenwelt zu tragen. In ihren Texten untersucht Susanne die Melancholie in alltäglichen, ephemeren Situationen und entdeckt das poetische Potential in abgründigen Gedanken.

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