Serdar Somuncu (53), Sohn türkischer Einwanderer, Akademiker, Schauspieler, Buchautor, Musiker und „Hardcore“ Kabarettist betrat die grosse deutschsprachige öffentliche Kleinkunst-Bühne spätestens dann, als er in kugelsicherer Weste und unter Polizeischutz ab 1996 sechs Jahre lang in 2500 Auftritten vor einer halben Million Zuschauern, darunter viele Teil Neo-Nazis, Adolf Hitlers „Mein Kampf“ vortrug. Mit anschliessender Bühneneinladung und einem ernst gemeinten, konsequent durchgezogenen Face-To-Face Q & A.
„Ich rede mit jedem, auch mit Nazis.
“Der Sinn der Sache, in Somuncus Worten: „Ich rede mit jedem, auch mit Nazis. Und wenn ich nur einen davon überzeugen kann, was für ein Schwachsinn in diesem Buch steht, dann hat sich meine Arbeit gelohnt.“
Totschlagargumente über die Rübe von Veganern
Durchdachte Provokation, gepaart mit intellektueller Substanz und noch nie da gewesener Aggressivität, seiner Stand-Up-Auftritte, in denen er als semi-sensibler Kanacke mit gigantischem verbalem Vorschlaghammer ohne Rücksicht auf Punchline-Verluste Veganern ein Totschlagargument nach dem anderen über die verdutzte Rübe zog – von denen erstaunlich viele, die zuschauten, gar nicht wussten, dass sie es längst dachten – wurden Kult. Vor allem weil eben selbst diese Veganer sich wegschmissen vor Lachen.
„Nevermind“ der Kabarett-Szene
Serdar Somuncu war der herbeigesehnte Kometeneinschlag, sozusagen das „Nevermind“, in die um die Jahrtausendwende pomadig gewordene deutschsprachige Kabarettszene. Mit der explosiven Mischung aus messerscharfem Verstand, fast schon philosophische Eloquenz, dem Stress der Strasse und wütender Punk-Attitüde befeuert er schon immer die aktuelle gesellschaftliche Betriebstemperatur und fordert in seinen Vorstellungen jeweils das vorhandene Wertungs-Level sowie die Vorurteile jedes einzelnen Zuschauers heraus.
Für Kunst, Gesellschaft und Sie
Mit satirischen Kampfparolen wie „Jede Minderheit hat ein Recht auf Diskriminierung“ bewegt er sich für sensible Gemüter inhaltlich manchmal hart an der Grenze. Jedoch immer mit einer klaren gesellschaftsrelevanten Botschaft – für die, welche sie verstehen wollen. Im Gegensatz zu Nirvanas Kurt Cobain trat das Multitalent glücklicherweise nicht dem Club 27 bei, sondern hält sich allgemein von Clubs fern. Ist sein eigener Chef. Und nimmt kein Blatt vor den Mund. Was eine Schande wäre, würde er es tun. Für die Kunst, Gesellschaft – und Sie.
Kanacken mit Artikulations-Hirntergrund
Lesen Sie anschliessend kein klassisches Interview, sondern ein engagiertes, teilweise lautes Gespräch, von Kanacke zu Kanacke – mit Artikulations-Hirntergrund. Über die offiziell propagierte Liebe, aber eigentlich gelebte Verachtung osteuropäischer Kulturen für Schwule und Transsexuelle. Wir reden ausführlich und ohne Bandagen über die aktuelle gesellschaftliche Spaltung, Ol´Skool Nazis, drei Jahre Corona, deutsche Medien, Sie, Polit Clowns, die Seele richtiger Musik, Helge Schneider, kommentieren die Beerdigung von Kunst quasi im Live-Ticker, erinnern an Schweizer Medien Fails, feiern Antisocial Media und brainstormen aus der Hüfte heraus Lösungsansätze herbei – für alle(s).
Guten Tag, Herr Somuncu. Lisa Eckhart bestand darauf, gesiezt zu werden. Gerade mal 27 Jahre alt. Wie hätten Sie´s gern?
Lass uns duzen, Sascha.
Gerne, Serdar. Wie fandst du es damals, als die Eckhart rechts eingestuft wurde?
Mir ist egal, wer wie eingestuft wird. Das wechselt von Tag zu Tag.
Bei dir auch? Wie bist du als Türke in Deutschland aufgewachsen?
Ganz normal. Da gibt’s in Deutschland keinen grossen Unterschied. Meine Eltern sind durchschnittliche Menschen. Nicht so, wie man sich das in Klischees vorstellt. Wir hatten weder Teppiche an den Wänden hängen, noch sass mein Vater mit einem Turban auf dem Sofa.
Die Klischees gibt’s über Kroaten und Bosnier auch. Meiner Mutter war das egal. Sie liebte es, Gobelins anzufertigen. Die hingen in unserer Wohnung überall. Ich erinnere mich genau an jenes im Wohnzimmer: Ein Portrait von Tito.
Du bist Bosnier? Kroatischer Bosnier?
Mein Vater war Bosnier – und der hatte sich in die liebste Tochter eines „Grossindustriellen“ von Rijeka verliebt.
Ist das deine Heimatstadt? Rijeka?
Tatsächlich ist es mütterlicherseits Rijeka in Kroatien – und Brcko in Bosnien, dem Herkunftsort meines Vaters.
Schön, ich wollte schon lange nach Sarajevo fahren. Zum Bozo Vreco (ein transsexueller bosnischer Ethno-Wave-Folklore-Musiker, Anm. d. Red.) Konzert. Kennst du den?
Natürlich. Ich hatte einige längere Gespräche mit ihm. Ein jahrelanger Kampf, sich selber sein zu dürfen – unter unvorstellbarem Druck. Er hat ihn gewonnen – indem er der gewaltigen Welle von homophobem Hass mit Verständnis, Respekt und Liebe begegnet ist. Wie er mir persönlich sagte. Das hat mich umgehauen. Was für ein Typ. Woher kennst denn Du Bozo?
Ich besuchte ihn auf einem Konzert hier. Und wollte dann nach Bosnien, hat nie geklappt.
(Grinst)
Aber interessantes Pflaster, der Balkan.
