„Black Reuss“-Debüt „Metamorphosis“ – Internationale Metal-Platte der Stunde – Aus Liechtenstein
„The music business is a long shallow money trench, where thieves and pimps run free, and good men die like dogs – there is also a negative side.“ Hunter S. Thompsons satirische Definition der Musikindustrie traf 1973 den Nagel auf den Kopf – und ist nach wie vor ein Schenkelklopfer in der Szene. Einer, der sowohl die Pimp- als auch Dog-Seite kennt, ist Maurizio Dottore.
Maurizio Who? Dottore, Digger. Aus Liechtenstein. Der langjährige Indie- und Majorlabel-Direktor war jedoch nie Thief, schon gar kein Pimp – und als Dog vom Universum immer für zu gut befunden, um zu sterben. Gerade lebt er so intensiv wie nie, was vor allem am Release des Debüt-Albums “Metamorphosis” von Black Reuss liegt.
Black What? Black Reuss ist Dottores Lebensprojekt – und Metal Act der Stunde. Sein erster Longplayer für „Alternative Nation“, eine Metal Institution, das „Album des Jahres“. Krokus-Mastermind Chris Von Rohr bezeichnet sie als „eine Abrissbirne von Platte“. Und ein bekanntermassen anspruchsvolles Metal-Publikum richtet weltweit völlig perplex auf die Laptop-Tastatur gefallene Kiefer.
Operation am offenen Herzen
Wegen einem Nobody, der jetzt für die Öffentlichkeit bereit ist, welche er vorher gemieden hat – wie der Teufel das Weihwasser. Katholisch erzogen, in einem Schweizer Kaff, den ihm verkauften „Sinn des Lebens“ vehement in Frage stellend. Wohlwissend, wissen zu wollen – nicht per se glaubend.
An Fabeln, die ihm als Lebensleitfaden zu einfach waren – und nicht im Ansatz mit dem übereinstimmten, was er sah, erlebte, fühlte. Das machte Dottore mit dem Einzigen aus, auf den er sich verlassen konnte – ihm selber. Was alles andere als leicht werden wird. Der Zugang zu semi-diplomatischer oder gar -kompromissbereiter, immer lauter, ehrlicher, direkter, dreckiger Musik half. Sehr. Inspirierte und bestätigte den ältesten Sohn süditalienischer Einwanderer nachhaltig in seiner Wahrnehmung – und Mission.
Maurizio fing an, sein Gefühls-Chaos, indem er sich nicht mehr allein fühlte, aufzuräumen. Mit dem, was er hatte, Herz und Verstand, nähte er seine Narben selbst – im Alleingang – zu. Eine Operation am offenen Herzen – die zu einem Meisterwerk der Dark-Rock-Geschichte wurde. Namens “Metamorphosis”.
Underpromise – Overperform
Ein jahrzehntelanger Prozess, der Eingriff an Dottores Herz – und dann in seinem Kopf. In dem er sich alle Instrumente selber beibrachte – und eine Art Prince des Metal wurde. Hören Sie sich “Metamorphosis” an: Er hat jeden einzelnen Ton selber eingespielt. Ohne es jemandem zu sagen. Während er längst im Konzert der Big Players angekommen war – zuletzt als Marketing-Direktor von Sony Music Schweiz. Wo er es täglich mit AC/DC, Pink, Bruce Springsteen, Bob Dylan oder Kings Of Leon zu tun hatte. Business as usual. Weniger usual waren die Projekte mit ihm emotional näheren Schweizer Metal-Legenden wie Coroners Tommy Vetterli oder Krokus’ Chris Von Rohr. Deren Aura ihm vielleicht den letzten Kick gab, um – wie man im Fussball sagt – die letzten Prozente seines Leistungsvermögens herauszukitzeln. Und vor allem, daran zu glauben.
Scheissegalster Top Act der Musikgeschichte
Selbst die vermeintlichen Spiriti Recti zogen den Hut vor dem Resultat. Um Dottore sofort in Verlegenheit und in die Lage zu bringen, ihnen den Hut umgehend wieder aufzusetzen – Lob ist ihm peinlich. Weil er er das viel zu selten erlebte Gefühl als eine angebrachte Gefälligkeit betrachtet – die ihm Menschen aus Höflichkeit entgegenbringen.
