in

Kunstrad – The untold story

Irgendwie ging alles sehr schnell damals in der Turnhalle des Schulhauses Kirchbühl in Stäfa. Kaum hatte ich mein Turnzeugs übergestreift, drückte mir Monica Tanner zielstrebig eine dicke Bibel in die Hand. Darauf stand „Internationales Reglement Kunstradsport“. „Das sind alle Vorgaben des UCI. Such dir ein paar Übungen aus, die du machen willst“, sagte sie mit einer Selbstverständlichkeit, die mich erschaudern liess. Dachte ich doch, beim Kunstrad fahren lerne ich vielleicht das „Männli“ oder sitze auf dem Lenker und fahre ein Stück rückwärts. Solche Sachen. Eine Art Edel-BMX mit Freestyle-Einlagen halt, dachte ich. Aber wie beim Ballet oder beim Eiskunstlauf gibt’s auch im Kunstradsport ganz klare Figuren und Vorgaben. Hier war ich definitiv nicht auf dem Ponyhof gelandet. Oder doch? Denn beim Warm up tanzte ich mit dem Rest der Klasse, drei etwa 11-jährigen Mädchen, eine Choreographie mit Ringelreihe-Moment zum Schluss. Erst lachte ich darüber, doch dann zog Monica das Tempo an und ich kassierte eine Ladung Schweissperlen auf der Stirn, als Quittung fürs Belächeln der ersten Runde. Die jungen Ladies stiegen frohen Mutes auf ihre Räder und zeigten Kunststücke, die manchen Zirkusdirektor offenmundig zurückgelassen hätten.

Das Sportgerät ist ein stabiles Stahlrad ohne Bremsen, mit Starrlauf und einem riesigen Sattel, der hinten noch etwas hochgeschwungen ist. Wohl damit man beim „Männli“ machen nicht nach hinten wegrutscht, schlussfolgerte ich. Monica korrigierte mich. Hier nenne man dies nicht „s’ Männli“ sondern den „Steiger“. Okay, alles klar. Dann sass ich auch schon, auf Geheiss von Monica, auf diesem 4000-fränkigen Rad und drehte ein paar Runden. Im Kreis fahren war einfach. Die Tücken des Starrlaufs kannte ich ja bereits aus meinem abenteuerlichen Bahn-Race gegen Franco Marvulli auf der offenen Rennbahn Oerlikon. Kurz danach meldete Marvulli seinen Rücktritt aus dem Radsport an. Ich hoffe, da besteht kein Kausalzusammenhang – aber ich schweife ab.

Monica schnallte mir einen Gurt um die ausladende Hüfte und hielt mich daran fest. Erst schaute ich sie ungläubig an, aber offensichtlich war der Gurt ernst gemeint. Monica fordere mich auf, um sie herumzufahren, wie ein Pferd in einer Zirkusnummer. Etwas zittrig fuhr ich los. Ohne viel Zeit zu verlieren, verlangte sie einen „Dornstand“ von mir. Da steht man mit Schwung auf die etwas verlängerte Hinterachse. Ging ganz passabel. War ich etwa talentiert? Nein. Talentiert wäre ich gewesen, wenn ich auf Anhieb den Dornstand freihändig gemacht hätte. Machte ich aber nicht, denn ehrlich gesagt, war ich noch nicht bereit für dritte Zähne. Also hielt ich den Lenker fest und feiert meine erste Figur mit einem „Judihui!“. Die Mädchen kicherten.

Ich liess mich nicht beirren und feierte Sekunden später einen gelungenen „Seitenstand Fussantrieb“. Da steht man mit einem Fuss auf dem rechten Hinterraddorn und mit dem anderen auf dem linken Pedal. Mein Antrieb eierte und die Stilnoten wollen wir gar nicht erst einfordern, doch rein technisch lieferte ich die Figur durchaus ab. Monica lobte mich, legte aber gleich noch einen drauf. Ein „Seitenknien Fussantrieb“ folgte und darauf ganz mutig eine flüchtige „Fusssteuerung“. Tja, und das wars dann auch schon mit den „ungefährlichen“ Figuren. Alle anderen Figuren hätten mein gutes Aussehen oder die Funktionsfähigkeit meines Unterleibs stark gefährdet.

