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DA SITZT DU. UND ZUPFST DIR DIE HAUT VOM LEIBE.

Da sitzt Du. Und zupfst Dir die Haut vom lebendigen Leib. Fetzenweise. Wir beide wissen, dass dies nur der Anfang sein kann. Ich schaue in Ruhe zu. Hin und wieder mache ich eine Bemerkung. Du gibst knappe Antworten. So sage ich etwa, dass meine Glückseligkeit weder vom Wetter noch vom Fernsehprogramm abhängig sei.

Du antwortest; ebenso ruhig: „Meine auch nicht.“

Ich staune, dass Du nicht schreist vor Schmerz. Gerade ziehst Du Dir – mit dem Daumen und dem Zeigefinger der rechten Hand – einen beachtlichen, dreieckigen Streifen Haut vom Arm herunter. Nachdem Du die Risslinien mit einem japanischen Küchenmesser geschickt vorgeschnitten hast. Dein linker Ellenbogen liegt jetzt bloss. Hautlos. Sowie ein beachtliches Stück Deines Oberarms.

Du wischst das Blut ab. Ordentlich, wie Du eben bist, hast Du den Boden mit alten Zeitungen überspannt, hast eine Menge sauberer Lappen bereit gelegt, bevor es begann. Links und rechts von Deinem stählernen Stuhl stehen zwei Putzeimer aus Plastik auf dem Boden, einer rot, der andere grün. Einer enthält Spülwasser für Deine Wunden. Der andere ist für Deinen Abfall bestimmt.

Es wird viel Blut fliessen heute.

Denn Du hast einen Plan. Und den wirst Du bis zum Ende ausführen.

Diesen Plan hast Du einem uralten – fast so alt wie die Zeit selbst – Buch entnommen, für dessen Lektüre Du eigens Sanskrit gelernt hast, einem dunklen, machtvollen Werk über tantrische Rituale zur linken Hand.

Schon blitzt der zweite freigelegte Ellenbogen auf. Du wirfst die blutigen Hautfetzen in den grünen Putzeimer, wie man eine Bananenschale wegwirft oder ein Speckpapier. Danach wienerst Du Deinen Ellenbogenknochen mit einem sauberen Lappen blank. Du streckst ihn mir entgegen, einem Werkstück gleich, das ich begutachten solle.

„Wie Elfenbein“, denke ich. Kann jedoch nur anerkennend nicken. Dein Blick bleibt kühl, Deine Miene gefasst. Der Ellenbogen bleibt nicht lange sauber. Denn das Blut fliesst immerfort. Jetzt verlangst Du eine Zigarette von mir. Ich gebe Dir eine. Und Feuer.

Deine Arbeit schreitet voran. Während ich den DJ mache. Jetzt läuft gerade „Moog Marmalade“ von Galactic, den zeitgenössischen Fürsten des Fonk aus New Orleans, Louisiana, die wir damals am Jazzfest ebendort live gesehen haben. Dazu haben wir getanzt, gekifft, gesoffen. Glücklich. Verliebt in das Leben.

Es war eine andere Zeit.

Nun hast Du fast keine Haut mehr am Oberkörper. Ich frage Dich, ob Du frisches Wasser benötigst. Du verneinst, versuchst den Blutströmen mit immer neuen sauberen Lappen beizukommen. Die unaufhörliche Bluterei macht Dein Werk keineswegs leichter. Doch Deine Konzentration bleibt eisern.  „Jetzt kümmere ich mich mal um meine Finger- und Zehennägel“, sagst Du, „bevor ich mit meiner Häutung weiterfahre.“

Du nimmst also den Sardinenbüchsenöffner zur Hand. Dieses unverwechselbare Objekt, mit dem man den Dosendeckel buchstäblich aufdreht. Dabei windet sich das recht weiche Deckelblech bekanntlich elegant um den Öffner. Du setzt das Ding also am Nagel deines grossen rechten Zehs an.