Keinesfalls würde er es als angebracht oder gar verdient erachten, dass ihn jemand zurecht und aufrichtig lobt. Der Grund, wieso er nie im Leben Erwartungen wecken würde. Never. Was ihn seit jeher, trotz seines überragenden Talents, zu einem fast schon nervtötenden favreschen Tiefstapler machte.
Bezeichnend dafür ist, dass er für dieses Interview nicht einmal professionelle Pressefotos bereit hatte – und bei meiner Anfrage verwundert fragte, ob ich jetzt wirklich welche brauchen würde. Er hätte doch ein jpg vom Cover. Der Mann hat AC/DC in der Schweiz vermarktet.
Ride to hell and back
Unfass- und doch nachvollziehbar. Für ihn halt Priorität Nummer 17. Wichtig ist die Musik. Deren Inhalt und Wirkung. Da überlässt er nichts dem Zufall. Hier kommen die drei Elemente zum Tragen, die ihn als Musiker ausmachen: Talent, Hingabe, Kreativität. Was auf „Metamorphosis“ besonders zur Geltung kommt. Dieses Album hat die durchgehende, warme, eruptive Dark-Gothic-Konzeptspannung von Fields Of The Nephilims „The Nefilim“ und die unerbittliche Wucht von Behemoths „I Loved You At Your Darkest“. Die Platte ist echt nicht lustig – und alles andere als zurückhaltend. In jedem Track widmet sich Dottore jedem einzelnen Gemütszustand, dem er sich während seiner Metamorphose stellen musste. Und das so akkurat, intensiv, ungeschönt, nackt und emotionalisiert intoniert, dass man das Gefühl hat, direkt neben dem Maniac in seinem fuckin Achterbahn-Wagen zu sitzen.
Strasspacio
Er zieht Ihnen ungefragt eine 16D-Erlebnis-Brille über den Schädel – wie beim Film “Strange Days”. Dann bekommen Sie, besonders bei „Grief“, „Anger“ und „Pride“, mit Anlauf und Schmackes eine Magnum-Gusseisen-Pfanne auf die linke und rechte Schläfe gehauen. Bevor Sie Bud Spencer bei „Love“ mit einem millimetergenau zentrierten Hau-Den-Lukas-Thunder-Faust-Schlag auf die Schädeldecke ins Land der Träume schickt. Und wenn Sie dann regungslos mit Ihrem Gesicht in dieser dreckig-nass-kalten Lebenspfütze liegend sowas wie aufwachen, ist das Letzte, woran Sie denken, aufzustehen. Geschweige denn zu atmen.
Stirb langsam – in Ruhe
Und wehe dem, der Sie selbstgefällig daran erinnern will, dass Sie – eigentlich korrekt – Sauerstoff brauchen würden… So schnell und entschlossen diese Person gekommen sein mag, wird sie sich vom Acker machen, wenn sie sieht, wie wütend laut, bestimmt und aggressiv Sie in das vor, in und um Sie liegende Bodenwasser reinblubbern, bis Sie endlich ganz alleine, in aller Ruhe und Stille, in dieser Zweizentimeter-Pfütze – friedlich ertrinken können.
Wahrheit im Grappa, Familie, Arschlöcher und totes Metall
Ich sprach mit dem Visionär dieser Geschichte, einem im Zeichen des Skorpions geborenen Familienvater, Grübler, Multiinstrumentalisten, Songwriter und Tiefstapler über den internationalen Hype um seine Platte, angestrebte Vollkommenheit, eine glasklare Einschätzung vom Papst und der katholischen Kirche, warum man gerade jetzt Arschlöcher aus seinem Umfeld aussortieren sollte, über den Grund, wieso Entombed besser sind als Meshuggah, was Grappa zum Familienfrieden beitragen kann – und wieso es für Liechtenstein jetzt besser ist, die Grenzkontrollen zu verschärfen.
Guten Tag, Maurizio, danke für die Einladung. Friedlich und waldig hier, im neuen Death Metal Mekka.
