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Die Verstossenen – Teil 3

Die Heilerin

Drei Monate war es her, seit Taisha bei ihrer Tante Nadeen in Mexiko ankam. Die ersten vier Wochen waren die Hölle – sie wurde auf eine strikte Diät gesetzt und ihr Körper musste sich daran gewöhnen, keine Drogen zu bekommen. Taisha war sich gar nicht bewusst, was sie ihrer Seele und ihrem Körper eigentlich antat, als sie regelmässig zu viel trank und sich die unterschiedlichsten Drogen reinpfiff. Heroin, Crack, Gras, Alkohol – das alles lag bei ihrem Vater im Haus einfach so herum und sie dachte sich nichts dabei. Niemand kümmerte sich um sie und sie begriff auch nicht, wie traurig sie darüber war. Hier kam all dies hoch. Ihre Tante kümmerte sich in den ersten Wochen rührend um sie und gab ihr den Mut, nicht aufzugeben. Noch nie hatte Taisha so viel liebevolle Aufmerksamkeit bekommen. Sie zog schon früher die Aufmerksamkeit der Leute auf sich, aber meist, weil sie sich danebenbenahm. Plötzlich fühlte Taisha eine tiefe Scham und ihr Selbsthass kochte auf. Sie kannte dieses Gefühl sehr gut, wenn das Herz sich zusammenzieht und der Magen flau wird. In diesen Momenten waren die Drogen ihre Rettung. Aber nicht dieses Mal. Dieses Mal musste sie all diese Gefühle aushalten und sie weinte sehr viel. Aber sie zweifelte keine Sekunde daran, dass es die richtige Entscheidung war, ihre Tante zu suchen. Sie wollte nicht mehr zurück nach Hause.

Es war heiss in der Wüste. Die Grillen zirpten und nachts hörte Taisha die unheimlichsten Geräusche. Tiere, die jaulten, kratzten, surrten, bellten. Schritte durch das Haus. Und in anderen Nächten war es totenstill. Tagsüber hallte Musik durch die Gänge und Menschen sprachen miteinander. Taisha hatte die anderen Bewohner des Hauses noch nicht kennen gelernt. Tante Nadeen meinte, dass sie sich erst erholen solle. Die meiste Zeit verbrachte sie also in ihrem farbig gekachelten Zimmer, mit Blick auf den grossen Garten. Oft beobachtete sie eine junge Frau, die im Garten arbeitete. Sie trug einen rosa Sonnenhut und ein rosa Kleid. Es war, als sprach sie mit den Pflanzen. Sie strich den Tomaten über die Blätter, lachte mit den Blumen und ging so vorsichtig mit der Erde um, als sei sie aus purem Gold. Taisha fand das merkwürdig, aber auch hypnotisierend. Sie hatte Angst davor, die anderen Bewohner kennen zu lernen. Diese Menschen hier kochten für sie und gaben ihr ein Zimmer, obwohl sie sie gar nicht kannten. Sie wollte keine Last sein, sich von niemandem abhängig machen. Seit ihre Mutter gestorben war, sorgte sie für sich selbst und für ihren Vater. Sie war es nicht gewohnt, Hilfe anzunehmen und empfand grosse Mühe, sich ihrer Tante gegenüber zu öffnen. Aber Nadeen drängte sie nicht. Sie umarmte sie einfach und liess sie wieder allein. Taisha war gerne allein, auch wenn in der Einsamkeit viele Gefühle auftauchten, die sie früher weggedrückt hätte. Die sie mit Drogen betäubt hätte, nur um sich für eine kurze Zeit frei zu fühlen. Aber sie spürte, dass sie die Gefühle fühlen wollte. Dass diese Tränen schon lange darauf warteten, von ihr geweint zu werden. Sie schrieb all ihre Gedanken in ihr Tagebuch, das sie mitgebracht hatte. Aber mit ihrer Tante konnte sie noch nicht darüber sprechen. Taisha wusste, dass Tante Nadeen ihr erzählen könnte, was mit ihrer Mutter geschah und so endlich ihre offenen Fragen beantwortet wären. Aber sie hatte schreckliche Angst davor.

