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Maria und Josef

Sie kamen immer früh. Sehr früh. Der Himmel vor dem Fenster war noch kraftlos, das Licht, so schwach, dass der Lastwagen und das Polizeiauto nur schwache Silhouetten in der grauen Strasse waren. Er drückte seine Zigarette aus. Das Baby wimmerte, er berührte Maria an der Schulter, hob das Baby aus dem Kinderbettchen. Der Grosse nebenan schlief noch. Er hustete, fühlte sich zentnerschwer. Er hatte die ganze Nacht überlegt und es hatte nichts genutzt. Offenbar rauchten die Männer vor der Türe noch. Dennoch viel Zeit bliebe ihm nicht, das war klar.

Maria konnte nichts dafür, er wusste es und verwünschte sie trotzdem. Es klopfte an der Türe als ihm die Scheisse aus der Windel des Babys über die Finger lief. Er drehte um, brachte das Baby zurück. Maria sass noch auf dem Bett, versuchte sich die Jeans überzuziehen. Ihre Langsamkeit provozierte ihn, die Scheisse an seiner Hand half auch nicht weiter. Es klopfte intensiver und sie klingelten jetzt auch an der Türe. Gleich würde der Grosse aufwachen. Hin zur Türe und aufmachen, oder zuerst das Baby ablegen, beides ging nicht recht, weil seine Hände voller Babyscheisse waren.

Auf halbem Weg

«Polizei, machen Sie auf, bitte!» Das Klopfen war jetzt zu einem Bummern geworden. Auf halbem Wege ging er zu Maria ins Schlafzimmer zurück, die inzwischen ihren Hintern in die Jeans gezwängt hatte und ihn mit blauen, verschlafenen Augen ansah. Sie sah immer aus, als würde sie jede Morgendämmerung erstaunen, als sei es ein Wunder, dass die Sonne aufging. «Kannst Du aufmachen, Schatz, sie sind jetzt da, ich kann gerade nicht.» In ihrem Blick lagen Zweifel. Ohne zu sprechen, deutete sie auf die Zigarette im Aschenbecher auf dem Nachttisch.

«Hören Sie, machen Sie jetzt bitte auf!»

Immerhin war Maria jetzt aufgestanden, sie musterte das Baby, als sähe sie es zum ersten Mal und bewegte sich langsam und sorgfältig auf beide zu. Normalerweise hätte er diesen Moment genossen, dieses Wachwerden eines edlen Körpers, der dabei war die Welt von neuem zu entdecken. Normalerweise. Aber jetzt stand die Polizei vor der Türe, es war Weihnachten und sie wurden aus der Wohnung geworfen.

Ungeduld und Wut

«Wir müssen aufmachen, willst Du sie nehmen?» Maria blieb stehen. Ihre Augen funkelten blau, er spürte ihre Ungeduld und Wut. Er fühlte sich schuldig. Klar, er hatte sich noch schuldiger gefühlt, als er dem Grossen hatte erklären müssen, warum sie keinen Weihnachtsbaum hatten. Dass er vielleicht aber bei seinem Bruder … Aber die Kraft hatte ihn verlassen und die Enttäuschung des Grossen war einfach geblieben. Maria stand reglos vor ihm und dem Baby. Es fehlte nicht mehr viel und die Scheisse würde auf den Schlafzimmerboden tropfen. Er drehte sich um, hetzte ins Bad, riss ein Handtuch vom Haken, wickelte das Baby darin ein, während er auf die Wohnungstüre zu hetzte. Mein Gott, er brauchte eine Zigarette. Er öffnete die Türe, die mit dem Gepoltere zu vibrieren schien.

«Guten Morgen», sagte die Polizistin. Ihr Gesicht schien freundlich und offen. Ihre Haare waren nicht hellblond wie jene von Maria, sondern hatten den gelben Schimmer gut gelagerten Heus. Das alles war so verworren dachte er und hoffte, das Baby würde nicht anfangen zu heulen. Er schaute auf das Kind in seinen Armen. Florence schien den Betrieb zu mögen. Neugierig sah sie auf die Zügelleute, die die Kartons schon neben der Wohnungstüre aufgestapelt hatten. «Guten Morgen», sagte er und wusste nicht, ob er der Polizistin die Hand geben sollte. Er spürte, dass sich Maria hinter ihm in der Wohnung bewegte. «Wir haben hier einen Wegweisungsbefehl, wir müssen die Wohnung räumen. Ich kann ihnen gerne erklären, wie Sie ihren Besitz wieder zurückbekommen können und wo wir ihn einlagern werden, darf ich vielleicht reinkommen?» Er nickte und zögerte zu sagen, dass er einen Moment brauchen würde. Aber die Polizistin sagte schon: «Aber vielleicht nehmen Sie sich zuerst einen Moment, wir kommen halt immer sehr früh, weil wir sicher sein wollen, dass wir die Leute antreffen. Man kann sich nicht immer darauf verlassen, dass sie in einer solchen Situation auch da sind.»

