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Die Verstossenen – Teil 2

Die Reisende

Sein Körper ruhte kalt und reglos auf dem Bett, welches das kleine Schlafzimmer fast vollständig ausfüllte. Die Bettdecke lag schwer auf seinem blassen Körper – unordentlich und wild formte sie Schlangen und andere Wesen, die ihn zu ersticken drohten. Aber er war schon tot. Taisha stand an der Tür und beobachtete das morgendliche Licht, wie es golden und sanft den nackten Körper ihres Vaters einhüllte und Schatten auf die Bettdecke warf. Die letzte Spritze steckte noch immer in seinem von Narben und Tattoos übersäten Arm. Sein Gesicht war friedlich der aufgehenden Sonne zugewandt, als würde er nur dösen, gleich seine grossen braunen Augen aufschlagen und sie anlächeln. Aber das tat er nicht. Taisha beobachtete, wie der aufgewirbelte Staub wie Goldfetzen durch die Luft tanzte. Er blieb am Fenster kleben. Was jetzt?

Sie wollte nicht die Polizei rufen, denn ihr Vertrauen in sie war zutiefst erschüttert. In ihrer Nachbarschaft waren nur korrupte Polizisten an der Macht, die am Drogenhandel beteiligt waren. Sie sah Menschen auf den Strassen sterben und hunderte Unschuldige landeten im Gefängnis. Wer weiss, was mit ihr geschehen würde, wenn sie die Polizei in ihr Haus liesse. Sie hatte Angst, dass auch sie hinter Gittern landen würde. Taisha musste selbst schon vor dem Richter antanzen – Einbruch, Diebstahl, Drogenbesitz, Körperverletzung. Die Liste war lang und sie hatte Glück, dass sie bisher nicht härter bestraft worden war. Diesen Frühling war sie 19 Jahre alt geworden. Sie war kein Kind mehr und musste Verantwortung übernehmen. Und in diesem Haus lagen eine Menge Päckchen Heroin herum. Die Polizei war also keine Option.

Taisha rannte in ihr Zimmer und fing an zu packen. Sie war schon einige Male von zu Hause abgehauen und wusste, was sie brauchte. Sie stopfte einige Kleider, ihren Ausweis, eine Zahnbürste, Zahnpasta und ein Sackmesser in ihren alten Rucksack. Nur nicht zu viel! Sie fischte ihr erspartes Geld aus einer Aluminiumdose und verstaute es zwischen den Unterhosen. Ihr Blick fiel auf die alten Fotos ihrer Mutter. Eine junge, blonde Frau mit tiefen blauen Augen lächelte ihr darauf entgegen. Ihr Blick war traurig und zugleich herausfordernd, wissbegierig. Ihre Mutter starb, als Taisha noch sehr klein war. Suizid. Sie streichelte das anmutige Gesicht auf dem Foto und steckte es ein, genauso wie ihr Tagebuch. Taisha war fest entschlossen, alles zurück zu lassen – das Elend, die Drogen, die Trauer und die Wut. Sie wollte nur noch weg. Wie gern wäre sie jetzt gerade jemand anderes. Sie hasste ihr Leben, die Ungerechtigkeit dieser Welt. Sie fragte sich, warum denn gerade sie zum Leiden verurteilt war.

«Bin ich wirklich so ein schlechter Mensch?», rief sie durch das einsame Haus.

Beim Verlassen des Hauses packte Taisha noch die alte Mundharmonika ihres Vaters ein. Vielleicht war diese ja etwas wert – sie brauchte mehr Geld, um zu überleben. Die Drogen zu verticken war für sie keine Option mehr, damit war Schluss.