Aber hallo, da geht was. Leider nicht in allen Belangen. Wenn der kroatische Nationaltrainer im Fernsehen sagen kann „In unserem Land gibt’s keine Schwulen, beim Fussball sowieso nicht“ – und selbstverständliche politische Rückendeckung bekommt, dann kann man nur versuchen, sich vorzustellen, wie aussichtslos Bozos Situation eigentlich war. Krass, dass er die Kraft und Souveränität hatte, sich gegen alle Widerstände durchzusetzen.
Ja, das ist richtig krass. Gibt’s ja in der Türkei auch. Bülent Ersoy, zum Beispiel. Mittlerweile hoch geschätzt da. Ähnlich wie in Indien, wo Transvestiten bzw. Transsexuelle eine Art Heilige sind. Sehr widersprüchlich – massiv homophobe Gesellschaften, aber wenn´s um Künstler geht, sind sie dann wieder sehr tolerant.
Verkehrte Welt. Zurück zu dir, lass mich direkter fragen: Hattest du nie mit Ausgrenzung zu tun, weil du Türke bist?
Mit Ausgrenzung schon. Nicht weil ich Türke bin, sondern meiner Arbeit wegen. Da spielt meine Herkunft natürlich mit rein, jedoch nicht hauptsächlich.
Von Rechtsradikalen? Aus der AFD-Ecke?
Nicht nur, aber auch. Gerade kürzlich habe ich eine Morddrohung bekommen. Obwohl eigentlich überhaupt nichts passierte. Anonym, natürlich. Und du weisst ja in dem Moment nicht, wo dieser Mensch gerade sitzt und wieso er meint, diesen Brief schreiben zu müssen.
(Serdar ist sehr bei sich, ruhig, unbeeindruckt)
Vielleicht hat er im Internet gerade etwas gesehen, das ihn aufgeregt hat. Im Prinzip ist das heute jedoch traurige Realität. Dass es in der rechtsradikalen Szene ein Milieu gibt, das sehr aktiv ist. Sehr aktionsbereit. Weil es nicht mehr im öffentlichen Fokus steht, hat man das Gefühl, es hätte sich beruhigt.
Du meinst, nicht mehr so sehr im medialen Fokus?
Ja genau. Dabei hat sich die Lage sogar noch verschärft. Der Zuwachs an rechtsradikalen Gewalttaten nahm in den letzten zehn Jahren konstant um zehn bis zwanzig Prozent zu. Jedes Jahr. Auf den Wert, der schon vorhanden war. Gesprochen wird aber vor allem über islamistische Straftaten, die tatsächlich nur einen kleinen Prozentsatz der gesamten Gewalttaten einnimmt. Dann weisst du, dass es in einem bestimmten öffentlichen Interesse liegt, nicht darüber zu sprechen.
Woran liegt das?
Es würde einen Imageschaden bedeuten. Jeder Anschlag, auf Synagogen oder auf in Deutschland lebende Migranten, ist immer etwas, das nach aussen gesendet wird – und da ist die Politik darauf bedacht, es in einem gewissen Mass zu halten.
Was fällt dir in deinem Umfeld auf?
Ich erlebe die hässliche Realität, dass es in Deutschland ziemlich gut funktionierende rechtsradikale Strukturen gibt.
Die immer mehr, wie Thilo Mischke für die ProSieben-Doku „Deutsch. Rechts. Radikal“ über eineinhalb Jahre recherchierte, durch die AFD im Netz gesteuert wird. Kam die Morddrohung eigentlich online?
Nein, die kam per Post. Ganz altertümlich.
Echt jetzt?
Also nicht so wie man das aus Krimis kennt, mit diesen aufgeklebten Buchstaben. Und nicht, dass ich mich darüber lustig machen will, das Thema ist viel zu ernst. Aber ja – mit Schreibmaschine geschrieben.
Du machst Witze.
Nein, da scheint jemand ein bisschen älter zu sein. Die Post kam ganz akurat verpackt, im Briefumschlag, mit Stempel drauf. Was dumm ist. Aber nicht erstaunlich.
Leider.
Das Problem der Gesellschaft ist, dass man in Deutschland eine latente Fremdenfeindlichkeit hat, die wirklich grundsätzlich gegen alles ist, was fremd ist. Auch Lebensarten, die fremd sind. Eine Ablehnung, die aus der Mitte der Gesellschaft kommt. D.h. wir haben einen sehr reaktionären Kern, etwa zwanzig Prozent, und innerhalb dieses Kerns gibt’s Extreme, die durch Flügel der AFD oder eben auch anderer Parteien vertreten werden, die deutlich rechtsextremer sind als die NPD oder DVU in Bayern. Und dieses strukturelle Problem müsste eigentlich vom Gesetzgeber wahrgenommen werden.
Wie müsste der dem entgegen treten?
Indem man Präventionsprogramme fördert und dauerhaft Organisationen unterstützt, die Aufklärungsarbeit leisten. Das passiert nicht, nur in Form von kleinen Stichen. Mit irgendeiner Demo, nachdem in Chemnitz auf offener Strasse jemand verfolgt wurde.
Worüber berichtet wird. Und wonach man sich solidarisch zeigt.
Ja, da stehen kurz danach Künstler auf der Bühne – unter dem Motto „Wir sind mehr“. Es werden Hashtags erfunden, Facebook-Profile geändert, aber das verschwindet dann so schnell wie es gekommen ist. Die Leute, die sich vor Ort mit diesem Problem auseinander setzen müssen, werden fortan im Stich gelassen.
Wird das bewusst toleriert?
Ich glaube nicht, dass das etwas mit Bewusstsein zu tun hat. Es hat mit bestimmten Wahrnehmungsmechanismen zu tun. Die Dinge, die wir wahrnehmen, sind gleichzeitig auch die, worüber wir sprechen. Und zwar akut. Sobald wir etwas wahrnehmen, reden wir darüber. Aber nehmen wir wirklich vollständig alles wahr, worüber wir sprechen? Oder selektiert jemand für uns, was wir wahrnehmen sollen?
Wenn man so etwas sagt, gilt man als Verschwörungstheoretiker.