Feuchttücher vom Regal

Er ging mit dem Baby ins Badezimmer, wahrscheinlich war Maria mit dem Grossen im Kinderzimmer. Die Polizistin war von sich aus ins Wohnzimmer gegangen, die Möbelleute hatten noch einen Moment lang Kartons gestapelt und rauchten nun draussen wohl die nächste Kippe. Obwohl er Flo schon unzählige Male gewickelt hatte, wusste er heute in der Frühe nicht, wo er anfangen sollte. Schliesslich kam Maria hinein, sah ihn an, küsste ihn auf die Wange, küsste Flo und nahm die Feuchttücher vom Regal. Ohne, dass er es richtig merkte, hatte sie ihn zur Seite geschoben und angefangen, das Kind zu wickeln. «Denis ist in Ordnung, er zieht sich jetzt an», sagte sie und schaffte es dem Baby den Hintern abzuwischen ohne überall Scheisse zu verschmieren. «Wir machen das, wir machen das irgendwie», sagte er zu ihr. Sie hatte die Salbe vom Regal genommen und verteilte die zähe Paste auf dem kleinen Hintern. «Es ist Weihnachten, Scheisse, warum müssen die uns ausgerechnet jetzt rausschmeissen. Das macht mich wütend.»

Er wollte sich an sie lehnen, er brauchte eine Stütze, aber sie begutachtete gerade ihr Werk und streichelte Flo zart über den Bauch. Er hatte keine Erklärung. Natürlich. Es war nicht immer so gewesen. Sie hatten zu viel zu schnell aufgegeben. Solange, bis es nichts mehr aufzugeben gegeben hatte. Maria flüsterte: «Wir sind eine Familie verdammt nochmal und an Weihnachten stellen sie uns auf die Strasse.» Er sah sich im Spiegel des Badezimmers und fand sich lächerlich. Noch lächerlicher, er fragte sich, ob sich das heublonde Haar der Polizistin mit dem hellblonden von Maria vergleichen liesse. «Sag’ doch was», forderte sie ihn auf. Ihm fiel nichts ein und er wollte nur eine Zigarette. Sie hatte schon das Baby im Arm und er konnte sich nicht anlehnen. Er seufzte und würde sich der Polizistin stellen. Sie sagte und ihre Stimme war kalt: «Du sagst nie etwas, du sagst einfach nie etwas.» Das Baby war ein Schild vor ihr und ihm fehlten die Worte, seine Gefühle zu erklären.

Auf der Sozialhilfe

Die Polizistin hatte die Aschenbecher auf die eine Seite des Couchtisches geschoben. Sie hatte Platz für die Papiere geschaffen. Ihr Blick war klar und direkt. Sie räusperte sich und begann damit, ihm geduldig die Bedeutung der verschiedenen Befehle auseinanderzusetzen. Er dachte: «Die Matratzen sind alt.» Er dachte: «Von uns bleibt so wenig.» Die Polizistin sagte: «Herr Nemeth, wenn Sie wollen, kann ich auch eine kleine Pause machen, aber es hilft vor allem Ihnen, wenn die Leute schon mit Packen anfangen können. Wir nehmen ja nicht an, dass sie schon gepackt haben.» Sie räusperte sich, sie schien zu zögern und sagte: «Hören Sie, es wird nicht besser, je länger es dauert und so können sie sich vielleicht noch auf der Sozialhilfe anmelden, sie können für die Nacht noch eine Notunterkunft finden, verstehen Sie. Wenn wir noch lange warten, dann wird das nicht mehr gehen.»

Er spürte Maria irgendwo hinter sich. Das machte ihn unruhig. Er zündete sich eine an. Er brauchte einen Moment. Die Heublonde sagte und für einen Moment schien sie alles zu sein, was er noch hatte: «Sehen Sie, wir wollen das auch nicht machen. Aber wir, wir …»

«Ihr Schweine macht es aber trotzdem, oder?» Maria stand im Türbogen und der Grosse stand verschlafen neben ihr, während Flo in ihren Armen frisch gewickelt schon wieder eingeschlafen zu sein schien.

Einfach nicht gereicht

«Frau Nemeth, das wollen wir doch nicht, verstehen Sie, wir wollen das nicht.» Ihm wurde schlecht. Es wurde immer schwieriger dabei zu bleiben. «Siehst Du, die wollen das nicht, wenn Du nur nicht soviel getrunken hättest.» Er konnte ihr nicht sagen, dass es nicht wahr war, konnte nicht sagen, dass er Tag für Tag im Schlachthof gekrüppelt hatte. Es reichte einfach nicht. Es hatte einfach nicht gereicht. «Schau Dir dein Kind an, es ist dein Kind, es ist ein tolles Kind, wenn Du nur …»

«Frau Nemeth, es ist in Ordnung, es ist wichtig, dass sie ruhig bleiben. Dann können wir schauen, was wir tun können.»

