Uns allen gehts ja verhältnismässig gut. Was heisst, dass die Kohle reicht für ein Dach über dem Kopf, für nichtveganen Käse auf dem Brot und gar zwischendurch mal einen Schollen zartes Rinderfilet. Wir können uns auch mal eine Reise leisten, ein elektronisches Gadget, hier etwas Zuckerbrot, da eine Südfrucht.
Im Grossen und Ganzen können wir uns ja nun wirklich nicht beklagen. Da gibt es aber Menschen unter uns, denen geht es gar nicht gut. Die müssen sich Alltägliches vom Mund absparen und mächtig untendurch. Gerade eben ist mir wieder ein solches Mädchen begegnet, mitten in der Stadt. Es tat mir dermassen leid, es da so mitten unter uns Wohlgenährten zu sehen, es machte einen wahrhaftig erbärmlichen Eindruck, wie es da so an der Tramhaltestelle stand. Ich beschloss, der Kleinen zu helfen. Es kann doch nicht sein, dass die ganze Menschheit wegschaut, während dieses Geschöpf so sehr leidet – und mit ihm noch zahllose mehr! Jemand musste einen ersten Schritt tun, und es war mir egal, was die Leute rund um uns herum denken würden. Ich trat ein paar Schritte auf das Mädchen zu, erst zögerlich, dann entschlossen, meine Hand bereits an der Geldbörse. Als sie bemerkte, dass da jemand war, blickte sie auf. Sie wirkte nicht ungepflegt, im Gegenteil. Häufig beobachtet man ja bei den Bedürftigen, dass sie viel Wert auf ihr Äusseres legen, um trotz ihres Leides ein gewisses Mass an Akzeptanz in der Bevölkerung zu erhalten. Ich sprach sie an: „Mädchen, es tut mir leid, dich so hier stehen zu sehen. Ich möchte dir etwas unter die Arme greifen, ich kann es mir ja leisten, und du hast es offenbar dringend nötig.“ Ungläubig sah sie mich an, wohl war sie sich solche Barmherzigkeit nicht gewohnt. Kein Wunder, in dieser unterkühlten Welt! „Es ist kein Anblick, wie du hier stehst, in dieser, verfleckten, zerschlissenen Jeans, voller Löcher, die kein Flicken mehr zu stopfen vermag. Du bist wohl gestürzt, ich hoffe, du bist wohlauf! Immerhin bluten deine Knie nicht mehr, so scheinen wenigstens die Verletzungen verheilt. Aber sag, hast du denn keine Eltern, die dir dann und wann neue Kleider kaufen?“ Die Augen des Mädchens wurden, was schier unmöglich schien, noch grösser. Entgeistert sah sie mich an und entgegnete mir: „Alter, was ist denn mit IHNEN los?! Das ist Mode! Die Hose hat dreihundertfünfzig Franken gekostet!“ – „Ach!“ entfährt es mir. „Ja, das ist ein Statement gegen den Wohlstand. Der Trend ist wohl an Ihnen vorbeigegangen.“
Ja, ist er wohl, denke ich mir, noch eine Stunde später mein geistiges Auge ungläubig reibend. Aber so ist das wahrscheinlich in der heutigen Zeit, in der man auch Strassen-Essen als das grösste der Gefühle ansieht und Festivals organisiert, an denen man teures Essen von der Strasse isst. Ein Statement gegen den Wohlstand.
Glossar: distressed, destroyed Jeans; busted knees; high-wayst-destroyed