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Ruf der Freiheit

Nichts anderes machen, als Töff testen – schön wärs! Da hat Rainer ein etwas falsches Bild von einem Motorradjournalisten. Ein Pornodarsteller ist ja auch nicht nur am Vögeln. Er schwitzt stundenlang im Fitness-Studio, leidet bei der Kosmetikerin bei den Ganzkörper-Waxing-Sessions und macht sich Sorgen über die wechselnde Gesichtsfarbe seines Urologen des Vertrauens, wenn er ihm erzählt, was er auf dem Filmset mit wem vor und hinter der Kamera gemacht hat. So beinhaltet auch die Tätigkeit als Töfftester mehr als nur auf geliehenen Maschinen und in gesponserten Klamotten in den Sonnenuntergang zu röhren.

Aber wenden wir uns mal der beiden Maschinen zu, die Harley Heaven in Dietikon Rainer und mir zur Verfügung stellte. Crossbones und Road King nennt Rainer sie, ich und der Rest der Welt nennen sie Road Glide Special und Softail Breakout. Aber ich lasse Nachsicht walten, denn ich selbst kann die Harleys auch kaum voneinander unterscheiden. Die Wiederauflage des Tourers Road Glide Special ist die augenfälligste Harley-Neuheit für 2015. Der eigenwillige, an eine Haifischschnauze erinnernde, am Rahmen feststehenden Vorbau mit den prägnanten Doppelscheinwerfern polarisiert die Geschmäcker. Im Prinzip handelt es sich um eine andere Variante der Street Glide, dem meistverkauften Harley-Töff weltweit, dessen Vorbau allerdings mit der Gabel verbunden ist und sich daher mit dem Lenker mitbewegt. Neu leuchtet ein LED-Doppelscheinwerfer die Strasse aus. Um die Scheinwerfer herum sind Lüftungsschlitze zu erkennen, die nach Bedarf zu öffnen sind und unerwünschte Verwirbelungen reduzieren. Dafür wurde die Verkleidung im Windkanal optimiert.

Weiter charakteristisch ist das nach hinten abfallende Heck. Üppiger Komfort, wie zum Beispiel das mittig in der Innenverkleidung untergebrachte Infotainmentsystem mit 6,5 Zoll Touchscreen, 2 x 25 Watt und Navigation, gehört zum Serienumfang. Der Lenker ist nach hinten gezogen, um eine fahraktive und doch komfortable Sitzposition zu ermöglichen. Die Road Glide Special ist also ein komfortabler Tourer mit typischen Harley-Tugenden für jene, die gerne etwas anderes fahren als die Masse.

Die Verzögerung der 385 kg Leergewicht verbessert ein neues Bremssystem mit elektronischer Bremskraftverteilung und ABS in Serie. Herzstück der Road Glide Special ist der luftgekühlte Twin Cam 103, der mit 1690 ccm 138 Nm (bei 3500/min) und 87 PS abdrückt. Die Road Glide Special ist ab 30‘000 Franken zu haben.

Der zweite Töff, den wir dabei hatten, war eine Softail Breakout in Radioactive Green, einer der neuen Farben für 2015. Mit 322 kg Leergewicht ist sie etwas leichter, ihr luftgekühlter V2 mit ebenfalls 1690 ccm bringt bereits bei 3000/min ein maximales Drehmoment von 130 Nm aufs Hinterrad. Dies – dank Ausgleichswelle – mit deutlich geringeren Vibrationen. Charakteristisch für die Breakout ist die Chopper-typische Sitzposition mit Füssen vorne und Oberkörper leicht nach vorne geneigt. Eine ziemlich coole Haltung, man ist schnell eins mit dem Töff, allerdings ist die Position nicht für elend lange Touren geeignet. Trotz mächtigem Drehmoment sind die beiden Maschinen dank gut spürbarem Kupplungsdruckpunkt und gutmütigem Ansprechverhalten sehr einfach zu handhaben. Das gilt übrigens für alle neuen Harleys. Nicht umsonst ist die Marke auch bei Frauen sehr beliebt – und bei jenen, die nur selten Zeit haben und darum auf einen Töff angewiesen sind, auf dem sie sich auch nach längerer Zeit sofort wieder wohl fühlen.

