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Die Wohneinheiten sind auch bloss Tollhäuser oder Wenn die Hirnmasse zu Schaum wird

Vau, der Nagel.

Sie kann nicht «wohnen», «sitzen» oder «schlafen» sagen, jene umsichtige Frau Hauswartin, die über unzählige Wohneinheiten wacht, in denen ausschliesslich Erwachsene (ab 18) hausen dürfen. Sie sagt «wohni-wohni machen», «sitzi-sitzi machen» und «schlafi-schlafi machen». Das ist schlimm, ganz furchtbar. Immerhin kennt sie die Gewohnheiten aller Bewohnerinnen und Bewohner der Trakte, die sie wartet – teilweise besser als es erlaubt wäre, ist sie doch eine grosse Überwacherin, keineswegs schreckt sie vor dem Einsatz von Mikrophonen und Kameras zurück. Sie putzt im Treppenhaus gnadenlos und fordert die Mieten, nach einem Tag Verspätung nur, erbarmungslos ein: «Machi-machi Sie jetzt endlich zahli-zahli!» Soweit, so gut, so seltsam. Noch bemerkenswerter sind bloss die Dinge, die sich Tag für Tag in den Wohneinheiten ereignen. Einige Exempel.

Wohneinheit 23.Frau Hent hat sich wieder im Badezimmer eingeschlossen, das ist ihr Rückzugsort, ihre Bastion, die ihr Gatte niemals stürmen darf und kann, egal wie dringend er müsste. «Soll er doch in den Schirmständer schiffen», denkt Es in Frau Hent, dies keineswegs lieblos, sie hat schliesslich schon oft gesehen, wie ihr Mann schifft, manchmal nicht ganz ohne Vergnügen, ein Impuls aus der Kindheit, der erwachsen geworden ist. Vielmehr ist der Gedanke Ausdruck einer Verteidigungshaltung, ist das Logis, in dem das Ehepaar haust, doch nicht gerade geräumig. Und es gibt Dinge, die Frau Hent allein tun will. Im Moment arbeitet sie daran, ihren Würgreflex endgültig zu bezwingen. Auf dem Internet hat sie einen illustrierten Lehrgang zu diesem Thema gefunden, geschrieben von einer freundlichen Dame. Diesen Kurs macht sie jetzt durch, in der Einleitung zum digitalen Lektionenbündel wurde der Umstand angesprochen, dass 25 Prozent der Frauen keinen Würgreflex hätten, von Natur aus. «Die haben Glück», denkt Es in Frau Hent. So ist sie nun in ihrer Rückzugszone zugange – und schon meldet sich der Gatte, vor der verschlossenen Tür stehend: «Hey, Vibora, lass mich rein, ich muss schiffen.» Sie Antwortet: «Was ist los? Bist Du etwas die mexikanische Armee vor Alamo, deren Hornbrigade gerade den El Degüello bläst? Musst halt nicht so viel Kaffee saufen.» Ja, da sitzt Frau Hent in ihrer Rückzugszone, auf dem Badewannenrand, und arbeitet an speziellen Techniken. Und für wen tut sie es? Für ihren Gatten, der ihre Zeit mit sich selbst nicht respektieren will. Spätestens in zwei Wochen, so lange dauert es, bis sie den Lehrgang durchhat, würde er keinen Grund mehr haben, sich zu beklagen. Er würde «neue Dimensionen» kennenlernen, denn so steht es in der Einleitung zum Onlinekurs geschrieben.