Die Medien haben mittlerweile einen ungeheuren Einfluss auf unsere allgemeine Wahrnehmung. Die Menschen halten das, was die Medien ihnen vorgeben, für Realität. Das, was ich jetzt gerade lese, so scheint es auch zu sein. Aber so ist es eben nicht. Afghanistan, worüber wir vor fünf Wochen gesprochen haben, ist immer noch ein Problem, aber wir reden nicht mehr darüber. Oder globalere Themen, zum Beispiel Hunger – jeden Tag sterben hunderttausende Menschen deswegen.
Interessiert gerade niemanden.
Nein, wir interessieren uns für Inzidenzzahlen zu Corona. Und das sind dann am Tag sieben Tote. Ich möchte die Toten in der Qualität gar nicht erst wertend gegenüberstellen. Aber es geht um das Mass und die Relation unserer Wahrnehmung. Die Bedeutung, die wir dieser Wahrnehmung geben. Und daran sind die Medien eben massgeblich beteiligt. Ihre Absicht ist es, unser Interesse und unsere Aufmerksamkeit auf die Themen zu lenken, die sie für verkaufsträchtig halten.
Gerade, wo du Corona und Wahrnehmungen erwähnst, ist es mittlerweile so, dass durch die Art der globalen Medienberichterstattung Meinungen, resultierend aus Wahrnehmungen, zu Politika gemacht wurden. Die Gesellschaft ist diametral in zwei Lager gespalten.
Ich würde da erstmal gerne den Bogen zum zentralen Problem unserer Zeit, das hat auch die UNO in den letzten Jahren immer wieder betont, der Verteilungsungerechtigkeit, spannen. Was dazu führt, dass die meisten Menschen in Armut leben. Und ihrem Schicksal ausgeliefert bleiben.
Womit konkret?
Durch Naturkatastrophen, eine desaströse Wirtschaft, aber vor allem auch dadurch, dass wir diese Menschen ausnutzen. Indem wir von dem, was sie herstellen, profitieren. Dafür kein faires Geld bezahlen und immer weiter versuchen, uns daran zu bereichern. Was wieder zu Konflikten führt, aber nicht dazu, dass wir ein schlechtes Gewissen haben. Und wir glauben würden, dass wir, wie beim Klima-Thema, etwas tun müssten, weil es uns vor die Füsse fallen könnte. Sondern wir ignorieren das. Oder noch schlimmer: Wir fördern die Verteilungsungerechtigkeit, damit wir noch mehr profitieren können.
Wie meinst du das?
Zum Beispiel, indem wir Waffen verkaufen. Also nicht wir direkt. Aber die bundesdeutsche Regierung. Da zähle ich aber mich und dich dazu, die Passiven, die von der Möglichkeit wissen, dass es passieren kann. Also sind wir sozusagen stillschweigende Mittäter. Die Bundesregierung macht seit jeher Geschäfte mit Saudi Arabien, was mit dem Islamischen Staat vergleichbar ist. In Sachen Entwicklung und Stand der Gesellschaft. Und diesem Land verkaufen wir Waffen, weil wir damit hoffen, territoriale Ansprüche zu vertreten. Nämlich im Nahen Osten eine vermeintliche Bastion der westlichen Demokratie zu haben, die aber das Gegenteil ist. Und die Araber setzen diese Waffen ein. Vielmehr, sie fühlen sich auch noch bestärkt in ihrer Innenpolitik.
Die Menschenrechte, insbesondere jene der Frauen, mit Füssen tritt.
(aufgebracht)
Ja, und das interessiert uns nicht. Dass Frauen keine Rechte haben, es keine Chancengleichheit in der Bildung gibt. Und das tun wir nicht nur mit solchen Staaten, sondern auch mit hochgradig kriminellen. Wir fördern damit Konflikte in der Welt, aus denen wieder Probleme entstehen, die vor unserer Haustür landen. Weil die Menschen zum Beispiel ihre Heimat verlassen. Denn sie sehen im Internet, wie gut es uns hier geht und wollen das gleiche Leben haben wie wir. Ein Leben in Freiheit und Wohlstand. Jeder Mensch hat das Anrecht auf diese Privilegien.
Vor allem auf das Privileg, in Würde – oder überhaupt – zu leben. Eigentlich ein Grundrecht. Die Länder, woher die meisten Flüchtlinge kommen, sind Bürger- bzw. allgemein Kriegsländer, in denen das Volk wegen Herkunft oder Religionsangehörigkeit verfolgt, gegeneinander aufgehetzt – und militärdiktatorisch geknechtet wird. Auch hier spielen Massen-Medien bei der Wahrnehmung und deren Resultat eine tragende Rolle.
So ist es. Und wenn wir jetzt zum Corona-Thema kommen, welches du initial angesprochen hattest: das ist die erste grosse Krise seit dreissig, vierzig Jahren – sagen wir sogar, nach dem zweiten Weltkrieg, in der wir global betroffen sind und eine gemeinsame Lösung brauchen. Nicht nur, um uns selbst zu schützen, sondern auch die, die nicht hier leben. Weil diese Krankheit grenzübergreifend ist. Wenn in Afrika irgendjemand an Corona erkrankt, dann landet das irgendwann bei uns. Die Deltavariante kommt aus Indien. Da ist Solidarität gefragt. Wie dass zum Beispiel Impfstoffe, die hier nicht in Anspruch genommen werden, kostenlos ins Ausland verschickt werden.
Wie ist deine Meinung zur Innenpolitik?
Der innenpolitische Teil ist sehr vielschichtig und im Moment schwer zu besprechen, weil die Gesellschaft sich tatsächlich gespalten hat. Es ist kaum noch möglich, innerhalb dieser zwei Lager eine Position zu finden, die vernünftig und rational ist – eine, die lieber abwägt. Jede Person ist frei, zu entscheiden, ob sie sich impfen lassen will oder nicht. Das muss ja nicht gleichzeitig bedeuten, dass eine der beiden Seiten unsolidarisch ist. Es gibt sehr viele Menschen, die einer Impfung skeptisch gegenüber stehen. Oder sich nicht impfen lassen können. Wie Schwangere. Menschen, die Vorerkrankungen haben, und durch die Impfung befürchten, es könnte schlimmer werden. Es gibt Leute, die der Impfung nicht vertrauen, und das ist meiner Meinung nach Anlass genug, dass der Gesetzgeber die Daumenschrauben nicht noch enger ziehen sollte, indem er sagt „2G, 1G, wir machen, was wir wollen, bis ihr kapiert habt, dass ihr geimpft werden müsst“.
