„Alle diese Hervorbringungen, alle diese Ideen und Fantasien, Taten und Untaten, diese Vielfalt an Möglichkeiten..,“ sagt er nachdenklich, zieht an einem dicken Joint, spricht weiter: „…unsere Welt ist ein Zirkus der Verlockungen, gleichzeitig aber auch eine Hölle des Ekels, ein Paradies der Wünsche und deren Erfüllungen, gleichzeitig aber auch eine Wüste der Versagungen und der Entbehrungen. Wir werden in dieses Labyrinth hinein geschupst, aus uns unbekannten Gründen, wissen nicht, wo wir hergekommen sind. Und dann werden wir wieder hinaus gestossen. Destination unbekannt…“
Bevor er seine Stimmfunktion angeworfen hatte, die sich nun mit der Musik des grossen Horace Silver mischt, die im Hintergrund so mittel-laut Atmosphäre in das Wohnzimmerchen zaubert, war er in die Kurzgeschichten des exzentrischen tschechischen Meisters Bohumil Hrabal vertieft gewesen.
Seine geliebte Frau, mit seinen geliebten Augen und Lippen ausgestattet, mit seinen geliebten Titten und seinem geliebten Arsch, hebt ihren Blick nun ebenfalls von ihrem Buch, um ihm zuzuhören.
Sie liest gerade die längste bekannte Fassung – es gibt mehrere, die erste wurde 1787 verfasst, die letzte erschien 1803 – jenes fantastischen philosophischen Romans des göttlichen Donatien-Alphonse-François, Marquis de Sade: Jenen über die beiden ungleichen Schwestern Justine und Juliette nämlich: „Justine ou les Malheurs de la vertu“. Sie steckte mitten im ersten Teil des Epos, in dem sich alles um die tugendhafte Justine dreht, die von einem grotesken Reigen zunehmend bizarrer Wüstlinge, in jeder Episode springen neue solche Libertins in die Geschichte, für allerlei submissive Ausschweifungen benutzt wird. Und, so ahnen jedenfalls psychoanalytisch bewanderte Leserinnen und Leser, es insgeheim geniesst, dies aber nie formulieren kann, weil ihre katholische Konditionierung eine derartige Möglichkeit blockiert. Sie ist diesbezüglich das exakte Gegenteil ihrer älteren Schwester, Juliette, die sich allen nur denkbaren fleischlichen Innuendos mit Gusteau hingibt, dadurch in ungeahnte Höhen der Gesellschaft aufsteigt.
Die Frau des Mannes, dessen Zitat diesen Text vorhin eröffnete, liest im Moment jenes Kapitel, in dem Justine zu einem Lustspielzeug der vier Mönche Severino, Clement, Jerome und Antonin wird, die in ihrem Rekollekten-Kloster junge Damen einquartieren, um mit ihnen blasphemische Orgien zu treiben…
Dieses Kapitel gefällt ihr besonders gut, hat sie doch selber, als Dame, die im Alltag sehr selbstbewusst auftritt, sich keinen Bullshit bieten lässt, wenn es um die unzähligen Spielarten der Sexualität geht, meist Lust darauf, sich jenen süssen spielerischen Unterwerfungen und Demütigungen auszuliefern, die ihrem Geliebten Mann so mühelos einfallen, in natürlichster, phantasievollster, oft gar überraschender Art und Weise.
Im Rahmen dieser Spielereien geniessen sie beide eine ungeheure Freiheit, die in wunderbarer beidseitiger Selbstauflösung zu enden pflegen. Wobei sie die Überzeugung vertritt, dass ihr Mann sich – durch seine gegebene Position im Spiel der Leidenschaften – weniger komplett auflösen kann, als es ihr vergönnt ist.
Doch wegen seines beachtlichen Talents für genau diese Position, hatte sie ihn damals ausgesucht – und weil er ihr im sonstigen Alltag immer zuvorkommend gehorcht, ihre vielfältigen Launen klaglos erträgt. Sie lebt also, sagt sie sich hin und wieder, in einem Zustand, den die arme Justin sich nicht einmal hätte erträumen können, damals im 18. Jahrhundert. Trotzdem macht der dauernde Protest dieser Romanheldin, der so reizend rosarot katholisch gefärbt ist, den sie jedes Mal äussert, bevor das schmutzige Treiben von neuem beginnt, für diese Leserin einen nicht unbeträchtlichen Teil des Vergnügens aus, das dieses Werk bei ihr auslöst.
