«I wanna be sedated» sangen die Ramones. Punk ist lange tot, aber der Wunsch nach Betäubung und Sedierung ist Wirklichkeit geworden. Erst vor zwei Tagen haben wir auf der #NextAct über Diskursfähigkeit geredet und die Notwendigkeit, miteinander ins Gespräch zu kommen. Das peinliche Schweigen und das Unverständnis, das Frankreich derzeit entgegenschlägt, machen deutlich, wie dringlich dieses Thema ist.
Schon mal von «Silencing» und «Victim Blaming» gehört? Mit diesen Kommunikationsstrategien versucht man, Menschen zum Schweigen zu bringen und Opfer für eine Tat verantwortlich zu machen. Diese Begriffe wurden vermehrt in den letzten Jahren genutzt, um auf die Bedürfnisse und die Diskriminierung von Minderheiten aufmerksam zu machen. Gleichberechtigung und die Verbindung mit Andersdenken, mit Menschen, die nichts zu sagen haben, weil man ihnen die Chance dafür nimmt, standen im Vordergrund. Ein ehrenwertes Ansuchen, das Unterstützung verdient.
Was aber, wenn eine Strategie missbraucht wird und aus Opfern plötzlich Täter werden? Das erleben wir gerade im Hinblick auf unser Nachbarland Frankreich. Ein Land, das Zielscheibe terroristischer Angriffe ist, muss sich rechtfertigen, wird aufgefordert, maßvoll zu sein, demütig, weniger stolz, weniger provokativ. Es ist nicht mehr die Rede davon, dass allein das Opfer zu bestimmen hat, wie es mit einer Tat umzugehen hat. Im Gegenteil! Das Opfer wird gemaßregelt und «gesilencet». Pssst! Schnauze! Wollt ihr, dass ganz Europa mit Schrecken überzogen wird? Dieser Tenor zieht sich durch Alltagsgespräche und Politik. Plötzlich ist wieder die Rede von der Arroganz der Grande Nation und ungebändigtem Nationalstolz, von einem Land, das an gnadenloser Selbstüberschätzung leidet und einen Präsidenten hat, der den Mund zu voll nimmt und Europa womöglich zu dominieren droht. Frankreich war immer der ewige Zweite, auch Macron vermochte bisher daran nichts zu ändern. Die Staatsverschuldung ist extrem hoch, das BIP niedriger als in Deutschland, das Land geplagt von Corona und Streiks. Frankreich aber kämpft, versinkt nicht in Lethargie und leckt sich nicht die Wunden.
Den leidigen Viktimisierungs-Diskurs durchbricht das Land und appelliert stattdessen an einen gemeinsamen Handlungsrahmen, an Ziele, die wir in einer unleugbaren Selbstgefälligkeit in den Hintergrund drängen. Glauben wir hierzulande, was Frankreich widerfährt, könnte uns nicht passieren? Das wäre Arroganz und maßlose Selbstüberschätzung. Frankreich weiß, was es bedeutet, ganze Bevölkerungsschichten zu verlieren an religiöse Fanatiker. Dass damit nicht nur unsere Gesellschaft auf dem Spiel steht, sondern auch unsere materielle Existenz, dürfte jedem klar sein. Warum aber handeln wir nicht dementsprechend?
Die Antwort ist simpel: Weil wir verlernt haben auf Worte Taten folgen zu lassen. On top of it sind wir selten gewillt, über unsere eigenen Bläschen und Grüppchen hinauszuschauen und auch mit Konkurrenten oder Gegnern Tacheles zu reden.
Wir rufen nach «Neuer Diskursfähigkeit», sind aber zugleich abgeschreckt von diesem Soziologen-Jargon, den wir für trocken, spröde und irrelevant für die Wirtschaft halten. Zu sehr klingt der Begriff nach Neusprech, nach Herrschaft und auch nach einer ultimativen Erkenntnis. Es ist aber auch ein Begriff, an dem man sich reiben kann, über den sich produktiv streiten lässt.
Weshalb brauchen wir eine neue Gesprächsfähigkeit? Weil wir von Hate Speech umgeben sind und der Journalismus sich weithin gesinnungsartig zeigt, weil die Fakten geringgeschätzt werden?
Ja, und mehr: Weil wir sedierte Rezipienten geworden sind, passive Genießer von Info-Fastfood. Dass das für Wirtschaft und Gesellschaft nicht folgenlos bleibt, ist klar: Auch Wirtschaft organisiert sich diskursiv, durch Sprache und Akteure, die ein Ziel verfolgen.
So klar diese Diagnose ist, so schmerzhaft auch, sie ist nur ein Teil dessen, was die Wirklichkeit ist und wie sie gesehen werden kann. Es gibt Menschen mit Courage, unabhängige Dichter, Denker, Journalisten, Unternehmer. Sie genießen jedoch zu wenig Foren und damit zu wenig Aufmerksamkeit. Diesen Menschen, diesen Mitstreitern im Kampf gegen Ignoranz, Feigheit und Trägheit bieten wir hier auf dieser Plattform eine Chance. Es ist schließlich nicht damit getan, ein angelsächsisches Modell à la Milton und Mills zu propagieren. Wir müssen die Voraussetzungen für eine selbstbewusste und eigenverantwortliche Denker und Redner schaffen. Mangel an Selbstvertrauen, Disziplin und Kenntnissen sind dabei nicht hilfreich.
