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I got lost yesterday (5): Sweet days of youth – ein weiteres Bier mit Otto junior

Otto junior sitzt in der letzten vergessen Beiz. Am Ende der letzten vergessenen Strasse. Betrieben vom allerletzten vergessenen Wirt. Als Bürger einer grauen Stadt, in einer vergilbten Welt, gleichsam wie Altpapier, das – dem baldigen Verbrennen anheim gegeben – noch ein wenig vor sich hin raschelt. Er zieht die linke Augenbraue hoch. Wie ein gewiefter Jasser (oder ein Bühnenzauberer, der gerade das Säbelzahn-Sägeblatt ansetzt, um eine hübsche Dame sauber in zwei Segmente zu zerteilen – unten und oben eben). Er erzählt von den glorreichen Tagen seiner Jugend.

Als sein Zuhörer, darf ich sagen, dass Old Otti in meinem stets blutenden Hirn ein genauso veritables, wie desinfizierendes Schwarz-Weiss-Film-Feuerchen entfacht. Mit Musikbegleitung sogar. Let’s listen to the man!

„Meine Mutter und mein Vater mochten Charlie Chaplin, den sie – wie auch meine Onkels und Tanten – immerzu „dr Zappeli“ nannten, wahrscheinlich, weil er auf der Leinwand immer so gezappelt hat. Auch Dick und Doof fanden sie lustig. Und selten gingen wir uns am Sonntagmorgen Dokumentarfilme über exotische Kulturen, Menschen und Tiere anschauen, in Matinee-Vorstellungen, im Odeon oder im Oasis, das übrigens teilweise einem Onkel von mir gehörte, der Toni hiess und jung an Magenkrebs verstorben war. Ich glaube, dass ich in so einem Dokumentarfilm, wie viele Buben aus meiner Generation, zum ersten Mal in meinem Leben eine völlig nackte Frau gesehen habe, nebst Flamingos und Nilpferden, mit zwölf oder so – in einem der so genannten Mondo-Dokumentarfilm über Afrika wahrscheinlich. Das waren natürlich immer schwarze Frauen, daher unsere lüsternen Buben-Fantasien über dicke Negerfudi und grosse Negerbrüste. Aus irgendeinem seltsamen Grund war es damals, trotz der allgemeinen Prüderie, erlaubt, schwarze und asiatische Frauen in Dokumentarfilmen nackt zu zeigen. Das lief irgendwie unter Bildung. Meine eigene Mutter habe ich hingegen nie unbekleidet gesehen.“

Grünes Pfyffli

“Die meisten von uns, auch die Arbeiterkinder, wurden in ein Welschlandjahr geschickt, die besseren Kreise in Institute, wir Arbeiterkinder in Bauern-Betriebe, wir konnten also französisch parlieren – Français fédéral. Doch englisch hat damals keiner im Griff gehabt. Ausser Worte wie hello oder love, weil das bei den Mädchen gut angekommen ist, verstanden wir kaum etwas. Ich weiss noch, wie ich eine Freundin, in die ich ein bisschen verliebt war, mit “Hello Dolly” begrüsst – und damit bei ihr ganz schön gepunktet – habe. Überhaupt war das mit der Liebe und dem sogenannten Sexuellen damals speziell. Wir haben zwar nicht viel darüber geredet. Aber vielleicht ist in Waschküchen, auf stillgelegten Bahngleisen und im Wald mehr passiert, mehr als heute jedenfalls, wo an allen Plakatwänden blutti Fraue und Fudi prangen. Nur zu einer Schwangerschaft durfte es keinesfalls kommen. Das wäre der Weg ins Verderben gewesen. Vor allem für das Mädchen. Und vor Geschlechtskrankheiten hatten wir auch grosse Angst. In der Schule – und später auch noch im Militär – hat man uns damit immer gedroht: Ein Lehrer hat uns oft gesagt, dass sich unser Pfyffli zuerst grün färbe und dann mit der Zeit abfaule, wenn wir uns eine Geschlechtskrankheit einhandeln würden. Deshalb haben wir für ihn den Übernamen griene Zipfel erfunden. Aber – ausser Geschlechtsverkehr im engeren Sinne können Männlein und Weiblein ja auch viele andere Sachen miteinander machen, wenn Du verstehst, was ich meine. Und glaube nur nicht, dass wir früher nicht gewusst hätten, wie das geht…“

Revolverkuchi

„Natürlich hatten auch wir Buben Chaplin gern. Aber am meisten schätzten wir Wildwestfilme. Die verpönten Kinos nannte man früher ja Revolverkuchi, das Forum, das Union, das Mascotte am Bahnhof. Dort fühlten wir uns wohl. Henry Fonda, Gary Cooper, Charlton Heston; die haben wir bewundert. Auch die Gangsterfilme und Frankensteinfilme hatten es uns angetan, sie waren bei den Autoritätspersonen besonders verhasst, Humphrey Bogart, James Cagney, Paul Muni, Boris Karloff und wie sie alle geheissen haben. Und die schönen blonden Frauen, in die sich die Helden verliebten, natürlich, Frauen wie Greta Garbo oder Ingrid Bergmann. Vor den Filmen lief damals immer die so genannte Wochenschau: Da gab es Bilder aus aller Welt zu sehen. Das hat mich unendlich fasziniert. Ich habe später ja viele Länder bereist. Ich war auf vier Kontinenten. Doch alle fremden Länder waren in Wirklichkeit nie so schön, wie ich sie mir, aufgrund der Wochenschauen der späten 1940er, frühen 1950er Jahren, in meiner Fantasie vorgestellt hatte.“