Um ihren Mann zu inspirieren, hat sie ihm diesen Mönchsteil aus Justine einst vorgelesen, er mag die Werke des Marquis nämlich nicht wirklich, findet sie langweilig, bevorzugt „Les Onze Milles Verges“ von Guillaume Apollinaire und die Comic-Version der „Histoire d’O“ von Guido Crepax. Trotzdem, die Rolle des lüsternen Mönchs, der eine unschuldige fromme Dame zu allerlei ausgetüftelten Ausschweifungen treibt, gefällt ihm. Und diese Ausgangssituation wurde dann zu einer Standardvariante des lustigen Liebestreibens unseres Paars, das in der Regel im ofenwarmen Wohnzimmerchen inszeniert wird.
Die Requisiten, Kulissen, Utensilien, die sie dafür benötigen, sind in einem schönen alten Bauernschrank versorgt, einem Erbstück von ihrer Grossmama, mütterlicherseits.
Unsere beiden lieben Leute wohnen ja unter einem kleinen Dach, von festen Ziegelsteinmauern umgeben, kleine Fenster, kleine Räume, exzellenter Ofen. Man braucht einen tüchtigen Ofen, wenn es kalt ist, vor allem dann, wenn man zuhause immerzu bloss Unterwäsche oder Reizwäsche tragen will.
Ausser wenn man gänzlich nackt ist.
Draussen fällt der ewige Regen. Niemand weiss, warum er angefangen hat, wann er aufhören wird, weshalb er so lange andauert. Die Leute haben sich daran gewöhnt. Nur der Modergeruch, der alleweil in der Luft hängt, weil alles derart gründlich durchfeuchtet ist, stellt eine Dauerbelästigung dar. Deshalb verbrennt unser Paar, das in der Hütte an der dritten Kreuzung der Hauptsrasse wohnt, von der anderen Seite der Hauptstrasse aus betrachtet ist es die vierte Kreuzung, dauernd Räucherwerk aus dem fernen Orient.
Auf diesen kleinen Altarbeckenkohlen, die prima glühen, aber schwer, ach so schwer anzuzünden sind.
Der Dauerregen hat das Tempo aus der Welt genommen. Die Leute gehen nur noch raus, um das Nötigste zu erledigen: Essen, Kerzen, Getränke, Holz, Drogen, Reizwäsche, Bücher besorgen. Sie bezahlen mit Kreditmarken, die jeden Monat von der Regierung ausgegeben werden. Niemand weiss genau, wie der Wert dieses monatlichen Einkommens zu beziffern, wie er zu bemessen ist, aber das spielt keine Rolle. Es reicht gerade für den Alltag. Grosse Sprünge kann man damit nicht machen. Aber es will auch niemand mehr grosse Sprünge machen. Das Volk und die Regierung sind in gleichem Masse faul geworden.
Auch Strom ist weitgehend aus der Mode gekommen. Die Leute fabrizieren ihn selbst, eine Stunde Tretmühle täglich. Das reicht gerade für das bisschen Elektrizität, welche dazu dient, die Musikanlagen zu betreiben. Die Leute dieser Epoche mögen Kerzen sowieso lieber als elektrisches Licht. Alle Arten der Telekommunikation wurden schon vor Jahren ausgesetzt, weil die Regierung zu träge war, sie aufrecht zu erhalten – und die Leute zu träge waren, sich daran zu stören, geschweige denn, sich darüber aufzuregen.
In dieser Epoche sind nur noch Bücher, Musikstücke, Geschichten, Ideen, das Erkunden intellektueller, erotischer und magischer Dimensionen von Bedeutung. Sowie ausgedehnte Rauschzustände. Alle haben miteinander abgemacht, dass kein Nachwuchs mehr gezeugt werden soll. Wenn der letzte Mensch gestorben sei, solle die Erde den Schlangen, den Rehen und den Eichhörnchen gehören. Dies sei, lautete die Meinung aller Beteiligten, ganz sicher besser so.
Niemand weiss übrigens, wer oder was die Regierung eigentlich ist, es spielt aber auch keine Rolle mehr.
Ganz selten stirbt noch jemand an einer Krankheit. Selten nur kommt es zu tödlichen Haushaltsunfällen. Manchmal bittet jemand, der Lust darauf hat, ermordet zu werden, jemanden, der das Morden liebt, darum ihn doch bitte umzubringen. Diese Aktivität macht dann beiden Beteiligten Spass. Wenn die Leute, wie man zu sagen pflegt, „alles satt haben“, besorgen sie sich einfach ein Gift ihrer Wahl, alle Gifte und Rauschmittel sind frei – zudem kostenlos – erhältlich, und scheidet von dannen. Das ist der Normalfall.
Der Regen hat dafür gesorgt, dass sich das Leben vornehmlich in gut geheizten Innenräumen stattfindet, die als Bühne für geistige, kulturelle, sexuelle, rituelle Aktivitäten dienen. Und für tiefe, lange Schlafperioden, die zu jeder Zeit angetreten werden können, die Idee eines geregelten Tagesablaufs ist lange schon flach gefallen.
