„War es in den neunziger Jahren nicht auch schön?“ Mein Freund, der mir diese Frage stellt, trägt seinen dicken rostroten Pullover. Normalerweise sieht ihn mein geistiges Auge jedoch in einem grünen Jäckchen. Auf dem steht „Paco Today“. Fröhlich tanzende Lettern.
Mein Freund, der mir diese Frage stellt, ist lange schon tot. Ich muss also träumen. Oder bin ich selber gestorben? Oder bin ich…?
Er schaut mir fest in die Augen, der Tote, und sagt: „Ich wär so gern dabei gewesen…“
Der Satz verfängt sich in einer Echoschlaufe, wiederholt sich mehrmals, klingt dabei zunehmend fremder. Roboterstimme aus dem Jenseits.
Und ich werde unvermittelt auf eine andere Ebene katapultiert.
New York. JFK-Flughafen. Ich steige in ein Taxi. Den Fahrer habe ich schon einmal irgendwo getroffen. Doch ich kann mich nicht an Ort oder Umstand erinnern, ein fremder Bekannter. Das Schlimmste ist aber: der Hinterraum des Taxis schrumpft während der Fahrt fortwährend. Bereits spüre ich das Dach auf meinen Kopf. Drückend. Ich beklage mich. „Das geht schon“, sagt der Fahrer ruhig. Und weiter schrumpft der Innenraum des Taxis: Klaustrophobie. Während wir über jene Brücke nach Manhattan fahren.
An der Bowery steige ich endlich aus. Dort wo einst The Music Bar war.
Ich habe einen Zettel mit einer Nummer. Ist es eine Appartementnummer? Eine Hausnummer? Eine Strassennummer? Schon dumm, dass ich sie nicht lesen kann. Immer, wenn ich meinen Blick scharf stellen, ihn auf die Nummer fokussieren will, verschwimmt sie. Und der kalte Januarwind fegt durch die Avenues, durch die Strassen von Manhattan. Ich spüre ihn bis auf die Knochen.
Ich erinnere mich plötzlich, dass ich ein dickes Briefchen Kokain in der Innentasche meines Regenmantels trage, das ich einst in Santiago, Chile, erwarb. Ich erinnere mich also, während ich laufe und friere, erschrecke über mich selbst. – Ich bin mit Kokain am Körper in einen Flug nach den USA gestiegen, eingereist…?
Bin wohl nicht mehr ganz bei Trost. Nächstes Mal muss ich meine Taschen und Säcke durchsuchen, bevor ich einen long haul flight antrete, denke ich, während ich mit meiner rechten Hand nach dem Briefchen fummle. Da ist tatsächlich etwas in meiner Regenmantel-Innentasche. Aber, es bewegt sich…
Was oder wen suche ich überhaupt? Hier in New York, wo ich lange schon keine Kontakte mehr habe. Suche ich vielleicht die Asche meiner Tochter? Und das Ding in meiner Innentasche bewegt sich. Ich ziehe daran, ich zerre daran, ich reisse es raus. Scheisse, es handelt sich um eine erschreckend lange, zuckende, rostrote Schlange.
Und sie stammt gar nicht aus der Innentasche meines Burberry. Vielmehr habe ich sie aus meinem Brustkorb gerissen. Deshalb ist hier überall Blut. Geschockt lasse ich die Schlange los. Da beisst sie mich blitzschnell, das Biest, gleich oberhalb des Nasenbeins, direkt zwischen die Augen. Ein scharfer Schmerz, mein Kopf schwillt an. Explodiert.
Und ich werde unvermittelt auf eine andere Ebene katapultiert.
Berlin. Hier sitze ich in einem leeren Strassen-Café. Irgendwo zwischen Brandenburger Tor und Alex. Als einziger Gast. Es ist immer noch Winter, grauer Himmel. Kalt ist der Bilsenkraut-Tee, der vor mir auf dem rostroten Tischchen steht. Mir ist klar, dass ich polizeilich gesucht werde. Habe ich doch das Reisegepäck der Marlene Dietrich entwendet. Aus dem Museum des Deutschen Films. Ganz schön auffällig stehen die Taschen, die Koffer und Hutschachteln auf dem Boden, vor meinen teuren, allzu teuren Schuhen, die ich zur Feier des Tages trage.