Die Zeit verging und eines Nachts trat Taisha aus ihrem Zimmer. Sie wusste nicht wieso – eine innere Stimme lockte sie nach draussen. Sie lief und lief durch den kühlen, weiss getünchten Gang. Ihre nackten Füsse glitten lautlos über den grünen Steinboden, der im Mondlicht glitzerte. Der Vollmond verströmte sein silbernes Licht in jede Ecke des Hauses. An den Wänden hingen bunte Malereien. Vor einem der Bilder blieb Taisha wie versteinert stehen. Es zeigte ein geometrisches Symbol, das sich in allen Farben des Regenbogens in der Unendlichkeit zu verlieren schien. Die Präzision, mit dem dieses Symbol gemalt wurde, faszinierte Taisha. Schon früher hatte sie sich für Malerei interessiert, aber das hatte sie nie jemandem erzählt. Heimlich schlich sie sich in die Museen ihrer Heimatstadt und verbrachte Stunden in den riesigen Hallen, die für sie das Paradies bedeuteten. Besonders fasziniert war sie von Lee Krasner gewesen, einer abstrakten und expressionistischen Künstlerin. Das Farbenspiel in Lee Krasners Werken berührte sie zutiefst. Mit welcher Zärtlichkeit sie die Farbtupfer auf die Leinwand brachte! Wie frei sich die Künstlerin ausdrückte! Wie ausladend ihre Pinselstriche oft schienen, um dann wieder ganz introvertiert und fast zaghaft zu werden! Wie sehr wünschte sich Taisha, sich auch so mutig und frei ausdrücken zu können. Aber sie versuchte es nicht einmal. Zu Hause hatte sie keinen Ort für sich, an dem sie das hätte tun können, geschweige denn passende Farben oder Papier. Das Museum war zudem der einzige Ort, an dem Taisha offen weinte. Und an dem sie träumen konnte. Zu Hause konnte sie sich das nicht erlauben, denn sie musste auf ihren kranken Vater aufpassen. Ihr Vater hingegen weinte oft im Drogenrausch und klammerte sich an Taisha. Sie durfte nicht weich sein, sie musste die Verantwortung für ihren Vater übernehmen. Ihn ins Bett bringen, ihm genug zu Essen kochen, ihm zuhören. Und doch war sie ihrer Seele verletzlicher, als sie je zugegeben hätte. Das war ihr hier in der Wüste klar geworden.

Nun stand sie also vor diesem Bild und dachte an all die Tage im Museum, an Lee Krasner und an ihren Vater. Und da brach es aus ihr heraus. Die Tränen liefen heiss über ihre Wange und tropften auf den grünen Boden. Sie weinte und weinte, hörte nicht mehr auf. Taisha sank zu Boden und bedeckte ihr Gesicht mit ihren Händen. Die Farben des Bildes, vor dem sie sass, hatten sich in ihre Seele eingebohrt und zeigten sich ihr nun vor dem inneren Auge. Das Symbol spiegelte sich, teilte sich in tausend Stücke und schwirrte um ihren Kopf herum. Es tanzte im Wind und verlor sich in der Unendlichkeit. Die Farben leuchteten so hell, dass Taisha erschrak. Was war das gerade? Hatte sie eine Halluzination? Perplex erhob sie sich vom kalten Boden und blickte zögerlich das Bild an, welches stumm vor ihr an der Wand hing. Es hatte sich nicht bewegt, es sah noch genauso aus wie vorher. Je länger Taisha das Bild ansah, desto bunter erschien es ihr, desto mehr Details erkannte sie in der geometrischen Figur. Noch mehr Symbole zeigten sich – Kreuze, Kreise, Quadrate. Was hatte das zu bedeuten? Und sie weinte weiter, die Tränen liefen über ihre erröteten Wangen und das Bild verschwand hinter einer nebligen Wand.