Sondern?
Wir brauchen in der Gesellschaft einen breiten Diskurs, wie wir mit dieser Krankheit, die unbestritten besteht, vorsorglich und vernünftig umgehen. Das macht der Gesetzgeber aber nicht, sondern viel Schlimmeres. Er redet mit uns, als wären wir seine Untergebenen. So in der Form: Wenn ihr nicht tut, was wir euch sagen, dann passiert etwas ganz Schlimmes. So redet man nicht mit mündigen Menschen, so redet man mit Schutzbefohlenen.
Wobei es auch um den Inhalt der Information geht.
Die Erklärungen reichen nicht mehr aus. Wir haben in Deutschland eine propagierte Impfquote von 65 % zweimal Geimpfter. Dann kam hinzu, dass die Doppelimpfung nicht reichte und es einer Auffrischung bedarf. Dann hiess es aber, nicht alle müssen, sondern nur die über Sechzigjährigen. Dann wurden die Impfstoffe in Frage gestellt. Moderna wurde wieder zurückgezogen, Astra-Zeneca galt am Anfang als gefährlich, wurde wieder eingeführt, Johnson & Johnson scheint gar nicht mehr gegen die Delta-Variante zu schützen. Da frage ich mich, wie können Leute, die in der Verantwortung stehen, seit zwei Jahren die Möglichkeit haben, einen Plan gegen diese Krankheit zu entwickeln, so unbedarft sein? Und seine Menschen so schlecht darüber informieren?
Das fragen sich Viele.
Es kam vorletzte Woche raus, dass weitaus mehr Menschen geimpft als registriert waren. Wir sind eigentlich bei einer Impfquote von achtzig Prozent. Plus den Genesenen von fünf Prozent oben drauf. Das wären dann 85 Prozent. Also macht jede Massnahme, die jetzt noch aufrecht erhalten wird, überhaupt keinen Sinn. Wir werden das Impfziel von 95 Prozent, das Christian Drosten vorgegeben hat, nicht erreichen.
Sind die Massnahmen für dich generell nachvollziehbar?
Schau, du setzt eine Maske auf, wenn du auf der Strasse bist, darfst aber nicht in Innenräume gehen. Dann wird ein Nachtausgangsverbot verhangen, wonach du dich nachts, wo sowieso niemand auf der Strasse ist, mit allen Freunden in deine kleine Wohnung quetschen sollst. Die Maske kannst du im Restaurant am Tisch abnehmen, weil die Aerosole, weiss ich nicht, wenn du sitzt, wahrscheinlich eine Pause machen. Im Theater darfst du sowieso nicht auf zehn Meter an den Nachbarn heran rücken, während du im Flugzeug dicht an dicht sitzt – und zum Essen die Maske abnehmen kannst. Da muss man plausiblere Lösungen haben, und vor allem die Politik, die dafür verantwortlich ist, transparenter sein.
Eine Freundin von mir wurde nach der Impfung vom Arzt mit den Worten „Sie sind jetzt frei“ verabschiedet.
Ja, im Moment entwickelt sich ja so ne Art Impf-Elitarismus. Die Geimpften, die sich für erhaben halten – und die Ungeimpften sind die Geächteten.
Genau.
Das darf nicht passieren. Ich kenne sehr viele ungeimpfte Menschen, die sich verständlicherweise nicht impfen lassen wollen. Und geimpfte Menschen, die übrigens immer noch in Sorge sind. Es gibt Impfdurchbrüche mit schweren Verläufen. Auch das wird ja nicht öffentlich und transparent diskutiert. Vor allem gibt es keinen Plan. Das Robert-Koch-Institut empfiehlt eine Dreifach-Impfung bei Corona und die Sofort-Impfung für Grippe.
Blickst du noch durch?
Ich verstehe nicht, wie wir in der nächsten Zeit damit umgehen wollen. Immer noch in diesem Zustand bleiben, in dem wir in den letzten zwei Jahren waren? D.h. alles dicht machen, sobald die Inzidenzzahlen wieder hoch gehen? Oder wollen wir etwas anderes versuchen? Man sieht das am Modell in Schweden, wo fast gar keine Massnahmen verhängt wurden, die Inzidenz liegt bei Fünfzig. Im Gegensatz dazu stehen wir in England bei Dreihundert. In Dänemark, ohne wirkliche Massnahmen, liegt sie bei Achtzig. Also ist es doch berechtigt, zu fragen: Sind wir den richtigen Weg gegangen? Hätten wir die Pandemie ab einem gewissen Zeitpunkt einfach akzeptieren müssen? Statt sie immer wieder in Scheibchen zu schneiden – und damit konstant zu verlängern?
Mit welcher Konsequenz?
Was wir jetzt sehen, ist, dass die Inzidenzzahlen saisonbedingt wieder steigen werden – ganz normal. Wie beispielsweise bei der Grippe, wo die Inzidenz bei 350 liegt. Davon spricht aber keiner. Wenn wir konsequent wären, müssten wir uns jetzt alle drei Monate impfen lassen, nur noch mit Maske durch die Stadt laufen. Und alle Nichtgeimpften aus allen öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen werden. Das kann ja nicht sein. Weil die Querdenker dann zurecht von einer Corona-Diktatur sprechen würden. Genau deswegen würde ich mir als Staat die Mühe machen, diesen Leuten nicht die Argumente in die Hand zu spielen.
Man stellt Leute, denen man leider doch Argumente in die Hand spielt, die Fragen stellen, als Rechtsradikale hin. Gleichzeitig aber auch als realitätsfremde Hippies mit Aluhut. Auch hier: Stahlhelm oder Aluhut – nicht wahr?
Querdenkern würde ich keinen Persilschein ausstellen – das sind Rechtsradikale. Identitäre. Aber man muss genau hin schauen. Wie die AFD das Thema für sich in Beschlag nimmt und sagt, Partei der Corona-Gegner zu sein. Ich habe mich übrigens auch gewundert.
Über die AFD?