Taisha hielt plötzlich inne. Sie wusste, wo sie hingehen könnte! Ihr Herz raste und pochte unendlich laut. Sie eilte zurück in die Küche und durchsuchte die Schubladen nach der Adresse ihrer Tante, der Schwester ihrer Mutter. Diese Tante… wie hiess sie noch gleich? Taisha hatte nur vage Erinnerungen an ihre Familie, wusste eigentlich nichts über sie. Sie leerte den Inhalt der Schubladen aus, doch die Adresse war nirgends zu finden. Verdammt! Da fiel ihr ein, dass ihr Vater mit den Sachen ihrer Mutter eine Art Altar aufgebaut hatte. Das Hochzeitsfoto ihrer Eltern stand in der Mitte, Schmuck und Blusen hingen darüber – ein wildes Durcheinander auf Kleiderbügeln. Irgendwo hier musste das alte Adressbuch ihrer Mutter doch sein! Taisha schossen die Tränen in die Augen, als sie die Tür zum Wandschrank öffnete, in dem der Altar aufgebaut war. Die dicke Staubschicht auf den Fotos, den Porzellanfigürchen und anderem Krimskrams berührte sie. Es war, als hätte sie soeben einen lang verschollenen Schatz entdeckt. Behutsam betrachtete sie das Hab und Gut ihrer toten Mutter und brach in sich zusammen. Sie wusste nicht, wie lange sie vor diesem Altar sass und all die Tränen weinte, die sie in den letzten Jahren unterdrückt hatte. Sie fühlte sich wieder wie ein kleines Mädchen, dass sich nach ihrer Mutter sehnte. Der Schmerz war unerträglich, ihr Herz wurde schwer. Sie atmete tief durch und durchforstete das Chaos weiter nach dem Adressbuch ihrer Mutter. Taisha fand die alten Tagebücher ihrer Mutter und verstaute diese ebenfalls in den Rucksack. Und da war es – ein kleines Buch mit braunem Lederumschlag, auf dem die Initialen ihrer Mutter eingeritzt waren:

S.H.

Taisha befreite das ledernde Buch von der Staubschicht und fing an, darin zu blättern. Ihre Mutter hatte viele Freunde – hunderte fremde Namen waren feinsäuberlich in das Buch eingetragen. Wenn sie sich doch nur an den Namen ihrer Tante erinnern könnte! Taisha glaubte sich zu erinnern, dass ihr Name mit «N» begann. Unter «N» standen folgende Frauennamen:

Nadeen; Naomi; Nalima; Natasha; Nina; Nini; Noelle.

Nadeen! Das war der Name ihrer Tante. Taisha seufzte tief durch und betrachtete die aufgeschriebene Adresse. Da war sogar eine Telefonnummer notiert. Aber sie traute sich nicht, ihre Tante anzurufen. Sie würde einfach zu dieser Adresse fahren und hoffen, dass ihre Tante sie nicht wieder wegschicken würde. Aber Moment: Die Adresse war in Piedras Negras in Mexiko, nahe an der Grenze zu den USA. Sie würde vielleicht Tage brauchen, um von dem kleinen Kaff in Oklahoma, in dem sie lebte, nach Mexiko zu kommen. Taisha packte das Adressbuch ein und verliess das Haus, in dem sie aufgewachsen war. Sie wusste, sie würde nie wieder hierher zurückkehren. Sie blickte nicht zurück. Nur die Stille blieb.

Die Sonne ging hinter den Weizenfeldern unter und tauchte die goldenen Weiten in ein knalliges Violett. Taisha sass in einem Lastwagen, der nach Süden fuhr. Der Fahrer, Jerry, sprach nicht viel, blickte konzentriert auf die Strasse. Am Spiegel hing eine grosse, weisse Feder, ein Wolfskopf aus Holz und etwa ein Dutzend Lederbänder mit farbigen Perlen daran. Die Perlen tanzten in den letzten grellen Sonnenstrahlen, die sich über dem Horizont aufbäumten und warfen ihr farbenfrohen Lichtspiel auf Taishas Beine. Es hatte sie grosse Überwindung gekostet, einen fremden Menschen anzusprechen, geschweige denn in ein fremdes Fahrzeug einzusteigen. Taisha mochte Menschen nicht besonders, war normalerweise nur nett zu ihnen, um sie zu bestehlen. Der Gedanke an ihre Vergangenheit beschämte sie in diesem Moment wie noch nie zuvor und diese Scham verursachte lähmende Bauchschmerzen. Wo kam dieses Gefühl nur her? Taisha fühlte sich schrecklich, versuchte es zu verdrängen. Für das Schweigen war sie gerade sehr dankbar. Er würde die ganze Nacht lang durchfahren, sagte Jerry. Nun sassen beide in der kleinen Fahrerkabine des Lastwagens und schwiegen sich an. Als sie dem glühenden Himmel entgegenfuhren, begann Jerry, ein paar Worte zu sprechen.