(Gelächter)
Jetzt einfach etwas genauer schauen, welche nordischen Zeitgenossen, gerade Black Metaller, hier rein wollen. Die sind ja eher humorlos und kriegslustig. Wenn die deine Scheibe hören – und im Internet die ganzen Wälder, Schluchten und Täler sehen. Dann ist hier was los.
(Gelächter)
Erst machten sie in den 80ern Celtic Frost und Coroner vom Fusse des Üetlibergs (der – sind wir ehrlich – kein wirklicher Berg ist) nass – und jetzt kommst du. Ne One-Man-Band. Aus Liechtenstein. Mit Metal-Album des Jahres. Ich hoffe, Count Grishnackh hat nach wie vor keinen gültigen Reisepass.
(Gelächter)
Warum? Mit welchem Ziel? Wie lange?
Liechtenstein oder die Platte?
Mach mal Platte.
Vier Jahre. Bis das Konzept stand. Ich habe, wie du siehst, hier mein Studio eingerichtet. Mir Zeit gelassen. Für ́s zweite brauche ich nur noch ein Jahr. Das erste heisst ja „Metamorphosis“, das zweite „Journey“.
Mooooment – Wie jetzt, zweites Album?
„Metamorphosis“ thematisiert die Verwandlung, dann kommt die Reise. Und das Konzept sieht vier Alben vor. „Arrival“ ist das dritte – und „Death“ ist das Ende.
Macht Sinn.
Retrospektive, Gegenwart, Ausblick – und „Death“ muss ich nicht veröffentlichen, bevor es vorbei ist.
(Gelächter)
Lass dir Zeit, Mate… Wenn es wie David Bowie machen willst, müsstest mit dem Release noch mindestens fünfzig Jahre warten.
(Gelächter)
Ne, so ist es nicht ganz.
Vierzig?
(Gelächter)
Mal von vorne: Habe ich das falsch interpretiert, dass du mit „Metamorphosis“ jede relevante Lebensphase verarbeitet hast?
Ist von aussen gesehen sicher so zu interpretieren. Aber lass mich erklären, wie das Ganze angefangen hat. Es gibt einen Song auf der Platte, der heisst „Love“. Der ist dem Moment gewidmet, als mein Sohn auf die Welt kam. Das ist sechzehn Jahre her. Da hat sich Entscheidendes in meinem Leben verändert.
Inwiefern?
Ich hatte sehr dunkle Zeiten. Gerade wenn ich Alkohol getrunken hatte, fiel ich in einen desaströsen Zustand der Traurigkeit. Das hat sich mit der Geburt von meinem Sohn schlagartig geändert. Jetzt kann ich trinken, soviel ich will – es macht mir nichts mehr aus.
(Gelächter)
Sascha, wir kennen uns ja jetzt ne Weile. Und du weisst, dass ich immer wieder mal, recht viel, für mich alleine laufen ging.
Ja.
Ich musste einiges bei mir verändern. Und der Prozess fand da statt. Ich habe diese Traurigkeit, die Dunkelheit, abgegeben. Seit sechzehn Jahren, wo der Junge jetzt da ist, hatte ich das nicht mehr. Diese Werte, die ich… Weisst du, genau da hab ich das jeweils reflektiert. Und plötzlich machte alles Sinn. Meine Verwandlung hat stattgefunden. Das ist, worum es auf „Metamorphosis“ geht.
Verstehe – aber was soll denn „Journey“ und „Arrival“ noch drauflegen?
Das Ziel wird sein, mit „Arrival“ durch „Journey“ anzukommen. Ich bin jetzt auf dieser Reise und komme dann an. Da, wo du wirklich mal eine Zufriedenheit hast. Und sagst: Die Werte, die mir wichtig sind, kann ich auch leben.
Welche?
Zum Beispiel: Was ist „Love“, Liebe? Oder „Anger“, Wut? Wenn mich diese Zustände leiten und mein Handeln bestimmen, solange bin ich nicht komplett. Wie ich in „Incomplete“ beschreibe.
Du bist es vielleicht schon, fühlst dich aber nicht komplett.