Wohneinheit 79. Herr Hasp ist Apokalyptiker, er betätigt sich ausserdem als Dichter, sein Geld verdient er allerdings als Fassmann im Fachausschuss für Fachausschüsse. Vor seinem Über-Ich ist ihm die Brotarbeit hochnotpeinlich, manchmal, vor allem nachts, macht ihm diese oberste Instanz seiner Innenwelt den Prozess, das Urteil ist immer dasselbe: «Du hast es zu nichts gebracht, Todesstrafe». Dieses Über-Ich besteht zu einer Hälfte aus den unerfüllten Erwartungen seiner Ahnen, zu einem Viertel aus seiner Vorschullehrerin, Frau Mondzahn, und zu einem weiteren Viertel aus Kamilla, der ersten Frau, die ihm immerhin einen Buchteil des Körperkontakts ermöglichte, den er sich so sehnlich wünschte, seit er einst im Zimmer von Onkel Berti – unter dem Sofakissen – eine Sammlung von Sexmagazinen entdeckt, durchgesehen und die Bilder alle verinnerlicht hatte. Der Körperkontakt mit Kamilla war dann allerdings klar strukturiert, von enormen Regelwerken und Tabus umgeben, deren Einhaltung sie rigoros durchsetzte. Mit den Bildern aus Onkel Bertis Magazinen konnte man diese Erlebnisse nicht wirklich vergleichen, dies beschäftigte Herrn Hasp, sehnte er sich doch nach der Fleischwerdung jener Sujets. Mit lediglich einem Hauch davon, wollte er sich eigentlich nicht zufriedengeben. Später zog er mit Kamilla zusammen, da war sie immer ausserodentlich streng zu ihm, zu Recht, das wusste er. Nach Jahren hat er sie dann doch verlassen und zog in die innere Einsamkeit. Dort begann er zu sublimieren. Er beschäftigt sich nun mit der Apokalypse, meditiert über Untergangsszenarien aller Couleur, seine Lektüre besteht ausschliesslich aus religiösen Schriften, sie stammen aus allen metaphysischen Himmelsrichtungen, die sich mit der Eschatologie befassen. Und er schreibt halt seine Gedichte. Seine Technik, in langen Studier-Stunden ausgeklügelt und für gut befunden, ist dabei überaus speziell; er schreibt überall dort, wo eigentlich ein «U» hingehörte ein «N» hin, ausser, wenn es sich um Umlaute handelt. Die erste Strophe seines neusten Werks, an dem er gerade arbeitet, lautet wie folgt: Ist es eiu Trnum? Ist es eiu Wahubild? Eiu Tenfelskreis, in den Geile uns zieheu? Oder ist es ein Wahubild, das nus sagt, was Glück nus hentebedendet?»

Wohneinheit 111. Sie pflegt «mein Mann» zu sagen, er sagt «meine Frau», dies drückt ja einen gewissen Besitzanspruch aus, obwohl sie nie getraut worden sind, weder vor einer Amtsperson noch von einem Priester, sie haben nichts versprochen, keinem Gott, keiner Gemeinde, trotzdem hat sich das Possessive mit den Jahren in die Beziehung von Klara Kurt und Demian Kunt eingeschlichen. Das Gepäck, dieses «Wir», muss allerdings, das wissen die Beiden, natürlich, sind sie doch ganz und gar reflektiert unterwegs, auf den unerforschlichen Wegen des Lebens, manchmal durchgeschüttelt werden. Deshalb werden regelmässig Paar-Abende veranstaltet, immer zu viert, immer mit dem Ehepaar Zugauser zusammen, ja, die sind amtlich verheiratet. Oasen in der Wüste unser trost- und gnadenlosen Welt stellten diese Zusammenkünfte für alle Beteiligten dar. Da wird alles besprochen, beide Paare berichten einander, wie sie es schaffen, die Welten, die Rituale, Wünsche und Ansprüche zweier Personen zu parkieren, ohne dass dabei allzu viele Konflikte auftreten. Gegenseitig profitieren an diesen Abenden alle voneinander. Zudem geht es um alles, was die vier gerade so treiben, wenn sie zu zweit allein sind, dies wird leidenschaftlich besprochen, geschildert, kritisch kommentiert. Wenn die Alkoholika dann ihre Wirkung entfaltet, zeigen die Paare sich gegenseitig schon mal einige Nummern aus ihren Repertoires, Dabei gibt es eine eiserne Regel, Klara und Kurt bleiben auf ihrer Seite des Salontischchens aus Glas, die Eheleute Zugauser auf der ihren. Jedes Paar hat dabei seinen eigenen Stil, das Ehepaar neigt zu einem statuesken Ansatz, jede Bewegung endet in einer vollendeten Stellung, welche dann für mehrere Minuten gehalten wird, das wilde Paar hält hingegen nie still, alles bleibt immer im Fluss. So ist es für alle lustig und gut, niemand könnte mehr verlangen, niemand mehr erhalten. Heute würde wieder so ein Abend stattfinden. Während Kurt das Glastischchen poliert fragt ihn Klara, was sie denn nun «darunter anziehen» solle für das Treffen. Seine Vorschläge gefallen ihr keineswegs, sie entsprechen ihrer Tagesstimmung nicht, sie diskutieren also eine Weile, dann streiten sie. Am Ende sagt er: «Zieh doch einfach an, was Du willst.» Sie wirft ihren Zigarettenstummel – noch glühend – auf den Spannteppich, direkt zwischen die Knie des Putzenden, und sagt: «Darauf kannst Du Dich verlassen, Du wirst Dein blaues Wunder erleben.» Er hebt die Kippe auf, drückt sie im Aschenbecher aus, lächelnd.