«Wow, schau dir das an, Kleines!» Er nickte dem Himmel entgegen. Taisha antwortete nicht, denn sie spürte einen Kloss im Hals. Die Schönheit der Landschaft berührte sie zutiefst. Und sie zeigte ihre Emotionen nicht gerne, behielt sie lieber für sich. Schwach sein konnte sie sich noch nie leisten.

«Was hast du, Kleines?» Jerry blickte verstohlen zu ihr herüber.

«Ach nichts…», antwortete Taisha leise.

«Nun sprich doch mit dem alten Jerry. Ich seh’ doch, dass deine Augen feucht werden.»

Taisha wurde nervös. Noch nie hatte sie jemand gefragt, wie es ihr ging.

«Ich… ich vermisse meine Mom. Sie liebte Sonnenuntergänge wie diesen.», sagte sie schüchtern.

«Wo ist sie denn, deine Mom?»

Und dann brach es aus ihr heraus. Taisha erzählte dem bärtigen Jerry alles über ihre tote Mutter, wie sie an diesem Morgen ihren Vater tot auf dem Bett fand und von ihrem Plan, ihre Tante zu finden. Jerry hörte die ganze Zeit über zu, sagte kein Wort. Taisha erkannte, dass sie es bitter nötig hatte, einfach zu reden. Das Aussprechen der Worte, die sie so lange für sich behalten hatte, verschaffte ihr eine wohlige Erleichterung. Jerrys Stimme wurde zärtlich, als er antwortete.
«So jung und schon so viel erlebt! Wobei, so jung bist du wahrscheinlich gar nicht, denn du scheinst eine alte Seele zu sein. Deine Geschichte ist ein gutes Beispiel dafür, dass unser System nicht funktioniert. Immer müssen die Schwächsten darunter leiden, wenn die da oben es nicht hinkriegen.», sagte er laut und fuchtelte mit den Händen. Dazu machte er ein angewidertes Gesicht.

«Aber wie dem auch sei… ich bin sicher, deine Tante hat dich gern bei sich. Wie ist sie denn so, deine Tante?»

«Ich bin nicht sicher, ob mich überhaupt jemand will. Ich bin ein schrecklicher Mensch. Meine Tante zog weg, bevor meine Mutter starb. Bestimmt will sie nichts mehr mit ihrer Familie zu tun haben.», antwortete Taisha traurig.

«Sag das nicht! Du bist kein schrecklicher Mensch. Du bist ein suchender Mensch und eine kleine Kämpferin. Sei gütig zu dir und verzeihe dir. Das ist allein DEIN Job. Du hast dein Leben lang bis jetzt einfach nur reagiert. Jetzt kannst du in Aktion treten!», rief Jerry durch die Fahrerkabine, Boxbewegungen imitierend. Er kurbelte das Fenster hinunter und jubelte die anderen Autos an. Taisha lachte herzhaft. Danach schwiegen die beiden wieder, während die anbrechende Nacht die Weizenfelder einhüllte und die ersten Sterne über ihren Köpfen glitzerten. Taisha schloss die Augen und schlief sofort ein. Jerry lächelte zufrieden und konzentrierte sich auf die nächtliche Strasse. Der letzte gelbe Schimmer der Sonne verschwand hinter dem Horizont.