Ich plädiere dafür, den Begriff Diskurs ruhen lassen und stattdessen den guten alten Begriff der Debatte wieder zum Einsatz kommen zu lassen. Ein Streitgespräch, das zu einer Abstimmung führen soll. Deshalb sollten wir uns in unseren Zeitdiagnosen weniger auf Schwächen, Ängstlichkeit oder Chaos in einem negativen Sinne fokussieren. Der Kommunikationsteilnehmer gilt viel zu sehr als Opfer einer Flut von Informationen, dem man mit ein paar simplen Tools aus der Klemme helfen muss.
Diese Straight-out-of-Hell-Diagnosen werden leider absolut gesetzt: Aus dem Gefühl der Unsicherheit sei Angst, aus Komplexität Chaos geworden, heißt es, und dafür bietet man nun vermeintlich passende Tools an. Die Chaos-Diagnose im negativen Sinne halte ich jedoch für brandgefährlich, da sie verkennt, dass wir uns in einem Chaotisierungsprozess befinden, den wir leiten können.
Die Lösungsangebote für eine vorgeblich neue Form von Business bleiben zudem alten Denkstrukturen verhaftet. Wir sind in einem Chaotisierungsprozess, den wir als Akteure mitbestimmen und nutzen können. Stattdessen sollen wir uns auf Reaktionen beschränken. Diese passive Jouissance, dieser passive Genuss an der Reaktion, führt zu einer sedierten, pathologisierten Gesellschaft.
Vorsicht vor allen Geistern, die an Ketten liegen, sagte bereits Nietzsche. Deshalb sollten wir unsere Sehnsucht stärken nach dem, was da draußen vor sich geht und uns lösen von unseren Ketten. Dafür dürfen wir nicht den Fehler machen, der Technologie auf den Leim zu gehen oder uns von ihr die Geschwindigkeit diktieren lassen. Wir sollten sie nutzen, fördern, pushen, ja! Dennoch gilt: Brains first! Dafür brauchen wir aber Kraft, eine Gewalt im ursprünglichen Sinne (indogerm. waldan: über etwas verfügen, herrschen). Ich meine damit nicht die Unterjochung des anderen, aber Selbstbeherrschung und Inanspruchnahme einer Diskussionslinie, die Wahrung eines Standpunktes und die grundsätzliche Akzeptanz eines gemeinsamen Rahmens.
Unsere Wahrnehmung aber sollten wir wieder auf das Gemeinsame konzentrieren, nicht auf die Zersplitterung. Märkte sind schließlich nichts anderes als soziale Sphären, in denen Akteure ihre ökonomischen Handlungen erfolgreich koordinieren können, weil sie über gemeinsames Wissen und die Möglichkeit der Kommunikation verfügen. Wie können wir aber diesen gemeinsamen Rahmen erzeugen? Man sieht am Beispiel Frankreichs, was passiert, wenn der gemeinsame Rahmen, in diesem Fall der Laizismus, verloren geht. «Ensauvagement»/Rebarbarisierung findet statt.
In Deutschland verhält es sich anders. Die Debattenkultur, das Ertragen und fruchtbar machen unterschiedlicher Meinungen wird zerstört durch eine totale Durchrechtlichung unserer Gesellschaft. Regeln en masse haben uns in eine Sackgasse geführt. Der Gewaltbegriff hat einen Wandel von psychischer über physische Gewalt bis zum entgegenstehenden Willen durchlaufen. Die zunehmende Durchrechtlichung der Gesellschaft aber führt dazu, dass wir strafrechtliche Denkweisen übernehmen. Dadurch wird der entgegenstehende Wille, der gegnerische Gedanke inkriminiert, ja kriminalisiert. Hinzu kommt eine Perspektivenverherrlichung. Der gemeinsame Rahmen wird in Deutschland durch die Überbetonung der Perspektiven zerbrochen: Herkunft, Geschlecht … Wer aber spricht und was sagt diese Person? Das sollte zentral sein.
Wir brauchen eine Rückbesinnung auf klassische Tugenden wie Höflichkeit, Disziplin, rhetorische Fertigkeiten und zugleich Raw Power.
Wir müssen schürfen, ausgraben. Ängstlich ist der, der kein Fundament hat, kein historisches Bewusstsein. Ohne dieses verpufft unsere Kraft.
Ökonomisch zu handeln ist mit einem ewigen Aushandeln, der permanenten Achtsamkeit ohnehin nicht möglich. Weniger Zimperlichkeit, Schluss mit der Viktimisierung! Das heißt nicht, dass wir zurückfallen sollen in eine hierarchische Gesprächssituation, die die Position des anderen missachtet. Ganz im Gegenteil: Es ist an der Zeit, möglichst viele unterschiedliche Menschen einzubinden, auch zum Gespräch zu verführen und denjenigen, die den «sog, herrschenden Diskurs» zerstören wollten und ihn stattdessen übernommen haben, eine klare Absage zu erteilen. Elitäre, akademische Debatten führen zu noch mehr Segregation. Das synthetisch Ausgedachte kann niemals gelingen. Konfuzius und Marc Aurel hätten ganz ohne Globalisierung eine gemeinsame Ebene gehabt: Gemeinsinn und eine gewisse Strenge gegenüber sich selbst, auch Seneca und Laotse. Dazu noch Raw Power – und damit meine ich keinen T-Shirt-Aufdruck – und der Weg zu einer guten Debatte mit Output, mit anschließender Lösung steht offen.
Frankreich allein zu lassen, hieße auch unsere gesellschaftlichen Grundlagen zu zerstören und uns selbst auch wirtschaftlich einen langen schmerzhaften Gnadenstoß zu versetzen.
Reden wir mit Frankreich, unterstützen wir Frankreich, handeln wir mit Frankreich und kaufen wir französische Produkte! Beweisen wir, dass wir uns von Boykott, Kommunikationsverweigerung und perfiden Strategien nicht und niemals in die Enge treiben lassen.