Genau. Und deswegen gab ́s viel Zoff. In der Familie. Es gab Trennungen. Ich hab mit meinem Bruder über ein Jahr nicht mehr gesprochen, obwohl ich ihn sehr liebe. Und heute bin ich näher bei mir, will Menschen, die mir nahe sind, nicht be- oder verurteilen, sondern einfach Gutes tun. Die Pandemiezeit ist übrigens eine gute Gelegenheit, um sich neu aufzustellen, auszusortieren. Unter anderem, wer ein Arschloch ist und wer nicht.
(Gelächter)
Es ist bald Weihnachten, ein Spass für die ganze Familie.
(Gelächter)
Es ist traurigerweise genau so. Gute Miene zum bösen Spiel. Du sitzt da immer wieder am Tisch, es gibt Probleme, die nie geklärt wurden, und keiner sagt was. Wenn du dann irgendwann mal später, mein Vater und ich besoffen uns mit Grappa bis vier Uhr morgens, wirklich erfährst, wie er aufgewachsen ist, was als Vater seine Ängste und Sorgen waren, kommst du auf die Welt. Und verstehst einander plötzlich – zu hundert Prozent.
Es wäre so einfach.
Und doch so schwer. Weil die Leute Angst haben. Und das erlebe ich oft in meinem Umfeld. Angst lähmt und treibt die Menschen zu Handlungen, die sie nicht wollen.
Hast du das als Musik Manager auch erlebt?
Gegen Ende meiner Sony-Zeit wurde mir immer mehr bewusst, dass Herzblut viel wichtiger ist, als irgendwelche Titel, bei denen man ständig Angst davor hat, sie verlieren zu können.
Dann hast du reagiert. Das Highlife in der Musik- und Medienbranche aufgegeben, bist ins Ländle gezogen und arbeitest auch da in verantwortungsvoller Kader-Position in einem international tätigen Unternehmen für Dental-Technik. U.a. für den amerikanischen Markt. Aber, come on, voll spiessig, oder?
Ich lebe auch hier in Liechtenstein gut. Habe einen Job, der für mich Sinn macht, wo ich immer noch in der Funktion eines Direktors bin, aber halt ohne dieses übertriebene Schein anstatt Sein. Alles, was ich zum Leben brauche, ist da. Genügend Zeit für das, was mir wichtig ist: Meine Familie – und die Musik.
Du bist ein sehr geselliger, herzlicher, gastfreundlicher Familienmensch – und katholisch erzogen worden. Hat dich Letzteres am Ende doch mehr beeinflusst als dir lieb ist?
Ja, aber antizyklisch. Ich sagte mal meiner Mutter: Kirche, Papst – all das ist für mich Humbug. Vergiss es, der Papst geht mir am Arsch vorbei. Ihr betet einen Menschen an – wieso soll ich einen Menschen anbeten?
Berechtigte Frage.
Ja, wieso soll ich einer Religion, die Kinder missbraucht, folgen?
Muss man nicht.
Ich glaube schon an etwas Höheres, versteh mich nicht falsch.
Woran?
Ich glaube, nein… Ich weiss, dass ich schon ziemlich lange auf dieser Welt bin. Das viele Leid, das ich in all den Leben gesehen und durchgemacht habe, prägt mich heute.
Woher weisst du das?
Ich habe mich die letzten zwei Jahre stark damit auseinander gesetzt, war unter anderem bei einer Mediatorin, die mir das bestätigt hat. Du kennst mich, eigentlich bin ich der Typ, der, wenn er was anfassen kann, dann ist es so – wenn nicht, who knows. Jetzt habe ich aber Sachen erlebt, die ganz klar das Gegenteil beweisen.
Welche?
Das musst du dir so vorstellen: Ich war bei dieser Mediatorin, habe die Frau noch nie gesehen. Sie kann nichts wissen. Wir sahen uns zum ersten Mal. Und plötzlich fängt sie an, in der Ich-Form zu reden – und mich zehn Minuten lang zu beschreiben. Wie ich fühle, was mir wichtig ist, wie ich denke. Ich glaubte das nicht. Es stimmte alles, was sie sagte. Dann plötzlich: Deine Grossmutter ist da. Und ich hab sie gespürt, meine Nonna! Sie war in dem fuckin Raum! Dann beschreibt die Mediatorin durch sie etliche Familiensituationen, die sie auch nie und nimmer wissen kann – um mir am Schluss zu sagen, dass Nonna stolz auf mich sei und alles gut komme. Dann ging meine Grossmutter, und mit ihr ihre unverwechselbare Energie. Ich spürte die plötzliche Anwesenheit genauso wie ihren Abgang.