Als sie sich von der Malerei lösen konnte, trocknete Taisha ihre Wangen und setzte ihren nächtlichen Spaziergang durch das Haus fort. Viele Kakteen, Palmen und fleischblättrige Pflanzen säumten den Gang. Durch hohe Fensterfronten konnte Taisha die Sterne und den Vollmond sehen. Die Wüste erstreckte sich still und dunkel vor dem Haus. Die spitzen Felsen der nahen Berge ragten schwarz in den Himmel. Sie wusste nicht wie lange sie im Flur geweint hatte, aber sie fühlte sich befreit und leicht. Auf einmal war sie am Ende des langen Ganges angelangt und stand vor der Hintertür, die hinaus auf eine Veranda und in den Garten führte. Vorsichtig öffnete Taisha die hölzerne Tür und trat in die milde Nachtluft. Da erkannte sie die junge Frau, die sie schon so oft im Garten beobachtet hatte. Ruhig und sanft schritt sie zwischen den Blumen und Kräutern hin und her und schien Blätter und Zweige abzuschneiden. Aber warum tat sie das in der Nacht? Taisha blieb stehen und beobachtete sie, doch die junge Frau schien sie nicht zu bemerken. Ihr rotes langes Haar leuchtete im Mondlicht und wehte im sanften nächtlichen Wind. Langsam setzte Taisha ihren nächtlichen Spaziergang fort und trat auf die Frau zu. Diese drehte ihren Kopf in Taishas Richtung und lächelte. Sie sprach kein Wort und befahl ihr mit einer Geste, sie solle nähertreten. Taisha betrat also zögerlich den Blumen- und Kräutergarten. Die Zweige und Blüten schüttelten sich im Wind, der nun wehte. Er pfiff in den Bergen. Die Frau nahm Taisha an der Hand und führte sie zu einem Strauch voller kleiner violetter Blüten. Die Blätter des Strauches waren gross und fleischig grün. Taisha fand den Anblick der Pflanze ulkig, mit diesen riesigen Blättern und den klitzekleinen Blüten. Die junge Frau streichelte den hüfthohen Strauch, flüsterte ihm etwas zu und zupfte einige der Blüten vorsichtig ab. Sie wandte sich Taisha zu und übergab ihr die Blüten. Diese formte ihre Hände zu einer Schüssel und starrte baff auf die kleinen rundlichen Blüten, deren violette Farbe von einer unglaublichen Intensität waren. Taisha hatte noch nie solche Blumen gesehen. Bei näherer Betrachtung erkannte sie, dass den Blüten eine Art Fühler wuchsen. Wie Drähte blitzten diese im Mondlicht auf. Eine Weile betrachtete sie diese sonderbaren Blüten in ihrer Hand und spürte, wie sie anfing, zu lächeln. Sie empfand eine Zärtlichkeit für diese Blumen, wie sie sie noch nie zuvor gespürt hatte. Die junge Frau strich Taisha über das Gesicht und zeigte ihr erneut mit Gesten, sie solle die Blüten essen. Doch Taisha weigerte sich zuerst und schüttelte den Kopf. Wie sollte sie das tun? Doch die junge Frau liess nicht locker. Und schloss Taisha ihre Augen, führte ihre Hände zum Mund und fing die Blüten mit ihrer Zunge auf. Im Mund angekommen, schluckte sie sie, ohne zu kauen.

Als Taisha die Augen öffnete, war die junge Frau verschwunden. Sie fühlte eine leichte Angst in sich aufsteigen, denn in der Ferne heulte ein Tier. Aber komischerweise verwunderte es Taisha nicht, dass die Frau verschwunden war. Es schien ihr ganz natürlich zu sein. So kehrte sie ganz langsam zum Haus zurück und blickte noch einmal in den Himmel hinauf. Der Mond war nun gesunken und würde bald hinter den Bergen untergehen. Taisha hatte keinerlei Zeitgefühl, genoss aber die Leere, die sie gerade empfand. Die Sterne glitzerten über den Bergen und gaben Taisha ein sicheres Gefühl. Sanft umwehte sie eine Brise, die die Pflanzen des Gartens tanzen liess. Fühlte sich so Glück an? Zufriedenheit? Ja, sogar Liebe? Taisha lächelte noch immer, als sie zurück in ihr Zimmer trat und die Tür hinter sich schloss. Sie blickte ein letztes Mal aus dem Fenster, um zu sehen, ob die junge Frau vielleicht zurück in den Garten zurückkehrte. Aber da war niemand. Nur das Tier heulte noch in der Ferne. Sie legte sich in ihr Bett und schlief in kurzer Zeit ein.