Zuerst musst Du den Zehennagel in den Schlitz des Öffners einfädeln – mir fällt dafür kein anderes Wort ein. Dann beginnst Du den Nagel um den Öffner zu winden. Du schälst ihn aus seinem weichen Bett heraus. Vorsichtig. Langsam. Denn so ein Zehennagel ist recht brüchig. Diesem Umstand hast Du im Rahmen Deiner umsichtigen Vorbereitungen Rechnung getragen, hast Dir Finger- und Zehennägel wochenlang mit Melchfett eingeschmiert. Auf das sie schön weich werden. Deine Rechnung geht auf. Sauber wickelt sich der Nagel um den Sardinenbüchsenöffner.

Darunter blitzt es rot. Feuchte Rubine erscheinen. Körperlava. Die ganze Prozedur wiederholst Du zwanzigmal. Zwei Hände, zwei Füsse werden von ihren Nägeln befreit.

Inzwischen habe ich die Musik gewechselt. „Hurry Tomorrow“ von Los Lobos dröhnt in den Raum. Die Musik kann keinen stören. Denn Du hast schon lange keine Nachbarn mehr. Als Du damit begonnen hast, alles abzulegen, wie Du es nennst, wurden Deine Nachbarn als erste abgelegt.

Ich drehe einen Joint. Zünde ihn an, nehme einige Züge – und reiche ihn Dir rüber. Du ziehst, gibst ihn mir zurück. Blutverschmiert. Stört mich nicht. Ich habe schon viel Blut gesehen. Und geschmeckt.

Langsam wird es draussen dunkel. Du arbeitest nun bei künstlichem Licht. Dein Körper erstrahlt jetzt in hautlosem Glanz. Pracht in rot. Du lachst. Deine Zähne glänzen. Weiss wie Schnee. Nun greifst Du zum Skalpell. Du beginnst damit, Dich selbst auszuweiden. Darm, Gebärmutter, Leber, Nieren, Magen. Herz. Mit präzisen Schnitten leistest Du Vorarbeit. Sodann ziehst Du das Organzeug einfach mit beiden Händen aus seinem Nest: Deiner weit geöffnetem Bauchhöhle. Und wirfst es in den grünen Putzeimer – wie gebrauchte Schnupftücher aus Gaze, wie Schokoladenverpackungen aus Zellophan.

Versonnen schaue ich Dir zu, gebe hin und wieder eine ermutigende Bemerkung zum Besten oder einen lobenden Kommentar.

Ich muss plötzlich an jenen Tessiner Sommer im Jahr 1979 denken. Als die kastanienbraun gelockte Rosanna sich eines Nachts plötzlich und gänzlich unerwartet nackt zu mir gelegt hatte, mit ihrer weichen sonnengebräunten Haut. Sie war nächtens in mein Zimmer geschlichen. Sie war zwei Jahre älter als ich. Ich bin ihr heute noch dankbar. Danach hatten fast alle meine Herzdamen kastanienbraune Haare. Auch Du.

Bis vor wenigen Minuten.

Denn Du hast Dich soeben mit jener Geflügelschere skalpiert, die wir gestern noch gemeinsam und sorgsam geschliffen haben.

Deine Arbeit geht dem Ende zu. Heute Morgen hast Du noch gesagt: „Die Augen kommen als letztes raus. Denn blind kann ich nicht sauber und präzise genug werken.“ Genauso läuft es ab. Nun fliesst kein Blut mehr. Mit einem Lappen polierst Du jetzt Dein blankes Skelett. Aus Deinem Totenkopf schauen mir Deine braunen Augen entgegen. Triumphierend.

Dazu drängt die „Royal Southern Brotherhood“ aus den Lautsprechern: „Gotta Keep Rockin’“.

Ich bin schon vor einiger Zeit zum Whisky übergegangen. Glenfarclas 105. Du kannst halt nicht mehr trinken. Denn Deine Speiseröhre und Dein Magen liegen genauso im Putzeimer aus Plastik – wie Deine Lippen und Deine Zunge.