Ja. Weil sie sich noch viel mehr auf die Seite der Impfgegner hätte stellen können. Das trauten sie sich komischerweise nicht. Trotzdem liegt darin schon eine Bedrohung, dass sich politische Lager zusammen schliessen. Unter dem Deckmantel der Corona-Kritik. Das muss uns alle in Sorge versetzen. Ich sehe, dass die Politik sich nicht nur damit beschäftigt, was ihr ureigenes Feld ist: nämlich Politik. Sondern damit anfängt, gesellschaftsrelevante Themen für sich zu erobern. Und da ist Corona ein sehr emotionales Thema.
Wir sind beide mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keine Nazis. Und stellen trotzdem Fragen. Zum Beispiel: Wenn wir frühere Pandemien betrachten, gab es bei keiner jemals so eine politische Auseinandersetzung, polizeistaatliche Massnahmen und Gesellschaftsspaltungen – selbst innerhalb von Familien. Warum glaubst du, war bzw. ist das bei Corona anders? Kannst du verstehen, wenn sich immer mehr Leute elementare Fragen stellen, wie: Worum geht’s hier eigentlich wirklich?
Das ist mir zu verschwörungstheoretisch. Ehrlich gesagt. Ich bin nicht dieser Meinung, lasse aber deine und auch andere Meinungen gelten.
Das ist eine Beobachtung, keine exklusive Meinung. Es gibt sehr viele schlaue Menschen, deren Stimme seltsamerweise sofort im Keim erstickt wird, sobald sie etwas Konträres sagen bzw. berechtigte Fragen stellen. Die werden, ohne angehört zu werden, pauschal als Spinner hingestellt. Das würde mich auch eher verunsichern, als dazu bringen, zu vertrauen.
Es gibt in der Gesellschaft immer weniger Bereitschaft, sich mit anderen Argumenten auseinanderzusetzen. Für mich stellt sich nicht die Frage, wer jetzt dahinter steht. Ob das die Pharma-Industrie ist, Bill Gates oder irgendeine Weltverschwörung.
Das sagen diese Leute ja nicht, die meisten lehnen diese irren Verschwörungstheorien ab. Finden einen Atila Hildmann und seine Auftritte genau so lächerlich, werden trotzdem in einen Topf mit ihm geworfen, Covidioten oder Querdenker genannt. Für die andere Seite gibt’s medial keine abwertenden Bezeichnungen. Verschwörungen wären, wenn es welche wären, nicht zu durchschauen.
Eben. An diese Weltverschwörung glaube ich nicht, das wäre zu einfach.
In der Tat. Aber was ist es?
Eine Kettenreaktion. Welche nur deswegen funktionieren kann, weil die an der Kettenreaktion beteiligten Elemente ausser Kontrolle geraten sind.
Now we´re talking. Welche?
Allen voran die Presse, der wir in den letzten Jahren soviel Macht – in Form der Grundlage unserer Wahrnehmung – übertragen haben. Wir haben die Haltung: Was ihr uns berichtet, ist das, worüber wir nachdenken. Anstatt mündige Bürger bzw. Freigeister zu bleiben, die sich das Recht zur Differenzierung herausnehmen. Zu sagen, wir nehmen nicht nur die Seiten, die ihr für uns vorbereitet habt, sondern: wir würden auch gerne die anderen kennen.
Was viel zu tun gäbe. Würde man es tatsächlich tun.
Das ist ein Aufwand. Es ist unmöglich, jeden Tag die gesamte Nachrichtenlage der Welt zu beobachten, um das differenzierteste Bild zu haben, das man haben müsste, um eine fundierte Meinung zu haben. Aber man kann an den richtigen Stellen die richtigen Fragen stellen. Und auch Zweifel haben. Also wenn die Bild-Zeitung beispielsweise monatelang die Corona-Angst geschürt hatte, indem sie immer wieder über schlimmere Zahlen und Fälle berichtete, frage ich mich, warum sie jetzt auf der Seite der Corona-Leugner ist. Und das Ganze runter spielt.
Hast du dazu eine Antwort?
Ganz klar, weil die Bild-Zeitung ein marktwirtschaftlich orientiertes Unternehmen ist und davon lebt, dass Menschen sie lesen. Damit das passiert, muss sie immer wieder Gründe dafür erfinden, um das Interesse zu wecken. Und mit den Ängsten der Menschen spielen, damit diese die Zeitung kaufen oder abonnieren.
Funktioniert. Die Frage ist, warum immer noch. Aber egal, fahr fort.
Der zweite Faktor, der ausser Kontrolle geraten ist, ist die Politik. Ist das Geltungsbedürfnis einiger Politiker.
(wird laut)
Es ist ein Unding, dass ein Politiker wie Karl Lauterbach, der ein Bundestags-Mandat und damit eigentlich eine Aufgabe hat – nämlich im Bundestag zu sitzen und im Wahlbüro sich um seine Aufgaben zu kümmern – die ganze Zeit im Fernsehen sitzt. Das nicht nur zu seinem Themenbereich, was ja noch okay wäre. Wenn er über Corona sprechen würde, das ist Teil seines Jobs. Nein, der sitzt mittlerweile in Comedy-Sendungen, singt mit irgendwelchen Comedians Lieder und rappt. Spätestens da muss man sagen: Hier ist die Grenze zur Selbstdarstellung überschritten. Der Mann sollte lieber vernünftig bleiben und sich um seinen Job kümmern, statt permanent in jedem Format aufzutreten und sich darin zu sonnen, dass er angeblicher Corona-Experte ist.
Daran haben Viele, spätestens seit seinem Auftritt in der Sendung „Maischberger“, ihre Zweifel. Ein regelrechter Shitstorm ist über ihn hergefallen.
Und da kommen wir zum dritten Teil, der ausser Kontrolle geraten ist: Das Internet. In dem jeder Einzelne mittlerweile ein eigener Sender ist. Und jede Meinung plötzlich soviel Platz bekommt, dass man nicht mal mehr weiss, was das eigentlich ist, worüber wir gerade sprechen. Dinge entwickeln sofort eine Dynamik – und in dieser entstehen Shitstorms, Hashtags, welche wiederum Politik und Medien beeinflussen. Weil die sich aus dem Internet ihre Themen holen. Also ist das ein sich selber fütterndes Perpetuum Mobile. Und die Kontrolle, welche wir dringend bräuchten, die gerade verloren gegangen ist, hat ermöglicht, dass Corona frei grassieren konnte. Nicht nur physisch, sondern auch psychisch.