Heftig, oder?
Eben. Und deshalb, um auf die Frage zurück zu kommen: Ich glaube, dass es etwas gibt, unsere Seelen wandern. Und wenn es das gibt, existiert auch eine andere Dimension. Ob diese dann das Paradies mit Ananasbäumen ist, ich weiss ja nicht…
(Gelächter)
Apropos Früchte: Chris Von Rohr sagte mir anlässlich unseres kürzlichen Geburtstags-Interviews, ich solle dir Grüße ausrichten – und dass „Metamorphosis“ eine Abrissbirne von Platte sei. Geil, oder?
Schau, ich mache Kunst. Wenn sie gefällt, egal wievielen und wem, freut es mich. Wenn das Lob dann von jemandem wie Chris kommt, dann ist das nochmal anders. Ich halte sehr viel von Chris, nicht nur wegen seiner Karriere, sondern vor allem musikalisch und als Mensch. Ich weiss, wie er arbeitet, was ihm wichtig ist und worauf er hört. Er ist ein extremer Perfektionist, sehr detailverliebt, bringt aber auch immer viel Seele in seine Produktionen. Ich habe ihn ja bei Krokus erlebt. Ich war Marketing Director und er – logisch – Chef der Band. Er priorisierte nicht, wie ́s klingt, das setzte er immer voraus. Die grösste Aufmerksamkeit legte er jeweils darauf, dass etwas rüber kommt. Dieses feine Gespür zum Erreichen des Maximums – das hat er. Vor diesem Hintergrund freut es mich natürlich extrem. Aber ich werde es nicht überbewerten.
(Gelächter)
War ja klar, dass du sowas sagst. Aber hey: Chris’ Meinung hat Substanz und internationales Gewicht in der Szene. Er hat ja einen Ruf zu verlieren, wenn er irgendwelchen Gugus für gut befindet.
(Gelächter)
Ausserdem steht er ja nicht alleine da. Mit seiner Einschätzung. „Metamorphosis“ überzeugt dermassen, dass Tommy Vetterli, Chef von den trashmetaldefinierenden Coroner, Inspiration von Bands wie Nirvana, Metallica, Faith No More, etc., ohne Notstand an Aufträgen, Teil der „Journey“-Produktion wird. Und zur Einspielung deiner Drums kurzum seinen Trommler Diego einberufen hat.
(Maurizio schweigt, peinlich berührt)
Ich hörte, dass Anna Murphy von Cellar Darling, die ehemalige bezaubernde Feeluveitie, dir deine englischen Lyrics überprüft und teilweise korrigiert hat – Stimmt das?
Ja. Ich halte Anna für die mitunter beste Schweizer Metal-Sängerin. War schon bei Eluveitie offensichtlich. Und das beweist sie mit ihrer von dir erwähnten neuen Band Cellar Darling eindrucksvoll wieder – Mann, gibt die Gas…
One in a million.
Sowas von. Ihre erste Reaktion auf meine Texte war: Hey Maurizio, da lässt du aber die Hosen richtig runter – das würde ich niemals machen! Ich sagte ihr: Aber Anna, genau darum geht’s. Diese Musik ist für mich wie ein Tor, wodurch ich gehen muss. Ich – als ich. Zu hundert Prozent.
Wofür du Beifall bekommst. Weltweit. “Alternative Nation” ist eine Institution in der Szene, und die kürten „Metamorphosis“ zur Platte des Jahres. Die aus Liechtenstein kommt, wohlgemerkt. Den Berlin-, London- oder NewYork-Bonus hattest du nicht. Liechtenstein, Mann.
Warum nicht? Und selbst hier gibt es einen, der das in meinen Augen locker toppt: Michael Seele, kreativer Kopf von The Beauty Of Gemina. Was der musikalisch macht, ist outstanding. Der wohnt zehn Kilometer von mir entfernt – in Sargans. Seine erste Single mit The Beauty Of Gemina war „Suicide Landscape“ – und das Tal hier nennt er „Shadowland“.