Auf einmal riess Taisha ihre Augen auf und fand sich im Haus ihres Vaters wieder. Es war stockdunkel, aber sie erkannte den Geruch des Hauses. Aber etwas war komisch – sie fühlte sich viel kleiner, als sonst. Sie blickte an sich herunter und erkannte Pfoten. Sie wurde zum Tier in einem grauen Fell. Sie war ein Wolf! Okay, das musste ein Traum sein, dachte sich Taisha. Sie versuchte sich zu orientieren, hatte aber keine Ahnung, wie das Wölfe tun. Sie schnupperte wie wild und fand die Treppe zu den Schlafzimmern. Noch immer war es finster, sie erkannte nichts. Oben angekommen, hörte sie ihren Vater weinen. Sie wollte ihm zu Hilfe eilen, aber sie sah nichts. Sie hörte ihn nur. Sein Schluchzen war ganz nah, als würde er neben ihr stehen. Sie rief nach ihrem Vater, aber er antwortete nicht. Dann hörte sie, wie er sein Heroin köchelte. Dieses Geräusch würde sie nie in ihrem Leben vergessen. Er hörte ihren Vater fluchen, nach Taisha rufen. Sie habe ihm jetzt zu helfen. Sie müsse das tun, seit ihre Mutter nicht mehr da ist. Es sei ja schliesslich ihre Schuld, dass sich ihre Mutter umgebracht habe. Taisha erstarrte auf der Stelle. Sie erinnerte sich an diese Situation. Es war kurz nach dem Tod ihrer Mutter, als ihr Vater im Drogenrausch Taisha erzählte, sie wäre schuld am Tod ihrer Mutter. Dass sich ihre Mutter umgebracht hatte, konnte sie nie so richtig glauben. Aber das war die Geschichte, die sie von ihrem Vater wieder und immer wieder zu hören bekam. Also wurde sie auch zu ihrer Wahrheit. Aber tief in ihrem Inneren glaubte sie nie daran. Sie wollte ihrem Vater jetzt nicht mehr helfen. Es war verdammt nochmal nicht ihre Aufgabe. Immer wieder hatte sie sich für diesen Mann aufgeopfert. Hatte sich für alle Männer aufgeopfert. Hatte sich schlagen lassen, hatte sich einreden lassen, was für ein schlechter Mensch sie sei. Damit solle jetzt Schluss sein. Taisha entfernte sich vom Zimmer ihres Vaters und trat in ihres. Die Dunkelheit lichtete sich und sie konnte mit ihren Wolfsaugen jeden Zentimeter des Zimmers erkennen. Erinnerungsstücke lagen verstreut auf dem Boden, es roch nach dem Parfum ihrer Mutter. War sie hier? Taisha fühlte sich so alleine, weil sie sich von ihrem Vater getrennt hatte. Doch sie begriff, dass dies notwendig war. Dass die Schuldgefühle, die sie ihrem Vater gegenüber hatte, sie davon abhielten, ein neues Leben zu leben. Überhaupt zu leben.

Taisha die Wölfin legte sich auf den Boden ihres Zimmers und weinte. Sie sah nun alles so klar. Ihre Mutter, wie sie Taisha anlächelte, als diese noch ein Baby war. Wie oft sie zu ihr sagte, dass sie sie liebte. Wie sollte ein kleines Kind verantwortlich für den Selbstmord eines Menschen sein? Taisha fing an zu heulen wie ein Wolf. Nun, sie war ja ein Wolf.  Plötzlich verstummte sie und spürte eine warme Umarmung. Es goldenes Licht erfüllte das Zimmer, das ganze Haus, und umarmte Taisha. Es war, als würde dieses Licht all den Schmerz und die Trauer einfach aus ihrem Herzen spülen. Und auf einmal hatte sie die tiefe Gewissheit, dass sie nicht Schuld war am Tod ihrer Mutter. Sie konnte auch nichts dafür, dass es ihrem Vater so schlecht ging und er an den Drogen starb. Sie wollte sich nicht mehr schuldig fühlen. Sie wollte Verantwortung für ihre Gefühle und für ihr Leben übernehmen. Sie hatte genug gelitten, genug lange in der Dunkelheit gelebt. Sie wollte nun endlich alles erfahren. Sie wollte dahinter sehen, im Dunkeln sehen können wie ein Wolf. Sie wollte sich endlich befreien, ihr Herz aus der Enge ihrer Vergangenheit befreien und selbst zur weiten Wüste werden.

