Our Darkness

No Future war mehr Thema denn je, doch bereits lag zwischen der Geburt von Punk und dem damaligen Jetzt eine ganze musikalische Generation (so sah ich das jedenfalls damals), also musste eine andere Jugend-Subkultur her. Auch war das Konzept von Punk für meinen eigenen Massstab zu radikal (immerhin lebte ich auf dem Land) – und viel zu wenig ästhetisch. Aus heutiger Sicht ein Missverständnis, war doch der Punk der Sexpistols in erster Linie eine musikalisch Spielart von Rock (und kein Lifestyle), wie ich in der bewegenden Dokumentation «Never Mind the Bollocks, Here’s the Sex Pistols» am 19. Februar im Schweizer Farbfernsehen sehen durfte. (Und in zweiter Linie ein Marketingvehikel von Malcolm McLarens Laden, um Mode zu verkaufen.)

Doch zurück zu meiner kulturellen Identitätssuche in der Mitte der 1980er. Es musste irgendwas Düsteres sein. Es musste aber auch eine gewisse intellektuelle Abgehobenheit haben, so dass ich mich selbst als Nerd (ich hatte einen Commodore C64 und war im Schachclub!) irgendwie überlegen fühlen konnte. Es musste mir musikalisch gefallen. Und modisch so, dass ich das durchaus anziehen konnte. Und der Style der davon angezogenen Mädchen sollte natürlich auch passen. Dies alles erkannte ich am ehesten im New Wave wieder, damals viel breiter und diffuser gesteckt als heute vermutet. Es war die Zeit, in der ich meine Klamotten auch mal im Soho kaufte und meine Schuhe im Booster. Und in der eine XXL-Dose Taft Ultrastrong Haarspray zur Grundausstattung gehörte (Breaking News: es waren nicht die Autos, die die Ozonschicht zerstörten, sondern New Wave!) und – das Wichtigste – in der man im Jugendtreff bei der Disco zu Alien Sex Fiend alleine gegen die Wand tanzte.

Gottseidank war das Mainstream-Fernsehen damals voll auf meiner Seite. Die Chartsendung «Formel Eins» zeigte gnadenlos alles queerbeet: sie war für viele Bands und Künstler Sprungbrett (etwa für Modern Talking oder Alphaville) und inszenierte oft die Videoclips gleich selber, sie war aber auch der richtige Platz für jede Art von Primeur (Falcos Skandalclip «Jeannie» wurde hier zum ersten und für lange Zeit zum einzigen Mal gezeigt, weil viele ältere Zuschauer und Amtsstellen glaubten, es handle sich um einen Tatsachenbericht).

Und sie gab desorientierten Jugendlichen wie mir die Möglichkeit, neue Musik zu entdecken. Musik, die über die Standard-Interpreten wie Depeche Mode oder The Cure hinaus ging. Hart und düster war kein Grund, nicht in Formel Eins aufzutreten. Am 18. Februar 1985 lernte ich so Killing Joke mit «Love like Blood» kennen, am 23. September Propaganda mit «P.-Machinery» und am 21. Oktober Jesus and Mary Chain mit «Just like Honey». Diese illustre Gesellschaft wurde am 4. März 1985 in der Folge 76 erweitert durch eine gewisse Anne Clark mit «Our Darkness». Der rhytmisch-hypnotische Electrobeat fuhr mir sofort ein. Und dann: Anne sang nicht, sie sprach ihren Text. Das war speziell und – weil ich kaum ein Wort davon verstand – bestimmt auch sehr intellektuell.

Im Pressetext stehts dann so: Schon als Teenager experimentiert die Londonerin Anne Clark mit Synthesizer-Klängen und tüftelt an elektronischen Beats. Schliesslich tritt sie erstmals im Cabaret Futura von Richard Strange auf – gemeinsam mit der eben gegründeten Band Depeche Mode. Anne entwickelt parallel zu ihren musikalischen Experimenten einen eigenwilligen Sprechgesang, welcher der Gattung «Spoken Word» zugerechnet wird. Inhaltlich setzen sich die Songs mit politischen Themen und den Unzulänglichkeiten des Menschseins auseinander.

Fast irgendwie die Mutter von Eminem.

Depeche Mode gibt es als eine der wenigen Bands von damals immer noch. Anne Clark auch. Am 11., 12. und 13. Mai tritt sie zusammen mit Murat Parlak am Piano und Tanzperformance im Jugendkulturhaus Dynamo, Zürich auf. Die Tickets für diese Zeitreise gibts hier: www.ticketcorner.ch.

Zur Einstimmung:
Anne Clark, Our Darkness (Formel Eins Videoclip 1985):

Anne Clark, Sleeper in Metropolis (1984):

Anne Clark, Poem without words (1987)

Etwas über die Sex Pistols:
http://www.sendungen.sf.tv/stars/Nachrichten/Archiv/2012/01/18/Uebersicht/Sex-Pistols

Etwas über Formel Eins:
http://de.wikipedia.org/wiki/Formel_Eins_(Fernsehserie)

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Autor: Henrik Petro

In den 90ern prägte Henrik als Moderator von Sputnik TV trotz seines Ostschweizer Dialektes die Erinnerungen der Partyjugend bis heute. Während mehrere Jahre war er Chefredaktor des gleichnamigen Magazins. Später schrieb er fürs Fernsehen (u.a. Chefautor von Dieter Moor und Rob Spence, eine Folge der SitCom "Fertig Luschtig") und produzierte auch (u.a. 150 Folgen von "Der Scharmör"). Er war die ersten Jahre von Radio Street Parade Musikchef und war dann später einige Jahre Autojournalist.

Arbeitet heute hauptberuflich als Frauenversteher, aber da er von seinen Freundinnen, BFFs, Kolleginnen und wem er sonst noch sein epiliertes Ohr leiht, kein Geld dafür verlangen kann, dass sie ihm ihre Männerprobleme in allen Details schildern, arbeitet er zusätzlich noch gegen Entgelt als Chefredaktor in einem Fachverlag. Damit sein Hirn unter dieser Belastung (und wegen Handy-Antennen) nicht explodiert oder eine Selbstlobotomie durchführt (was ihm zwar die Aufmerksamkeit von Gunter von Hagen garantieren und somit zur Unsterblichkeit verhelfen würde), schreibt er Kolumnen für kult. Am liebsten über menschliche Begegnungen. Oder überhaupt über Menschen. Oder darüber, was Menschen so tun. Oder getan haben. Oder tun könnten. Oder sagen. Oder gesagt haben. Oder sagen könnten.

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