«Sie können etwas tun, Sie können uns nicht rauswerfen, Sie können uns in Ruhe lassen. Wir sind eine Familie, wir haben kleine Kinder, da wissen Sie überhaupt nichts davon.»

Die Polizistin flüsterte: «Doch, doch, ich hatte schon ein Kind. Ich hatte eins.» Ihm war die Zigarette ausgegangen. Es ging ihm wie dem Rind, das schon im Metallgestell eingepfercht war und dem der Geruch des Blutes in die Nase stieg. Selbst ein Rind in seiner grenzenlosen Dummheit spürte in diesem Moment was kam. Ein tödlicher Bolzen. Er war eingespannt, konnte sich nicht bewegen. Die Polizistin schaute ihn an: «Hören Sie, kennen Sie jemanden, können Sie irgendwo hin?»

Die Möbelleute hatten die Geduld unterdessen verloren. Drei, oder vier Männer gingen mit Kartons nach hinten durch. Ihre Gesichter waren verschlossen, sie sprachen nicht. Schwer zu sagen, ob es aus Respekt war, oder ob aus Gleichgültigkeit. Aber es war Weihnachten. Weihnachten! In diesem Moment setzte sich Maria neben die Heublonde. Sie sagte: «Es ist nicht immer so gewesen.» Sie hatte recht.

Noch eine Zigarette

Er hatte noch eine Zigarette. Er fummelte sie aus dem Päckchen und zündete sie an. Vielleicht hatte er nachher nichts mehr. Aber sie hatte recht, es war nicht immer so gewesen. Maria war nicht immer so gewesen. Sie war vielleicht schön, lebhaft und flüchtig gewesen. Sie war ein Traum gewesen, der zu schön für diese Welt war. Auch er, er war anders gewesen. Er war nicht schwer gewesen. Er hatte nicht vergessen wollen, hatte nicht vergessen müssen. Sie hatten gelebt, wie sie hatten leben wollen. Das Feuer wäre nicht nötig gewesen. Er hatte es verstanden. Er hatte aber auch verstanden, dass eine Klavierverkäuferin nicht Klaviere anzünden sollte.

Im Supermarkt war es dann schlimmer geworden. Er verstand zwar, dass es in Ordnung war, wenn manchen Kunden einmal eine Büchse Gulasch-Suppe um die Ohren flog. Aber sie verlor die Jobs immer wieder. Damals hatten sie nur Flo gehabt. Aber Flo war ein Wunder des Lebens gewesen und er hatte einen Job gebraucht, um sie zu schützen. Sie hatten den Garten verloren, den Maria so gemocht hatte. Eins war zum anderen gekommen. Schliesslich hatte er seinen Disponenten-Job verloren. Klar, er hatte immer getrunken. Aber dann trank er im falschen Moment heftiger. Nun trank er immer. Das half ihr nicht. Das half dem Grossen nicht, der inzwischen da war. Am Ende kiffte Maria immer mehr. Sie kamen durch. Aber es ging immer schlechter. Sie waren einfach verloren.

Eingelagert

Es war der 24. Dezember und sie sassen auf dem Gartenbord. Hinter ihnen war die Wohnung leer. Ordnungsgemäss war alles, was sie besessen hatten, eingelagert worden. Die Polizistin hatte ihnen Windeln und die wichtigen Dinge gelassen. Sie hatte ihnen sogar Geld für ein Taxi und ein Hotel gegeben, das sie reserviert hatte. Am Ende hatte sie ihnen Zigaretten geholt. Aber lange würde das nicht reichen. Es war der 24. Dezember. In den Wohnungen würde irgendwann das Licht angehen. Und irgendwie würde jeder irgendwie wissen, wohin er gehörte. Aber sie sassen auf diesem Gartenbord. Marias Haare brachte der Wind sanft durcheinander. Sie war schöner denn je. Der Grosse hielt tapfer die Hosenbeine von Mutter und Vater fest, um zu verhindern, dass sie auseinandergingen.

Es war der 24. Dezember. Weihnachten.

 

 

 

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Autor: Andy Strässle

Andy Strässle umarmt Bäume, mag Corinne Mauch und verleugnet seine Wurzeln: Kein Wunder, wenn man aus Blätzbums stammt. Würde gerne saufen können wie Hemingway, hat aber immerhin ein paar Essays über den Mann zu stande gebracht. Sein musikalischer Geschmack ist unaussprechlich, von Kunst versteht er auch nichts und letztlich gelingt es ihm immer seltener sich in die intellektuelle Pose zu werfen. Der innere Bankrott erscheint ihm als die feste Währung auf der das gegenwärtige Denken aufgebaut ist und darum erschreckt es ihn nicht als Journalist sein Geld zu verdienen.

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