Auch aufgrund der Lockdowns, die erheblichen wirtschaftlichen und sozialen Schaden angerichtet, ja ganze Wirtschaftszweige gekillt haben. Gastronomie, Event, Kunst. Du bist Künstler, lebst vom Auftreten. Wie ist es für dich, dass du das nicht tun kannst, wofür und wovon du lebst? Zumindest nicht mehr im Ansatz von der Form, wie es vor drei Jahren noch möglich war?
Schrecklich. Es macht gar keinen Sinn mehr. Wenn du siehst, wie sich die Lobbys durchsetzen können, durch die Politik, dann fragst du dich: Worum geht’s hier eigentlich? Will man die Menschen vor der Krankheit schützen? Dann müssten alle Regeln für alle gleich gelten. Sprich: Abstand halten. Wieviele G auch immer. Oder aber geht’s darum, dass sich der Stärkste durchsetzen kann? Und derjenige, der seine Forderungen am lautesten stellt, am Ende der Begünstigte ist?
Zum Beispiel?
Die Fussball-Lobby hat eine Europa-Meisterschaft durchgesetzt. In einer Zeit, als die Inzidenz-Zahlen in Ungarn bei 480 waren, war das Stadion in Budapest rappelvoll (Alle Spiele wurden vor ausverkauftem Haus, mit 60´000 Menschen, gespielt, Anm. d. Red.).
Daniel Koch wurde von der UEFA explizit für diese Europameisterschaft als „Medizinischer Berater“ angeheuert.
Das wusste ich nicht.
Ist so.
Ah okay. Während wir bei unseren Veranstaltungen maximale Kapazitäten von hundert Plätzen haben. In Sälen, in die tausend oder zweitausend Menschen passen. Die sitzen in zehn Metern Abstand zueinander, im Schachbrettmuster, mit einer Maske an, müssen getestet sein, genesen oder geimpft. Und das kann kein Veranstalter mehr machen, weil er sich dadurch die Existenz ruiniert. Du kannst mit fünf oder zehn Prozent Platzbelegung keine Veranstaltung machen und dabei rentabel sein.
In der Schweiz ist das für gewisse Veranstalter seit diesem Jahr zum Glück ein bisschen anders.
Ja, da wurden schnell Ausfallgarantien eingeführt. Das heisst, der Rest der Saalkapazität wird vom Staat getragen. In Deutschland jetzt auch. Ist aber viel zu spät gekommen. Deshalb sind wir Kulturschaffende nach wie vor in einer Krisensituation. Es ist desaströs. Viele werden das nicht überleben. Und dann werden wir sehen, ob die, die sagen „Die Kultur kommt ganz am Ende“ noch ins Kino, Theater oder die Oper gehen können. Ob es noch Filme gibt, die gedreht werden können, weil Schauspieler genug Zeit haben und Geld verdienen, um es zu tun. Wir werden einen massiven Einbruch in der Kulturszene haben. Und das ist gerade erst der Anfang.
Kannst du Helge Schneider verstehen, dass er das Strandkorb-Konzert abgebrochen und danach die ganze Tour abgesagt hat? In den Foren gab´s Applaus für ihn, er hat den Leuten – stellvertretend für alle Künstler – leid getan.
Mir haben die Leute leid getan. Die können ja nichts dafür, dass sie da in Strandkörben sitzen. Da sollte der Künstler so bescheiden sein und sagen, okay, ich bin froh, dass ich hier überhaupt spielen kann. Und viel froher noch, dass viele Leute gekommen sind. Die Bedingungen sind nicht so, wie ich sie gerne hätte. Aber sie sind nun mal so. Und deswegen fand ich die Reaktion von Helge Schneider sehr überzogen. Ich habe auch vor Autos gespielt. Und Leuten, die hundert Meter entfernt sassen. Aber ich war vor allem dankbar und froh, dass diese Menschen überhaupt gekommen sind. Ich empfand es als meine Pflicht, den Menschen zu zeigen, dass ich auch da bin.
Helge Schneider hätte sich informieren können, bevor er da auftritt. Und die Veranstaltung, wenn schon, vorher absagen. Er hat sich danach dahingehend geäussert, dass er nicht wusste, dass es Kellner waren, die im Graben vor ihm zwischen Bühne und Publikum hin und her gingen. Was der letztendliche Grund für den Abbruch dieses Strandkorb-Konzerts war.
Ja gut, der hat sich vorher schon widersprochen. Zu Beginn der Krise hatte er gesagt, er gehe so lange nicht mehr auf die Büihne, bis Corona nicht mehr existiert. Dann hat er wahrscheinlich doch gemerkt, dass ihm das Spielen oder das Geld fehlt, also ist er wieder auf die Bühne gegangen. Das war ihm dann nicht gut genug. Auch vermeintlich sympathische Künstler können Fehler machen. Oder arroganter sein, als man es ihnen zutraut.
Auch du bist Musiker. An wem orientierst du dich? Hast du Vorbilder?
Ich habe Musik studiert, daher ist mein Musikgeschmack sehr breit gefächert. Habe aber keine Helden oder Vorbilder. Das wäre mir zu simpel. Bin kein Mensch, der Personenkult mag.
Anders gefragt: Welche Musik hörst du gerne?
Ich höre alles. Für mich ist die Stilrichtung nicht wichtig, sondern etwas viel Entscheidenderes von Bedeutung: Nämlich, ob Musik eine Seele hat. Jede Form von Musik kann Seele haben. Also Bozo Vreco, von dem wir zu Beginn gesprochen haben, hat eine unglaublich faszinierende Seele. Da ist der Balkan mit drin. Sein persönliches Schicksal. Dann diese schillernde Figur, die er verkörpert. Aber es muss nicht mal ein Musiker sein, auch ein Ton kann Seele haben. Miles Davis hat diesen Ton sehr oft getroffen.
Privat erst bei seiner Frau Betty Davis, Siebziger-Funk-Ikone mit einer dominanten Wildkatzen-Präsenz und -Stimme, deren Energie locker ausgereicht hätte, um Las Vegas nächtelang mit Strom zu versorgen. A propos Ton, Seele, Funk: Kennst du den Song „Maggot Brain“ von Funkadelic? Wo Eddie Hazel nur mit seiner Gitarre über zehn Minuten lang eine herzzerreissende Geschichte erzählt? In Form eines warmen, emotionsgeladenen, eruptierenden, psychedelischen, dramaturgisch perfekt arrangierten Solos?