Nur wenn es einen Toten gab

„Breitbeinig wie echte Cowboys kamen wir aus dem Kino marschiert. Mit dem richtigen Revolverduell-Gang. Manchmal hatten wir dann auch Schlägereien. Mit anderen Gruppen junger Männer. Aus anderen Quartieren. Das ist keine neue Erfindung, das gab es schon immer. Ich glaube, dass solche Schlägereien unter jungen Männern der Arbeiterklasse, auch wenn einiges an Blut floss, die Polizei damals nur wenig interessiert haben, jedenfalls weniger als heute. Nur wenn es einen Toten gab, redete die ganze Stadt darüber. Aber das passierte eher in den verruchten Lokalen der Rheingasse, in die wir uns erst viel später getraut haben – wir spekulierten und fantasierten allerdings gerne darüber, was dort alles so vor sich gehe.“

Affige Zigarettenspitze

„Wir zündeten uns ohne Filter Zigaretten an und klemmten sie uns in die Mundwinkel. Ich kann mich erinnern, dass ich mir mit 18 oder 19 im Tabakladen eine affige Zigarettenspitze gekauft habe – um wie ein Mann von Welt zu wirken. Männer von Welt, das wollten wir als Erwachsene nämlich alle einmal werden! Für unsere Eltern, vor denen wir vieles verbergen mussten, war das alles nur schäbig, war eine Schande und Schund. Meine Mutter, Jahrgang 1901, hat immer gepredigt: „Rechte Leute interessieren sich nicht für Dschungellärm und Cowboyfilme aus Amerika. Rechte Leute interessieren sich für die Arbeit! Man muss hart arbeiten, sonst bekommt man kein Brot!“ Rechte Leute machen dies, rechte Leute machen das, rechte Leute kaufen im ACV ein und nicht bei der Migros, solche Dinge haben unsere Mütter immer gerne gesagt.“

Elvis Prässluft

„Vielen meiner gleichaltrigen Freunde haben Elvis und den Rock’n’Roll verachtet, als die neue Musik aufgekommen ist. Damals waren wir ja schon über zwanzig und Rock’n’Roll war etwas für die Jüngeren. Meine Altersgenossen haben gesagt „jo dä gschniegleti Elvis Prässluft, dä schmust mit syneren alte Dampfloki – love me tender…“. Oder sie sagten: „Dr Louis Armstrong het no kei Mikrophon brucht!“ Was ja gar nicht stimmte, natürlich hatte der alte Satchmo ein Mikrophon. Mir persönlich hat Elvis immer gefallen, später mochte ich auch die Beatles und die ganze Rockmusik, im Auto höre ich sogar manchmal den so genannten Hard Rock, mein Neffe hat mir vor Jahren schon einige CDs gebrannt. Das gefällt mir ganz gut. Nur nicht zuviel davon.“

Das Varieté und der TOD

„Als wir etwas älter wurden und ein bisschen Geld verdienten, gingen wir dann leidenschaftlich gerne ins Varieté, ins Küchlin oder ins Clara. Dort spielten gute Kapellen, es gab Komiker, berühmte Clowns, Zauberer, Entfesslungskünstler à la Houdini, Jongleure und zwischendurch einen sogenannten Striptease. Aber keineswegs so ordinär und offenherzig wie heute. Die Damen haben sich damals künstlerisch ausgezogen – verstehst Du ? -, sie konnten wirklich tanzen – und nicht einfach nur mit allem wackeln und alles so weit wie nur möglich spreizen, wie sie es heute tun. Eine Sache bedauere ich wirklich: Den Tod des Varieté. Mit dem Varieté ist nämlich ein Gefühl gestorben, das nie mehr zurückkommen wird. Ein schönes Gefühl…“

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Autor: Christian Platz

Lebt in Basel. Arbeitet überall. Reist recht viel. Vor allem nach Asien. Und in den Deep South der USA. Verdient sein Geld seit über einem Vierteljahrhundert mit Schreibarbeiten. Vorher hat er als Pfleger in einer Irrenanstalt gewirkt. Hat mehrere Bücher veröffentlicht. Spielt seit 40 Jahren fanatisch Gitarre, zwischendurch singt er auch noch dazu. Schreibt unter anderem für Kult. Ist manchmal gut aufgelegt. Manchmal schlecht. Meistens so mittel. Sammelt Bücher, CDs, Filme, Artefakte. In einem psychisch leicht auffälligen Ausmass. Verfügt, bezüglich der Dinge, die er sammelt, über ein lexikalisches Wissen. Platz ist einerseits ein Wanderer auf dem Pfad zur linken Hand. Andererseits Neofreudianer mit Waffenschein. Liebt Blues und Voodoo, Rock'n'Roll und die schwarze Göttin Kali. Trinkt gerne Single Malt Whisky aus Schottland. Raucht Kette. Ist bereits über 50 Jahre alt. Macht einstweilen weiter. Trotzdem wünscht er nichts sehnlicher herbei als die Apokalypse.

WARNHINWEIS:
Dieser Mann tritt manchmal als katholischer Geistlicher auf, stilecht, mit einem besonders steifen weissen Kragen am Collarhemd. Dies tut er in gänzlich irreführender Art und Weise und ohne jegliche kirchliche Legitimation. Schenken Sie ihm - um Gottes Willen - keinen Glauben. Lassen Sie sich nicht von ihm trauen, ölen oder beerdigen. Lassen Sie sich von ihm keinesfalls Ihre Beichte abnehmen. Geben Sie ihm lieber Ihr Geld.

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