Das philosophisch Beste aus einer unvermeidlichen Talsituation gemacht – darauf kam in Sion oder Kandersteg noch keiner.
(Gelächter)
Mittlerweile veröffentlichte er neun international gefeierte Studioalben, dazu kommen mehrere Live-Platten – und es gibt sogar ein Buch mit Seeles Texten. Die Region ist also durchaus inspirierend.
The Beauty Of Gemina waren eine Zeit lang bei Universal Music, seit Jahren einer meiner treuesten Content-Kunden (Herzliche Grüsse an Suzy Balkon an dieser Stelle), und da jeweils Staff Darlings. So nennt man bei Labels Bands, die alle Mitarbeiter wirklich geil finden. Und immer Tickets zu Showcases wollen. Für sich – und die ganze plötzlich zehnköpfige Familie.
Wenn du nicht nur kreativ, sondern auch authentisch bist, in der Beschreibung von dem, was dich umgibt, kannst du aus jedem Umfeld geile Sachen machen. Meine Musik ist nicht besonders hochstehend, bei mir gibt’s keine Van-Halen-Solos.
Besser nicht!
(Gelächter)
Aber sie ist zu hundert Prozent authentisch.
Sie hat eine eigene Note – und doch unüberhörbare Einflüsse.
Ja, klar sind das Bands wie Type O Negative, Black Sabbath, Katatonia! Aber beim Schreiben ging ́s um mich und meine Erfahrungen, die ich machen musste, um dieses Album entstehen lassen zu können. Wenn du nicht geografisch konkrete Handlungen beschreibst, wie: Ich war dort, hab das gemacht, etc. – dann gibst du der eigentlichen Message den nötigen Raum, von allen, die es wollen, verstanden und gefühlt zu werden.
Von allen?
Ja – Selbst Journalisten aus England oder Amerika, also Native English Speakers, verstanden sofort – ohne, dass ich es ihnen erst erklären musste – worum es geht. Das hat mich schon beeindruckt. Es war wie bei dir – wir haben nicht gesprochen, ich schickte dir nur die Files.
Und ich war skeptischer als jemand, der dich nicht kennt. Aber überwältigt – damit habe ich nicht gerechnet. Hörte mir das Album immer und immer wieder an. Was mich am meisten beeindruckt hat, ist – wie es Anna sagte – die offengelegte Nacktheit deiner Persönlichkeit und die kompromisslose intensive, extrem skillreiche Intonation deines Lebens. Hardcore, Alter.
Das ist für mich die grösste Freude und Anerkennung, die ich bekommen kann.
(Kurze Anmerkung: Wenn das Gespräch Ihnen intererotisch zu offen und unangenehm sein sein sollte, dann lesen Sie nicht weiter. Denn ja, wir meinen, was wir sagen – auf einer sachlichen Ebene. Und glauben Sie mir, hätte Maurizio in Sahne und Schinkenstreifen ertränkte Spaghetti als Carbonara verkauft, hätte ich ihn ohne zu zögern, umgehend und unnachgiebig, mit gefrorenen Cevapcici erstochen. Wenn Sie doch noch lesen, zu Ihrer Konsumbestätigung: Das hier ist ganz klar kein Freundschafts-Werbe-Artikel, sondern zu hundert Prozent fachlich hochwertiger, im Ansatz immer ehrenhaft skeptischer, im Zweifel für den Journalisten, leider nicht durchwegs von Emotionen befreiter, aber juristisch stichfester Investigativ-Journalismus.)
Hast du dir auch verdient. Man kann sich diesem Seelen-Striptease über diesem Wall-Of-Sound-Teppich unmöglich entziehen. Das Brachiale, Homogene dieser Platte erinnert mich in ihrer hohen Variabilität, ehrlich gesagt, an Entombed.
Eine meiner ersten härteren Scheiben, die ich gekauft habe, war „Clandestine“ von Entombed.
Wusste ich ́s doch.
Es ist heute noch, nach dreissig Jahren, eines meiner Lieblingsalben. Es ist so homogen, aus einem Guss, könnte eine Live-Platte sein. Das Album hat einen huere Spirit, auch ein paar Schwankungen, eben nicht perfekt – und das macht es so vollkommen. Diese Intensität.