„Maggot Brain“ kenne ich, klar. Das ist eben die Funktion der Musik: Dass sie dir einzigartige Geschichten erzählt. Und kein Plagiat ist. Sich nicht dauernd wiederholt. Darauf ist kommerzielle Musik ausgerichtet. Die ist dafür da, dass man sich dieser Seelenlosigkeit hingeben kann. Musik, die im Hintergrund läuft, ohne dass man sich gestört fühlt. Gute Musik stört aber oft auch. Verlangt einem viel Konzentration bzw. Aufmerksamkeit ab. Deshalb höre ich privat kaum mehr Musik.
Wann dann?
Selten mal im Auto. Sehr gezielt. Ich kann nicht komplette Alben durchhören. Wenn, dann einen Track. Und den mehrmals. Um herauszufinden, was mich daran fasziniert. Ich mag auch keine Hits, das ist mir zu berechenbar. Ich höre sehr analytisch, manchmal auch emotional. Wenn Musik zu simpel wird, dann strengt mich das an.
Hast du dir nie ein Pink Floyd Album in voller Länge angehört? „The Wall“, zum Beispiel?
Bei Pink Floyd ist´s natürlich anders. Das sind Gesamtkunstwerke, wo es darum geht, diese Konzeptalben ganz anzuhören.
Welche Musik- oder auch Film-Projekte entstehen bei dir gerade?
Es gibt einige. Wir holen einen Kinofilm-Dreh nach, der wegen Corona verschoben wurde. Ich habe Bücher geschrieben, um Corona wegzuorganisieren.
Wegzuorganisieren. Herrlich.
Ja, wir mussten unsere komplette Struktur ändern. Wir sind auf Streaming-Plattformen gegangen. Haben eine sehr schöne Show, die einmal im Vierteljahr kommt: Die „Extreme Late Night Show“. Das muss sich erstmal einpendeln. Die Zuschauer müssen sich an die neuen Strukturen gewöhnen. Auch daran, dass es Inhalte gibt, die bezahlt werden müssen, weil Kultur eben Geld kostet. Und wir den Beteiligten im Umfeld nicht zumuten wollen, ehrenamtlich arbeiten zu müssen.
Wie weit seid ihr damit?
Wir sind stolz und glücklich, dass es funktioniert. Es ist alles eine Wahnsinnsarbeit und Umstellung. Ich kann nicht jeden Abend auf die Bühne gehen und erwarten, dass ich tausend Leute vor mir habe. Sondern ich muss jetzt auch mal vor hundert spielen. Und bin dann auch in einem Stream vor fünfzig Leuten, die nur zehn Euro, statt dreissig, bezahlen. Aber ich hoffe sehr, dass ich bescheiden genug geblieben bin, das anzunehmen. Ich sehe es auch als Herausforderung. Freue mich einfach, dass viele Projektideen durch die zurückgegangenen Zahlen neu dazu kommen – und ich die Zeit und Möglichkeit habe, diese umzusetzen.
Ist das eine vorübergehende, alternative Struktur, bis nächstes Jahr, und werden die analogen Performance-Möglichkeiten wieder komplett zurückkommen? Oder ist das digitale das neue Hauptgeschäft?
Eine der guten Sachen, die Corona gebracht hat, ist es, uns aufzuzeigen, welche technischen Möglichkeiten wir haben, die wir umsetzen können, um sinnvoll weiterzuarbeiten. Ich habe das irgendwie geahnt, nenn mich Hellseher, als ich vor drei Jahren angefangen habe, meine Inhalte selbst zu produzieren, zu digitalisieren und in meinen Online-Shop zu stellen. Das hatte damals den Grund, dass ich unabhängig sein wollte. Von Fernsehsendern bzw. Auftraggebern, die meine Arbeit zensieren oder auf die Inhalte meiner Arbeit Einfluss nehmen wollten. Was wir jetzt erleben, ist, dass KünstlerInnen, die in solchen Abhängigkeiten sind, sich auch anfällig machen. Und ihre Inhalte angreifbar. Es reicht, wenn irgendein Medium einen Inhalt, auch wenn der dreissig Jahre alt ist, aufgreift, eine Debatte startet, welche den Arbeitgeber, relativ schnell, aus Angst davor, mit betroffen sein zu können, dazu bringt, Konsequenzen zu ziehen. Und die ArbeitnehmerInnen bestenfalls so unter Druck setzt, dass sie sich selber aus dem Verkehr ziehen.
Wie man das bei Lisa Eckhart vehement versuchte. Mit einer fast schon manisch anmutenden Medienhetze und einhergehenden gecancelten Shows. In Hamburg, zum Beispiel. Man warf ihr vor, „antisemitische Inhalte“ zu verbreiten – und ruderte erstaunlich schnell wieder zurück, allen voran der WDR, als sich Leute wie Michael Niavarani oder Dieter Nuhr auf ihre Seite stellten.
Mir war immer bewusst, dass in der Arbeit, die ich mache, grosse Gefahr lauert, irgendwann mal anders wahrgenommen zu werden, als sie Zuschauer wahrnehmen, die meine Arbeit verstehen. Mir ist das ja auch passiert, dass Leute, die ich als intelligent eingeschätzt habe, meine Arbeit bewusst missverstanden haben. Um mich zu sanktionieren. Oder mundtot zu machen. Und durch die Infrastruktur, die ich aufgebaut habe, bin ich heute an einem Punkt, wo ich das nicht mehr befürchten muss. Das heisst, selbst wenn das Schlimmste des Schlimmen passiert, behalte ich meine eigene Plattform, weil ich sie in meiner eigenen Hand habe. Und die, die meine Arbeit verstehen, können sie auch weiterhin sehen. Was Corona bewirkt hat, nicht bei allen, ist leider, dass die Zuschauer sehr verunsichert sind.
In wiefern beeinflusst das deine Arbeit?
