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Als ich an der Buchenegg Ostwand zerschellte

Sie kennen das. Irgend jemand kennt jemanden, der jemanden kennt, der beim alljährlichen Rennen an der Buchenegg Ostwand im Team „Rostfrei“ mitfährt und Franziska heisst. Und diese Franziska hat in ihren Velo-Ferien mal einen entfernten Stiefcousin eines alten Schulfreundes vom Oliver kennengelernt und der Oliver hat es ja noch gut mit dem Moritz und darum hat der Phillipe dann dem Niklaus gesagt, dass es für den Wolfgang völlig okay sei, wenn dieser Midi vom KULT ausnahmsweise mal einen Startplatz fürs Bergzeitfahren bekäme. Und darum händigte mir dann auch Mark, ein alter „Chettehünd Zurigo“-Teamkamerad von Adrian, in Langnau am Albis ganz feierlich die Startnummer 137 aus.

Und da stand ich nun, mit meiner Vitamin-B-meets-Zufall-meets-Vetterliwirtschaft-Startnummer in der Hand und konnte mein Glück kaum fassen. Gut – der Moment wäre noch schöner gewesen, wenn ich die letzten 15 Jahre auch nur ansatzweise für diesen Event trainiert hätte. Aber hey, ich musste stattdessen zwei Kinder grossziehen, eine Scheidung mit ganz viel Alkohol wegtrinken und die Gangschaltung meines alten Serottas ist auch schon lange kaputt. Aber hey, ich schweife ab.

Ist das hier wirklich ein Velorennen? Als ich mich so umsah, hatte ich eher das Gefühl an einer Woodstock-Gedächtnis-Veranstaltung zu sein. Die Teilnehmer tranken Bier, rauchten selbstgebastelte Zigaretten und klopften ihre Crack-Pfeifen an retrogestylten Velorahmen aus. Okay, letzteres war nicht der Fall. Ich wollte nur testen, ob sie noch da sind. Wie auch immer, alle 45 Sekunden machte sich einer der 150 Bergflöhe auf den Weg. Bei der Stoppuhr am Start hatte jemand „Quäl dich.“ auf die Strasse gesprayt, als Reminder, falls man die Qual unterwegs vergessen sollte. Jeder Fahrer wurde kräftig angefeuert. Für Fahrerinnen gabs noch zusätzliche Respekt-Dezibel dazu. Doch mit jeder „Abreise“ wurde die Traube kleiner und die Anfeuerungsrufe zurückhaltender. Mit der Startnummer 137 gabs für mich zwar nur noch dreizehn Verbleibende, die mich hochjubeln, aber auch nur noch dreizehn, die mich überholen konnten.

Ich startete, wie von der Tarantel geritten und vom Teufel gestochen. Weit über meinen Verhältnissen. Aber das tat jeder, denn die ersten hundert Meter der Strecke war man für die anderen noch sichtbar. Erst dann kam die erste Kurve. Das war der Moment, als ich panikartig vom grossen ins mittlere Ritzel schaltete. Und ja, ich fuhr auf meinem alten Ibis mit Mountain-Bike-Übersetzung hoch. Lieber so, als unterwegs fluchend absteigen zu müssen.

Schneller, als man „Holy Shit, das ist ja steiler als mein Langzeitgedächtnis „Holy Shit“ denken kann“ sagen konnte, rauschte die 138 an mir vorbei. Verdammt. Ich stand förmlich in der Wand und schaltete die Gänge runter. Als meine Beine förmlich in Flammen aufgingen und mich gleichzeitig die 139 wie ein Dyson Handtrockner nass machte, trug ich mein letztes Quentchen Stolz zu Grabe und schaltete ins kleine Ritzel.