Wohneinheit 12. Niemand weiss, wie alt Frau Riebe sein könnte, aber alle wissen, dass sie schon lange da ist. In ihrer vollgequalmten Küche steht ein Laptop auf dem Tisch, ein günstiger, asiatischer, seit Jahren tippt sie auf die Tastatur des Geräts ein, früher machte sie das mit einer Schreibmaschine, das war lauter – und deshalb ein wenig befriedigender. 23 Romane hat Frau Riebe verfasst. Momentan schreibt sie an Nummer 24. Das Ganze stellt einen Zyklus dar, unveröffentlicht, aber die erwachsene Nichte muss, wenn sie vorbeischaut, stundenlangen Lesungen lauschen, ihre Tante hat einen langen Atem. Aus Militärischen Szenarien besteht die fiktionale Welt der Lisa Riebe – und aus Frauenschicksalen. Die Titel der Werke enthalten immer einen Frauennamen und einen Offizierstitel. Beispielsweise: «Lana und der herzensgute Gefreite», «Esmeralda im Banne des Leutnants», «Petra im Liebesnest des Oberst», «Tanja betört den Brigadier», «Mona und der Marschall in der Klemme». Das 24 Buch würde den Titel «Gitta fängt sich einen General» tragen. Frau Riebe ist stolz auf ihre Kenntnisse des militärischen Umgangs und der Gepflogenheiten, die in einem Armeeverband herrschen. Zudem betrachtet sie sich selber als profunde Kennerin der weiblichen Psyche sowie des menschlichen Sexualverhaltens. Diese Metiers werden in ihrem Romanen alle ausgebreitet, die stolze Pflichterfüllung des militärischen Personals, die bebenden Wünsche der Protagonistinnen, die nur von Vorgesetzten richtig erfüllt werden können, die einfachen Soldaten bezahlen, in jener Welt, die Frau Riebe geschaffen hat, für den Sex – oder sie ernten ihn, im Rahmen unsolider Tauschgeschäfte, gegen Strümpfe, Zigaretten, einen Passierschein etc. Das Sexualverhalten des Personals wird in Riebes Epen, die sich zumeist über Tausende von Seiten erstrecken, genauso ausführlich geschildert wie die militärischen Uniformen, Geräte und Taten. Wenn die Tante diese expliziten Passagen vorliest, fühlt sich ihre Nichte jedesmal ein bisschen komisch, das sagt sie der Tante auch, ohne Umschweife. Sie erhält immer die gleiche Antwort: «Ach Mädchen, Du lebst doch in der Welt der Kinder.»

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Autor: Christian Platz

Lebt in Basel. Arbeitet überall. Reist recht viel. Vor allem nach Asien. Und in den Deep South der USA. Verdient sein Geld seit über einem Vierteljahrhundert mit Schreibarbeiten. Vorher hat er als Pfleger in einer Irrenanstalt gewirkt. Hat mehrere Bücher veröffentlicht. Spielt seit 40 Jahren fanatisch Gitarre, zwischendurch singt er auch noch dazu. Schreibt unter anderem für Kult. Ist manchmal gut aufgelegt. Manchmal schlecht. Meistens so mittel. Sammelt Bücher, CDs, Filme, Artefakte. In einem psychisch leicht auffälligen Ausmass. Verfügt, bezüglich der Dinge, die er sammelt, über ein lexikalisches Wissen. Platz ist einerseits ein Wanderer auf dem Pfad zur linken Hand. Andererseits Neofreudianer mit Waffenschein. Liebt Blues und Voodoo, Rock'n'Roll und die schwarze Göttin Kali. Trinkt gerne Single Malt Whisky aus Schottland. Raucht Kette. Ist bereits über 50 Jahre alt. Macht einstweilen weiter. Trotzdem wünscht er nichts sehnlicher herbei als die Apokalypse.

WARNHINWEIS:
Dieser Mann tritt manchmal als katholischer Geistlicher auf, stilecht, mit einem besonders steifen weissen Kragen am Collarhemd. Dies tut er in gänzlich irreführender Art und Weise und ohne jegliche kirchliche Legitimation. Schenken Sie ihm - um Gottes Willen - keinen Glauben. Lassen Sie sich nicht von ihm trauen, ölen oder beerdigen. Lassen Sie sich von ihm keinesfalls Ihre Beichte abnehmen. Geben Sie ihm lieber Ihr Geld.

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