Nicht nur meine. Ich habe sehr viele KollegInnen, die mir sagen, dass sie jeweils morgens aufstehen und nicht wissen, wieviele Zuschauer am Abend da sein werden. Damit fällt unsere Arbeitsgrundlage, nämlich verlässliche Einnahmen, weg. Das heisst: Der Veranstalter begrüsst dich am Abend und sagt: Es tut mir leid, wir haben nur fünf Prozent Auslastung. Dann weisst du, dieser Veranstalter wird nächstes Jahr nicht mehr existieren. Und wenn du davon abhängig bist, dass er existiert, wirst auch du nicht mehr existieren. Eine Katastrophe, der ich – bisher – glücklicherweise entgangen bin.
Unter anderem weil du auf www.somuncu.de eine neue Online-Erlebnis-Welt geschaffen hast. Um verlässliche Einnahmen zu sichern, schliessen viele Künstler, und das legitim, Sponsoren- oder Werbeverträge ab. Deine öffentliche Person ist eine Marke, die für bestimmte Werte und eine Haltung steht. Würdest du solche Partner für einen Image Transfer zulassen, um dich finanziell abzusichern?
Da wäre ich sehr vorsichtig. Weil Geld, das man nicht selbst verdient, immer eine Abhängigkeit erzeugt. Und Sponsoren irgendwann den Laden auch übernehmen können. Wenn du mit den Produktions-Etats, die wir zur Verfügung haben, zurecht kommst, solltest du versuchen, das weiterhin zu erhalten. Denn mehr als genug Geld generieren, von dem wir gut leben können, wollen wir im Augenblick nicht. Wir wollen uns nicht an den Zuschauern bereichern, sondern für ehrliche Arbeit eine faire Bezahlung bekommen. Alles, was Sponsoren dazu geben, würde ja eine Verpflichtung mit sich bringen – und dann wäre die Arbeit nicht mehr ehrlich. Ich kann nicht für Jägermeister oder Bitburger Pils auf der Bühne stehen, wenn ich nicht weiss, ob die vielleicht in ihrem Keller irgendwelche Leichen verborgen haben, wofür ich mit verantwortlich gemacht werden kann. Ich bleibe lieber bei mir und vertrete zu hundert Prozent das, was ich sage. Und wenn das jemand unterstützen will, kann man das auch unmittelbar bei mir machen.
Schweizer tun das wie Deutsche und Österreicher. In grossem Masse. Natürlich hast du, wie sich´s gehört, auch da deine Feinde. Aber erzähl mal selber: Was ist deine Lieblings-Helvetien-Anekdote?
Da kann ich dir einiges erzählen. Ich bin in der Schweiz recht bekannt. Die Vorstellungen sind immer weit im voraus ausverkauft. Volkshaus Zürich und Casino Basel, zum Beispiel. Das liegt auch daran, dass ich vor einigen Jahren in der Schweiz einen relativ grossen Skandal erzeugt habe.
Am – jetzt kommt´s – Humor – Festival. In Arosa.
Genau. Eines der schönsten und tollsten Festivals, die es gibt. Auf der ganzen Welt. Man spielt da in 2500 Metern Höhe in einem Zelt, mit wunderbaren KollegInnnen. Und bekommt eine Woche Winterurlaub. Ich hab mir damals, 2016, die Frechheit erlaubt, kein Sparten-Kabarett zu machen. Wie man es vielleicht gerne gehabt hätte. Sondern darüber gesprochen, dass ich mich in der Schweiz so wohl fühle, weil die Schweizer eigentlich so sind, wie man sich Deutsche vorstellt: nämlich gepflegt ausländerfeindlich.
(Gelächter)
Ich kenne die Nummer. Grossartig. Damit waren viele Eidgenossen überfordert.
Ja, das hört man in der Schweiz nicht sehr gerne, obwohl die SVP mit über dreissig Prozent eine der reaktionärsten Parteien Europas ist. Und dazu noch sehr viel Erfolg hat. Man hört in der Schweiz auch ungerne, dass wir in Deutschland sehr wohl von Ausschaffungs-, Durchsetzungs-, Anti-Minarett-Initiativen und solchen Abstimmungen mitbekommen.
(Gelächter)
(Grinsend weiter)
Wir wissen in Deutschland ganz genau, was in der Schweiz getrieben wird.
Da sind wir aber schampar froh.
Wenn man das Thema tangiert, gerät man in ein Konstrukt, das sehr seltsam ist, aber auch äusserst spannend – nämlich die Art und Weise, wie Schweizer Medien mit Selbstkritik umgehen. Das SRF, welches die Veranstaltung übertragen sollte, hat meinen Auftritt einfach aus dem Programm gekippt. Mit der Begründung, mein Stand Up wäre zu lang und nicht lustig gewesen. Er hätte zudem auch nicht den Anforderungen des Veranstalters entsprochen.
Ja, genau. PR können sie sonst besser beim SRF.
Alle drei Behauptungen waren falsch. Ich war genau im Zeitlimit, die Leute haben sich kaputt gelacht – und der Veranstalter selbst hat dem Sender widersprochen. Mit den Worten: „Ich fand das toll“. Und hat gleich eine Aufzeichnung meines Auftritts online gestellt, welche binnen Tagen Millionen von Clicks generierte.
Das meinte ich, damit hätte man ja rechnen müssen.
Die Zuschauer konnten sich ein Bild davon machen, wie Medienpolitik betrieben wurde. In einem Fall, wo dem Sender nicht genehm war, was ich gesagt habe. Und das war sehr spannend. Denn auch der „Blick“ hat sich darauf geschmissen und löste eine riesige öffentliche Debatte aus. Mit dem Titel: „Darf ein in Deutschland lebender Türke sich über die Schweiz lustig machen?“
(Gelächter)
Die Antwort war:
(Beide gleichzeitig)
„Ja!“
(Gelächter)
Und die Schweiz hatte bei diesem Humorfestival nur die Möglichkeit, über sich selbst lachen zu können.
(Gelächter)
Schönes Schlusswort. Es war mir eine Freude und Ehre, Serdar. Danke für dieses grundsolide Gespräch und eine volle Stunde deiner wertvollen Zeit. Bleib, wie du bist – die Leute feiern dich dafür.
Danke dir, Sascha. Freut mich, dass das geklappt hat. Grüße in die Schweiz. Wir hören voneinander.