Doch von einem unerklärlichen Ehrgeiz getrieben forderte ich von Monica noch den „Steiger“. Amüsiert durch meinen Mut, stellte sie mich mit dem Bike neben die Sprossenwand. Ich klammerte mich wie blöd an den Sprossen fest und Monica machte dasselbe mit meinen Ledergurt. Ich versuchte die Balance auf dem Hinterrad zu finden, fiel jedoch dauernd nach hinten weg, was Monicas ausgeprägte Auffangtechnik auf die Probe stellte. Immer wieder fing sie mich auf, als wär ich ein Baby, das vom Wickeltisch fällt. Also, den „Steiger“ würde ich heute wohl nicht mehr lernen, aber wenigstens den sogenannten „Kehrlenkersitz“ wollte ich noch schaffen. Doch mein Gehirn war zu versessen aufs Vorwärts fahren und versagte im Rückwärtsgang total. Monica musste mich dauernd wieder auf die richtige Bahn bringen und zwar mit vollem Körpereinsatz. Das wurde mir als erwachsener Mann dann irgendwann doch zu peinlich und ich winkte ab.

Zum Schluss verfolgte ich die Kür, welche die Mädchen als Training für die nächsten Schweizermeisterschaften vorführten. Ich filmte alles mit meinem iPhone, um meiner 10-jährigen Tochter zu Hause zu zeigen, dass man in der Freizeit auch noch andere Dinge tun kann, als nur auf dem iPod Touch rumzuhämmern. Vielen Dank für deine Mühe Monica. Du hast mir gefühlte 20 Mal das Leben gerettet und ich möchte hiermit feierlich verkünden, dass ich mich offiziell zur Adoption für dich freigebe.

 

Gefällt dir dieser Beitrag?

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Autor: Midi Gottet

Midi Gottet ist 47 und war in diesem Leben schon Vegetarier, Alkoholiker, ein militanter Nichtraucher, Zauberkünstler in Vegas, Handmodel in Paris, Velokurier in Manhatten, Vater, Sohn und Heiliger Geist, vor Gericht wegen Verletzung religiöser Gefühle, im Knast, Sozialfall, die linke Hand von Rainer Kuhn, Stand-up Comedian, Präzisions-Schauspieler, Eden-TV-Moderator, Kolumnist, Autor, Poet, ein Singing Pinguin, ein schwules Murmeltier, Dr. Fleischmann, der DRS3-Rajiv, die Thomy-Senftube, der Schöpfer von "Handirr im Poulet speutzt", Ehemann, glücklich geschieden, eine Sportskanone, ein wenig impotent, ein Electric-Boogie-Tänzer, labil, ein Triebtäter, ein Erdengel, ein Schutzengel, ein Fussfetischist, ein Muttersöhnchen, ein Coop-Supercard-dabei-Haber, Götti, Onkel, Tante, das "Ich bin das ich bin", ein Orgasmusvortäuscher, betrieben, hoch verschuldet, tief verletzt, stinkreich, ein bornierter Snob, abgefuckt, demütig, reumütig, übermütig, übermüdet, klinisch tot, wieder wie neu, ein Drittel des Trio Eden, die Hälfte von Gottet & Landolt und ein Ganzes von Midi Gottet und somit die Summe seiner Höheren Selbste.

Danke für ihre Aufmerksamkeit.
(Wenn sie sich die Zeit genommen haben, diese Bio bis hierher zu lesen, haben sie kein Leben)

Facebook Profil

Im Zweifel für die Schweiz

Swiss Casinos Zürich feiert im Kaufleuten