Jedes Entombed-Studio-Album ist so markant wuchtig, für mich nahe an Perfektion. So muss eine Death-Metal-Platte klingen. Klar gibt’s dann noch Bands wie Meshuggah, die an renommierten Jazz- bzw. Musikschulen Rhythmik und Arrangement unterrichten.
Ich höre immer wieder Meshuggah, aber es berührt mich nicht halb so viel.
Eben. Die Produktionen sind technisch perfekt, erschlagen dich fast. Und das ist der internationale Benchmark für Perfektion. Aus akademischer Sicht. Aber ist Musik perfekt, wenn sie perfekt ist?
Für mich nicht. Der Treiber bei Musik ist doch immer, ob sie dich berührt oder nicht. Meshuggah tun das in einer gewissen Weise, aber eher aggressiv. Ich bin ein Mensch, den Metal beruhigt. Wenn ich konzentriert arbeiten muss, zum Beispiel, und ich habe Metal im Ohr, funktioniert das bei mir. Bei Meshuggah nicht.
Was denn?
Gojira. Hat für mich viel mehr Seele. Technisch auch versiert, setzen die Skills aber anders ein. Doch: Vor all diesen Bands kommt für mich erstmal Opeth. Die verbinden alles, was komplette Musik ausmacht: Emotionalität, musikalische Kompetenz, Wucht und Seele.
Kannst du mit Klassik was anfangen?
Sehr. Wenn ́s um Musikalität geht, Dynamik, Emotionalität – da kann keine noch so gute Metal-Band mithalten. Obwohl die Nähe zum Genre ja nicht mehr erklärt werden muss. Wie meine Musik auch, da sind, in viel rudimentärerer Form, auch gewisse Klassik-Ansätze drin.
Würde sich auch deshalb live gut umsetzen lassen – gehst du damit auf Tour?
Ehrlich gesagt, würde ich das nur machen, wenn ich merke, dass es wirklich viele Leute interessiert, die zu einer Show kommen würden. Weil auf dieses Touren durch kleine
Clubs hab ich echt keinen Bock mehr. Und es würde keinem helfen. Ich muss ja nicht. Wenn ich das machen würde, dann richtig – zu hundert Prozent authentisch. Und artistisch genau so, wie es eine visuelle Live-Umsetzung des Albums auch erfordert.
Was ist aktuell die authentischste Schweizer Band?
Es gibt einige, aber Triptycon sticht da heraus. Die aktuelle Band von Tom G. Warrior (Gründungsmitglied von Celtic Frost, Anm. d. Red.). Was der macht, ist grandios. Ich hab den ein paar Mal getroffen. Er würde nicht sagen, dass er mich kennt, aber es gab ein paar Berührungspunkte. Bei denen nicht viel passierte. Hoi und Tschüss. Eher schüchterner Typ. Als ich dann in einem sehr tiefgründigen Interview im „Fokus“, auf SRF3, gehört habe, was ihm alles passiert ist, habe ich leer geschluckt. Holy Shit. Im Gegensatz zu dem war mein Leben ein Zuckerschlecken. Und seine Antwort auf die Frage, wieso er alles, was er tat, immer so machte, düster und alles, hat mich umgehauen. Er sagte: Ich hatte keine Wahl. Meine Umgebung hat für mich entschieden. Dieses Thema beschäftigt mich auch. Es ist verdammt schwierig, teilweise nicht möglich, nur das zu tun, oder tun zu können, was man von Herzen will. Da will ich hinkommen. Mit „Arrival“.
Jede Person ist das Produkt ihres Umfelds.
Genau. Und allgemein macht dich das Leben, alles, womit du konfrontiert wirst, und wie du damit umgehst, zu dem, was du bist. In jeder Phase, die du durchlaufen musst – oder darfst. Ich hatte auch diese schier unendliche destruktive Traurigkeit in mir, bin aber froh, dass ich sie verarbeiten und hinter mir lassen konnte – und das Leben jetzt gut zu mir ist.
Danke für das deepe Gespräch, Maurizio.
Gerne, Sascha – danke dir.