Wie eine Bergschnecke im Sekundenleim-Schleim-Elend kroch ich die Ostwand hoch. Unterwegs standen ein paar Zuschauer, die mich aus Mitleid etwas zu lautstark anfeuerten. Als wäre ich ein angeschossenes Reh, schaute mir ein Streckenposten stumm und entgeistert hinterher. Gerne hätte ich ihm erklärt, dass jemand, der jemanden kennt, mich hier angemeldet hat, liess es aber dann sein.

Wo blieb bloss Adi mit der Startnummer 140? Vor dem Rennen haben wir noch darüber gescherzt, dass er mich bald wiedersehen werde, doch jetzt liess er auf sich warten. Oder war ich etwa plötzlich schneller geworden? Nix da, Adi tauchte wie aus dem Nichts auf. Mit unseren gehäckelten Retro-Handschuhen machten wir den im Voraus vereinbarten Fist-Bump. Gerade als bei mir ob dieser bruderschaftlichen Geste ein Gefühl der Zugehörigkeit aufkeimen wollte, wurde Adi von der 141 und diese von der 142 überholt. Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Innert fünf Sekunden wurde ich von drei Fahrern gleichzeitig durchgereicht. Da willst du nur noch Bäume umarmen und ihnen die Hucke vollheulen.

Nach langen 19:37 Minuten kam ich oben an und brauchte somit doppelt so lang, wie die Spitze. Im Zielraum herrschte eine Stimmung mit Klassenzusammenkunfts-Romantik. Alle 150 Finisher redeten wild durcheinander, tranken Bier und Pepita und erfanden, wie ich, tausend Gründe, weshalb sie nicht mehr so schnell den Berg hochkommen, wie früher. Und das Schönste war, alle kannten sich über sieben Ecken, denn sonst hätten sie ja gar keine Starterlaubnis gekriegt. Genau deshalb muss das Bergzeitfahren Buchenegg Ostwand so handlich bleiben, damit sich die Oldschool-Garde einmal im Jahr ehrlich am Berg die Ehre geben kann. Oder, wie Martin Sturzenegger, Zürichs Tourismusdirektor und Captain des Siegerteams „Traktor Ostwand“ mit einem Hauch von Ironie zu sagen pflegt: „Neben dem CSI, der Weltklasse Zürich und dem Zürcher Marathon ist dieses Bergzeitfahren einer der vier wichtigsten jährlichen Sportanlässe in Zürich.“

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Autor: Midi Gottet

Midi Gottet ist 47 und war in diesem Leben schon Vegetarier, Alkoholiker, ein militanter Nichtraucher, Zauberkünstler in Vegas, Handmodel in Paris, Velokurier in Manhatten, Vater, Sohn und Heiliger Geist, vor Gericht wegen Verletzung religiöser Gefühle, im Knast, Sozialfall, die linke Hand von Rainer Kuhn, Stand-up Comedian, Präzisions-Schauspieler, Eden-TV-Moderator, Kolumnist, Autor, Poet, ein Singing Pinguin, ein schwules Murmeltier, Dr. Fleischmann, der DRS3-Rajiv, die Thomy-Senftube, der Schöpfer von "Handirr im Poulet speutzt", Ehemann, glücklich geschieden, eine Sportskanone, ein wenig impotent, ein Electric-Boogie-Tänzer, labil, ein Triebtäter, ein Erdengel, ein Schutzengel, ein Fussfetischist, ein Muttersöhnchen, ein Coop-Supercard-dabei-Haber, Götti, Onkel, Tante, das "Ich bin das ich bin", ein Orgasmusvortäuscher, betrieben, hoch verschuldet, tief verletzt, stinkreich, ein bornierter Snob, abgefuckt, demütig, reumütig, übermütig, übermüdet, klinisch tot, wieder wie neu, ein Drittel des Trio Eden, die Hälfte von Gottet & Landolt und ein Ganzes von Midi Gottet und somit die Summe seiner Höheren Selbste.

Danke für ihre Aufmerksamkeit.
(Wenn sie sich die Zeit genommen haben, diese Bio bis hierher zu lesen, haben sie kein Leben)

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