Es war schon hell, als Taisha – nun wieder in Menschengestalt – ihre Augen öffnete. Ihre Tante Nadeen sass an ihrem Bett, mit einer Tasse Tee in der Hand. Schlagartig war sie hellwach und erzählte ihrer Tante aufgeregt von letzter Nacht. Diese nickte nur, als wüsste sie genau, was geschehen war. Taisha offenbarte ihrer Tante nun all ihre Gefühle, ihre Wut, ihre Scham, ihre Schuld, ihre Trauer und ihre Angst. Auch erzählte sie davon, wie sie überhaupt zu ihrer Tante kam. Welche Leute sie auf ihrem Weg getroffen hatte, dass sie so viele offenen Fragen hatte. Nadeen sagte ihr, dass nun die Zeit gekommen sei, um all ihre Fragen zu beantworten. Taisha nickte erleichtert. Sie setzte sich aufrecht hin und begann, zu sprechen. Die ersten Fragen, die aus ihr heraussprudelten, waren: Wer war diese junge Frau und konnte es sein, dass sie durch diese Blüten einen solchen realen Traum erlebte? Nadeen nickte und erklärte, dass diese junge Frau eine Heilerin sei, die mit den Pflanzen sprach, aber nicht mit den Menschen. Ihre Gabe war es, in die Seele der Menschen zu blicken. Sie gab ihr diese Blüten, weil sie erkannte, dass diese genau richtig waren für Taishas Heilungsprozess. Und es war kein Traum, den Taisha hatte – sie begab sich mithilfe der Pflanzen auf eine Reise tief in ihre Seele. Taisha runzelte die Stirn, denn sie hatte noch nie zuvor gehört, dass jemand mit den Heilkräften der Pflanzen sprechen konnte. Und die Vorstellung, dass sie in ihre Seele reisen könnte, ängstigte sie. Aber tief in ihrem Inneren wusste sie, dass Nadeen die Wahrheit sagte. Sie wusste auch, dass alles, was sie in diesem Haus erlebte, sicher und richtig war. Denn sie fühlte sich seit letzter Nacht wie eine komplett andere Frau. Leichter, selbstsicherer und ja, sogar geliebt. Und dies waren natürliche Gefühle, so, als hätten sie schon immer zu ihr gehört. Nadeen sagte, dass diese Gefühle ja auch schon immer zu ihr gehört hätten. Dass jedoch die Umstände in ihrem Leben dazu geführt hätten, dass ihr diese Gefühle abgesprochen wurden. Und dass sie sich jetzt wieder an sie erinnern würde.

Taisha und Nadeen brachen am Nachmittag zu einem Spaziergang in die Wüste auf. Die Sonne brannte nicht mehr allzu sehr und riesige Wolkenberge bedeckten den hellblauen Himmel. Taisha trug ein weites, bodenlanges weisses Kleid und keine Schuhe. Ihre langen schwarzen Haare flatterten offen im warmen Wüstenwind. Sie fühlte sich leicht, trotz der Gespräche mit Nadeen. Taisha erfuhr, dass ihre Mutter sich nicht umgebracht hatte. Ihr Vater spritzte ihrer Mutter zu viel Heroin auf einmal. Sie erlitt eine Überdosis. Nadeen wollte die kleine Taisha damals mit in die Wüste nehmen, aber ihr Vater weigerte sich. Es gab auch nie ein Ermittlungsverfahren gegen ihren Vater. Für die Polizei war die Sache klar – eine Überdosis einer Drogensüchtigen. Taisha weinte eine halbe Stunde lang, schlug auf ihr Kopfkissen ein, war so wütend auf ihren Vater. Und all die Jahre gab er ihr die Schuld an allem! Taisha entschuldigte sich für ihren Wutanfall. Aber Tante Nadeen sagte, dass ihre Wut berechtigt sei. Dass sie sie fühlen dürfe. Dass sie schreien dürfe. Jedes Gefühl müsse gefühlt werden. Aber dass sie sich auch an ihren Traum erinnern sollte und das Versprechen, dass sie sich selbst gegeben hatte – sich selbst zu befreien, von allem, was sie zurückhielt, zu leben.

Auf dem Spaziergang sprachen sie kein Wort. Nadeen hatte ihr gesagt, sie solle die liebende Kraft der Natur spüren. Sie solle achtsamen Schrittes gehen, den Sand zwischen ihren Zehen spüren. Den blauen Himmel sehen, die Wolken beobachten. Einfach sein. Noch nie durfte Taisha einfach nur sein, noch nie hatte sie sich selbst erlaubt, einfach nur zu sein. Ohne Selbstvorwürfe, ohne Angst und ohne Schuld. Es war befreiend, selbst darüber zu entscheiden, wie sie sich fühlen wollte. Sie wusste, sie hatte noch einen langen Weg vor sich. Aber sie fühlte sich, als wäre sie zu Hause angekommen.

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Autor: Susanne Grädel

Susanne Antoinette Grädel, wurde am 01.08.1990 in Bern geboren und hat einen Abschluss als Fotografin HF von der F+F Schule für Kunst und Design. Susanne schreibt Gedichte und Belletristik, malt, fotografiert und filmt. Seit über zehn Jahren versucht sie, ihre komplexen Gedanken und ausufernden Gefühle mit Lyrik und Belletristik in die Aussenwelt zu tragen. In ihren Texten untersucht Susanne die Melancholie in alltäglichen, ephemeren Situationen und entdeckt das poetische Potential in abgründigen Gedanken.

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