Zurück aber zu unseren beiden Lieben, in ihrem ofenwarmen Wohnzimmerchen, unter ihrem kleinen Dach, auf das unablässig der Regen trommelt.
Manchmal läuft hier stundenlang Modern Jazz, Joints wandern hin und her, beide sind in ihre Lektüren vertieft. Dies können ganz unterschiedliche Werke sein, Romane, philosophische, historische, psychologische, erotische Schriften; von Heraklit bis Wittgenstein, von Agrippa bis Crowley, von Ignatius bis Lacan, von Mallory bis Burgess, von Ovid bis Brecht, von Apuleius bis Nin – und natürlich noch unzählige andere Inhalte, welche so beruhigend zwischen Buchdeckel geklemmt werden. Sowie natürlich die mächtigen Russen.
Dann plötzlich, und dies spielt sich immer gleich ab, fängt er oder sie ein Gespräch an, gibt einigen Reflexionen zum Besten. Daraus ergeben sich Besprechungen, die manchmal lange dauern, manchmal nur kurz. Und diese Worteinsätze bilden immer eine Ouvertüre für herzhafte libidinöse Ausschweifungen.
Seine kleine Betrachtung, die diesen Text bekanntlich einleitete, kommt ihr gerade recht, denn die Lektüre des göttlichen Marquis hat sie ohnehin bereits in Laune versetzt. Deshalb gibt sie ihrem Mann jenes Signal, das ihm klar macht, dass nur ein kurzes Gespräch gewünscht ist, dass sie den Anbruch der Spiele recht dringend erwartet. Indem sie sein Thema schroff vom Tisch wischt, ein wenig über das gerade Gelesene sinniert, was mit einer behutsamen Anzüglichkeit endet.
Die beiden sprechen immer behutsam über libidinösen Angelegenheiten. Ausser, während diese stattfinden. Dann erklingen im ofenwarmen Wohnzimmerchen die derbsten Worte, die ganz energisch aus der vielzitierten untersten Schublade kriechen, um in der physischen Welt zur Gesamtwirkung einer gelungenen erotischen Inszenierung beizutragen. Wie die Schaumkrone halt zu einer guten Latte Macchiato beiträgt.
Dabei wird die Musik geändert, thematisch an die Spiele angepasst, der Lautstärke-Regler an der Anlage aufgedreht.
Wenn sie beispielsweise die Stripperin spielt, die um eine Gehaltserhöhung bettelt, Schauplatz dieser Fantasie ist das Manhattan der 1970-er Jahre, und er den Besitzer des sleazy Schuppens verkörpert, der ihr dafür ausgedehnte erotische Zurschaustellungen und Gegenleistungen abtrotzt, läuft oft „Commodores Live“ oder „Wild & Peaceful“ von Kool & The Gang. Wenn es sich um ein okkultes Szenario handelt, die Anordnung Schwarzmagier und Schülerin gefällt unserem Paar in dieser Hinsicht sehr, ist „The Sun, Moon and Herbs“ von Dr. John erste Wahl. Wenn aber die Sade’schen Mönchsgeschichten zur Ausführung gelangen, ja dann kommen unweigerlich die ersten vier Alben von Black Sabbath zum Einsatz.
Und heute ist monk time, black monk time…
Diesen Wunsch gibt sie ihrem Mann unmissverständlich zu verstehen, indem sie folgendes sagt: „Es ist schon lustig, bei diesem Sade, ob in Justine oder in den 120 Tagen von Sodom, immer sind es vier Wüstlinge. Und jeder von ihnen hat, nebst seiner übersprudelnden verdorbenen Fantasie, ein erotisches Hauptziel. Einer ist einfach ein raffinierter Rammler, einer liebt alles, was mit dem Mund gemacht werden kann, einer vergöttert die Hintertüre, jenes verbotene Gefäss, wie es die alten Weisen nannten, der vierte Libertin bevorzugt jedoch immer besondere Praktiken, jenseits des rein Genitalen, die ihn im Geiste befriedigen; vergeistige Schweinereien…“
Sie lächelt ihren Mann an und schaut ihm keck in die Augen. „Ich bin dem Schicksal dankbar dafür, dass ich einen Lover gefunden habe, der diese vier Elemente in sich vereint, einen, der mit der Luft, dem Wasser, dem Feuer, der Erde gleichermassen umgehen kann, bildlich gesprochen….“
Sie lacht leise. Er weiss Bescheid. Und erwidert: „Wunderbar. Ich stelle den Beichtstuhl und den Altar auf, dann ziehe ich die Kutte an.“ Sie sagt: „Ich ziehe mich ebenfalls um, öffne eine Flasche Stoli, drehe einige Joints, dann lege ich Black Sabbath auf.“
Und eine angenehme, sanft vibrierende Vorfreude legt sich über unseren urgemütlichen Haushalt.