Langsam werde ich schläfrig, während Du Dein Werk abschliesst. Du brichst Dir als nächstes selbst alle Knochen in handliche Stücke, teilweise mittels einer Brechstange, einer Beisszange, einem Nussknacker sogar. Dann drehst Du Deine Knochenfragmente aus eigener Kraft durch jene grosse Knochenmühle, Marke Eigenbau, die Du schon vor fünfeinhalb Tagen im Zimmer aufgestellt hast. Vor dem Mahlvorgang entfernst Du Dir dann endlich noch Deine lästigen Augen. Mittels einem praktischen kleinen Haken.

Und gibst sie dem Eimer anheim.

Es bleiben mir: Ein Haufen Knochenmehl und ein grüner Putzeimer, randvoll mit blutigen Organen.

Wie abgemacht, verbrenne ich Deine Weichteile im Garten. Mische die Asche sodann mit dem Knochenmehl. Nun packe ich alles in einen Sack. Trage diesen durch leere Nachtstrassen zum Fluss hinunter. Von der alten Holzbrücke aus streue ich die Mischung ins Wasser, das um diese Zeit nichts ist als schwarz. Wie der sternenlose Himmel. „Ich habe sie gekannt, geliebt“, denke ich, während das Pulver in die Fluten rieselt. „Sie war gut.“ Der Sack ist leer. Deine Überreste fliessen also mit dem Gewässer.

Dem endlosen Ozean entgegen.

Ich starre in die Fluten. Summe vor mich hin. Eine alte Melodie aus Vrndavana, die damals eigentlich für eine Flöte komponiert worden war. Und plötzlich bin ich mir nicht mehr sicher. „Habe ich sie…wirklich…gekannt, geliebt? War sie…wirklich…gut?“

Diese Fragen begleiten mich noch für einige Zeit. Während ich von dannen ziehe. Durch diese Nacht, die auch eine tiefe Nacht der Seele ist. Ohne Ziel. Vom Teufel geritten. Vom Teufel geritten.

 

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Autor: Christian Platz

Lebt in Basel. Arbeitet überall. Reist recht viel. Vor allem nach Asien. Und in den Deep South der USA. Verdient sein Geld seit über einem Vierteljahrhundert mit Schreibarbeiten. Vorher hat er als Pfleger in einer Irrenanstalt gewirkt. Hat mehrere Bücher veröffentlicht. Spielt seit 40 Jahren fanatisch Gitarre, zwischendurch singt er auch noch dazu. Schreibt unter anderem für Kult. Ist manchmal gut aufgelegt. Manchmal schlecht. Meistens so mittel. Sammelt Bücher, CDs, Filme, Artefakte. In einem psychisch leicht auffälligen Ausmass. Verfügt, bezüglich der Dinge, die er sammelt, über ein lexikalisches Wissen. Platz ist einerseits ein Wanderer auf dem Pfad zur linken Hand. Andererseits Neofreudianer mit Waffenschein. Liebt Blues und Voodoo, Rock'n'Roll und die schwarze Göttin Kali. Trinkt gerne Single Malt Whisky aus Schottland. Raucht Kette. Ist bereits über 50 Jahre alt. Macht einstweilen weiter. Trotzdem wünscht er nichts sehnlicher herbei als die Apokalypse.

WARNHINWEIS:
Dieser Mann tritt manchmal als katholischer Geistlicher auf, stilecht, mit einem besonders steifen weissen Kragen am Collarhemd. Dies tut er in gänzlich irreführender Art und Weise und ohne jegliche kirchliche Legitimation. Schenken Sie ihm - um Gottes Willen - keinen Glauben. Lassen Sie sich nicht von ihm trauen, ölen oder beerdigen. Lassen Sie sich von ihm keinesfalls Ihre Beichte abnehmen. Geben Sie ihm lieber Ihr Geld.

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