Es liegen mir zwar keine Zahlen vor, aber subjektiv glaube ich, dass Harleys dank ihrer Verkörperung von „Freiheit“ gerade bei jenen besonders beliebt sind, deren Alltag von Unfreiheit geprägt ist, also Banker, Manager und überhaupt Karrieristen aller Berufsgruppen, die uniformiert im Outfit und Auftreten und unter grossem Leistungs- und Erfolgsdruck im Hamsterrad der Weltwirtschaft drehen. Sie gieren zum Ausgleich nach Imperfektion, die Harley entgegen der Definition des Ausdrucks mit ihren rüttelnden und vibrierenden Motoren bewusst anbietet. Damit die Menschen, die sich selber gelegentlich nicht mehr spüren, wenigstens das Ding zwischen ihren Beinen spüren und so wieder geerdet werden.

Es gibt Motorräder. Und es gibt Harleys. Harley-Davidson ist ein Mythos und genau davon lebt die Marke. „Wir verkaufen einen Lebensstil – das Motorrad gibt es gratis dazu“, war erstmals in den 1980er-Jahren die Werbebotschaft von Harley-Davidson. Zugeschrieben wird das Zitat Willie G. Davidson, der die Marke erfolgreich ab Anfang der 1970er in die Neuzeit führte. So wie andere Marken Werte wie „Sportlichkeit“, „Power“ oder „technische Führerschaft“ repräsentieren, stehen Harleys für „Freiheit“ und „Individualität“ und seit einigen Jahren auch für „Gemeinschaft“. Facebook ist eigentlich nur ein Spin-off der Idee der Harley-Community für jene, die nicht Töfffahren können.

So cruisten Rainer und ich auf gut ausgebauten Nebenstrassen über den Mutschellen ins Freiamt und als ich langsam warm wurde, und noch bis ans Ende der Welt hätte böllern können (etwa nach Baar oder Sihlbrugg), meinte er: „Lass uns zurück fahren.“ Vielleicht hatte er Angst, dass hier in der Pampa ein Pick-up mit Aargauer Rednecks auftauchen und uns mit Schrotflinten vom Moped pusten würde, wie Dennis Hopper und Peter Fonda in „Easy Rider“, weil wir auf unseren Harleys einfach verboten sexy aussahen. Oder er war einfach nur viel rascher geerdet als ich. Ich werde mal darüber nachdenken, das nächste Mal im Hamsterrad…

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Autor: Henrik Petro

In den 90ern prägte Henrik als Moderator von Sputnik TV trotz seines Ostschweizer Dialektes die Erinnerungen der Partyjugend bis heute. Während mehrere Jahre war er Chefredaktor des gleichnamigen Magazins. Später schrieb er fürs Fernsehen (u.a. Chefautor von Dieter Moor und Rob Spence, eine Folge der SitCom "Fertig Luschtig") und produzierte auch (u.a. 150 Folgen von "Der Scharmör"). Er war die ersten Jahre von Radio Street Parade Musikchef und war dann später einige Jahre Autojournalist.

Arbeitet heute hauptberuflich als Frauenversteher, aber da er von seinen Freundinnen, BFFs, Kolleginnen und wem er sonst noch sein epiliertes Ohr leiht, kein Geld dafür verlangen kann, dass sie ihm ihre Männerprobleme in allen Details schildern, arbeitet er zusätzlich noch gegen Entgelt als Chefredaktor in einem Fachverlag. Damit sein Hirn unter dieser Belastung (und wegen Handy-Antennen) nicht explodiert oder eine Selbstlobotomie durchführt (was ihm zwar die Aufmerksamkeit von Gunter von Hagen garantieren und somit zur Unsterblichkeit verhelfen würde), schreibt er Kolumnen für kult. Am liebsten über menschliche Begegnungen. Oder überhaupt über Menschen. Oder darüber, was Menschen so tun. Oder getan haben. Oder tun könnten. Oder sagen. Oder gesagt haben. Oder sagen könnten.

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Töff testen mit einem, der nichts anders macht als Töff testen.

Wie das mit dem Poppen in Zug wirklich war. Die Kurzfassung.