Weil ich weiss, dass die Polizei mich dann doch nicht verhaften wird, denn sie verhaften keine verzweifelten Verliebten.
Meine Füsse. Ja, die tun weh. Von unendlichen Märschen. Durch diese einst geteilte, jajaja, ich kann mich gut daran erinnern, Metropole, die sie dann wieder zusammengefügt haben. Oder bin ich in Chicago? Nein, Berlin, definitiv. Ich suche SIE. Sie heisst Taura, die Frau im Tarnanzug. Ich wollte sie einst heiraten. Doch dann hatte ich vergessen, sie zu fragen. Deshalb habe ich schliesslich das Reisegepäck der Dietrich gestohlen. Ein Versöhnungsgeschenk.
Mit dem schweren sperrigen Gepäck bin ich gelaufen, durch Kreuzberg, Pankow, Treptow, Neukölln und zuletzt ab durch die Mitte. Ich habe jenes Haus gesucht, auf dem eine Rose prangt, das geheime Zeichen jenes Ordens, dem ich einst angehörte, aus dem man mich aber entfernte. Weil ich mich anderen Göttinnen zugewandt hatte. Den Herrscherinnen der Finsternis. Zehn an der Zahl.
Nun realisiere ich, dass mein Handy brummt. Ich stelle das Gepäck der Diva auf dem Gehsteig ab, dabei sehe ich, dass ich eigenartigerweise barfuss bin. Ich nehme den Anruf an. Ohne Begrüssung sagt eine messerscharfe Stimme am anderen Ende: „Zwilling und Stier, vergiss es! Löwin wäre möglich…“ War das eine Mann oder ein Frau? Die Frage beschäftigt mich nicht lange. Denn schon wieder brummt das Hand. Auf dem Display steht „Taura“.
Da schlägt mein Herz wie ein Dampfhammer, eine eigenartige Wärme durchströmt meinen Leib, steigt in meine Wangen hoch. Ich nehme den Anruf an: „Hallo“. Sie antwortet, die geliebte Stimme, mit einer Frage: „War es in den neunziger Jahren nicht auch schön?“
Und ich werde unvermittelt auf eine andere Ebene katapultiert.
Die Tränen schiessen mir in die Augen, ich weine, ich schluchze, denn eins weiss ich genau: In den neunziger Jahren war es alles andere als schön, all der Streit, all der Alkohol, all die blutigen Kämpfe, die unendlichen Niederlagen. Ich koche einen Kaffee. Ganz offensichtlich war alles nur ein Traum…
Da stelle ich fest, dass ich in der falschen Wohnung stehe. Jenem Rattenloch am Stadtrand nämlich, dass ich 1984, 1985 bewohnte. Dieses Haus haben sie längst abgerissen. Das darf doch nicht wahr sein, denke ich. Und dann stehst Du im Türrahmen. Du trägst bloss den Cachou Harness Body von Luxxa und fragst: „Hast Du keine Lust mehr auf Sex?“
„Doch“, will ich sagen… „Nein“, will ich sagen… „Später“, will ich sagen…
Und ich werde unvermittelt auf eine andere Ebene katapultiert.
Ich muss also noch träumen. Oder bin ich selber gestorben? Oder bin ich…? Da realisiere ich endlich, dass ich einfach aus dem Raum, aus der Zeit gefallen bin. Oben? Unten? Links? Rechts? Alles Fehlanzeige! Helle Stimmen dringen an mein Ohr, klingt wie ein Kinderchor. Sie singen: „Ich wär so gern, ja wär so gern, so gern wär ich dabei gewesen…“
Meine Antwort darauf ist eine Frage. Ich schreie sie verzweifelt ins Nichts hinaus: „War es in den neunziger Jahren nicht auch schön?“