Vor einigen Jahren beschlossen meine Freundin und ich, auf unserer Reise durch amerikanische Städte, Nachtclubs und Steppen, das Museum of Holocaust in Los Angeles zu besuchen. Neben all dem Party-Exzess, wollten wir noch etwas Sinnvolles für unser Allgemeinwissen tun. So hätten wir daheim auch Kultiviertes zu erzählen. Dass dies ein mit Klischees behafteter Rundgang durch, entsetzliche, schon oft gesehene Fotografien sein würde, war uns bewusst. Bloss gehörten wir zu denen, die sich das Schicksal anderer immer wieder gerne antun, nur um Gewissheit zu haben, dass es weitaus Schlimmeres gibt als unsere kleine, mit Erstweltproblemen behaftete Wahrheit. Was so weit weg von einem entfernt ist, schafft es zwar immer wieder zutiefst ins Herz zu treffen, einen vor Schock und Elend erschaudern zu lassen, doch genau weil die persönliche Kongruenz fast unmöglich ist, rücken Traurigkeit und Betroffenheit, so schnell sie gekommen sind, auch wieder in die Ferne.
Das Holocaust Zentrum bot, wohl um die Sensationsgeilheit vieler Besucher anzuregen, Vorträge von Überlebenden der Konzentrationslager. So sassen wir im Publikum vor einem Podest mit Stehpult, hinter uns ein riesiges Fenster durch das die abendliche, kalifornische Sonne in ihren zartesten Orangetönen schien und unseren Rücken wärmte. Der Moment sowie die Kulisse des modernen Gebäudes im Sonnenschein vermochten so viel Leid in sich nicht aufzunehmen und verbreiteten ein Gefühl von Irrealität.
Die Tür ging auf, ein älterer, nicht grösser als 1,65 kleiner Herr, stieg krackselig die Stufe zu seinem Vortragstisch hoch. Er lächelte in die Menge. Mit uns sassen noch etwa zwölf Leute im Raum. Er erzählte ernst und bestimmt doch sehr ruhig. Zuerst von den Eckdaten, den groben Geschehnissen und dann von der Festnahme seiner Familie im Ghetto. Darüber wie er als 12-Jähriger nach Dachau verschleppt wurde. Wie seine ganze Familie vor seinen Augen auseinandergerissen wurde. Ausser ihm überlebte niemand, man hat sie wohl in den Vernichtungslagern ermordet. Er sprach darüber, wie er im Arbeitslager schuften musste bis sein Körper aufgab. Wie er seine morgendliche Brotscheibe versteckte, um irgendwann noch ein bisschen zu sich nehmen zu können, wenn es tagelang wieder einmal kein Essen gegeben hatte. Manchmal gab es am Mittag eine klare Suppe, doch irgendwann waren es zu viele Häftlinge, da gab es auch keine Suppe mehr. Unterhosen gab es auch seit Monaten keine neuen mehr. Er erzählte von den abgemagerten Menschen, den engen Schlafräumen und den Seuchen, die wegen der unhygienischen Zustände ausgebrochen waren. Täglich starben 150 Menschen an Typhus. Zwar hatte man die Kranken in separate Häuser gesteckt doch irgendwann waren sie doch alle durchmischt, weil es zu überfüllt wurde. Zusammengebrochene, Leichen, die ihm im Weg standen, wenn er seine Schubkarre vorbeischieben musste. Schikanen, Auspeitschungen bis kurz vor den Tod. Experimente an Häftlingen, Versuchsoperationen. Wie er sich davon überzeugte, man müsste nur richtig arbeiten, dann werde man nicht umgebracht, weil sie einen brauchen.Man dürfe nur nicht aufgeben. Jeden Tag wurde man gezählt und gemustert, jeden Tag wurde darüber entschieden ob man arbeitsfähig war und weiterleben durfte oder sterben musste. Jahrelanger Hunger, jahrelange Überarbeitung, jahrelanges innerliches Absterben.
Er erzählte sachlich und ruhig. Ich war froh, dass er keine bildliche Sprache benutzte und uns vor Details verschonte, denn weinen mussten wir auch so.
Als die Befreier kamen war er 16. Er fuhr mit dem Schiff nach Amerika und schlug sich als Hilfsarbeiter durch. Dann erschuf er sich in Los Angeles ein neues Leben. Mittellos hatte er es geschafft ein erfolgreiches Juweliergeschäft aufzubauen, das nun sein Sohn weiterführt.
Inspiriert von seiner Zielstrebigkeit, Milde und Stärke, gingen wir nach der Rede zu ihm, ganz wie dumme Groupies, die zu jemandem hinaufsehen.
Er war gewitzt und genoss die Aufmerksamkeit uns zweier jungen Damen offensichtlich. Nun merkte ihm seine Vergangenheit nicht mehr an. Dann zeigte er uns sein Nummern-Tattoo auf dem Unterarm. Es diente in den Lagern zu Identifikationszwecken. Er war kein Opfer mehr, er war ein Überlebender, der das Leben sobald er konnte, wieder in die eigenen Hände genommen hatte. Er sagte: „Wenn du einmal so weit unten bist, kann es nur noch rauf gehen. Man muss die Frage nach dem “Warum” bloss vergessen und neuen Lebensmut finden.“ Was so einfach tönte, hatten wir selbst nicht genug oft umzusetzen geschafft.
Wir wissen nicht, ob er nachts zu Hause aufschreit wenn er träumt, noch wissen wir, ob er durch die Überforderungen aus seiner Vergangenheit schnell gereizt war, dies sogar auf seine Kinder übertrug. Vieles können wir nicht beurteilen, doch das müssen wir auch nicht. Denn zu diesem Zeitpunkt, als er erzählte, von seinem Sein und der Fröhlichkeit darin, da wussten wir, dass sein Leben auch das Unsere verändert hatte.
Wenn diese widerliche, abartige Schicksal irgendwie verkraftbar sein konnte – So konnte es alles andere auch.