Ruhig und erholt verliess Taisha am nächsten Morgen den Lastwagen. Es war noch früh und die ersten Vögel zwitscherten und sangen um die Wette. Jerry schenkte ihr zum Abschied eine Kette mit einem silbernen Anhänger, in dem ein Türkis eingefasst war.
«Diese Kette gehörte meinem Grossvater, einem Cherokee-Indianer. Aber du brauchst die gerade mehr als ich, Kleines. Sie wird dich vor bösen Geistern schützen. Zudem warnt der Türkis dich vor Gefahren. Er hilft dir, selbstbewusst durch die Welt zu gehen und schenkt dir die Erkenntnis, dass wir alle für unser eigenes Schicksal verantwortlich sind. Schon bald wirst du neue Lebenskraft spüren.», sagte er ernst. Sie verstand nicht, was er damit meinte, freute sich aber so sehr, dass sie Jerry umarmte, als wäre er ein alter Freund. Er zwinkerte Taisha zum Abschied zu und hob sich wieder in seine Fahrerkabine. Sie war sprachlos, denn noch nie hatte ihr jemand etwas so Wertvolles geschenkt. Nun stand sie also wieder alleine am Strassenrand in San Antonio, Texas. Jerry sagte, Piedras Negras sei nur noch etwa drei Autostunden entfernt. Taisha hatte Glück, dass er sie das ganze Stück bis nach San Antonio mitnahm. Ein Wink des Schicksals. Auch wenn sie nicht an sowas glaubte.

Taisha kaufte sich in einem kleinen Laden etwas zu trinken und setzte sich auf eine alte Bank, die vor dem Laden stand. Die Sonne glühte und sie kam ins Schwitzen, trotz der frühen Stunde. Vielleichte könnte sie mit dem Bus nach Piedras Negras fahren. Taisha entdeckte eine einzelne pinke Blume am Strassenrand, die ihren kleinen Kopf der Sonne entgegenstreckte. Sie fühlte sich ein wenig wie diese Blume. Taisha schloss die Augen und spürte die warmen Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht. Diese Wärme fühlte sich an wie eine Umarmung und sie war in diesem Moment sehr zufrieden. Das Amulett schimmerte auf ihrer Haut. Seit sie mit Jerry über ihre Eltern gesprochen hatte, war sie nicht mehr so wütend. Sie fing an, ihre Umgebung wahrzunehmen. Sie fühlte sich wie ein kleines Mädchen, das zum ersten Mal die Blumen blühen sieht. Die sanfte Präsenz Jerrys ermutigte sie, einfach zu sprechen. Loszulassen. Normalerweise vertraute sie sich nur ihrem Tagebuch an. Aber auch dieses hatte sie schon lange nicht mehr aufgeschlagen. Als sie Jerry umarmte, spürte sie einen kurzen elektrischen Schlag. Als wäre Jerry voller Energie. Das war irgendwie seltsam, fand sie. Aber sie dachte nicht weiter darüber nach, sondern blieb noch eine Weile in der Sonne sitzen und döste vor sich hin. Plötzlich spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter. Es war eine junge Frau mit langen schwarzen Haaren. Taisha erkannte sie als die Ladenbesitzerin. Sie erhob sich schnell von der Bank und entschuldigte sich bei der Frau.
«Aber nicht doch! Ich wollte dich fragen, ob du etwas essen möchtest. Mein Mann David hat gerade gekocht. Ich heisse Juanita. » Ihre Stimme war tief und einlullend. Taisha nickte, denn sie hatte tatsächlich grossen Hunger. Sie folgte Juanita in den hinteren Teil des Ladens. Durch eine Tür landeten sie im Innenhof, in dem ein langer Tisch aufgebaut war. Zwei kleine Mädchen rannten um den Tisch herum und lachten. Ein stämmiger Mann, David, brachte zwei Töpfe voller Chili con Carne und dampfende Tortillas in den Hof und stellte das Essen auf den Tisch.

«Na los, setz dich und schlag zu. Du siehst hungrig aus!», lachte die junge Frau mit den schwarzen Haaren. Taisha verschlang das Essen, ohne einmal den Löffel abzusetzen. Die zwei kleinen Mädchen kicherten deswegen.

«Oh, mein Chili scheint zu schmecken!», sagte David zufrieden.

«Sag mal, wie heisst du eigentlich?», fragte eines der kleinen Mädchen und blickte Taisha mit braunen Kulleraugen an.

«Ich bin Taisha. Und du?»

«Ich auch!», rief das kleine Mädchen aufgeregt. Ihre glänzenden braunen Augen wirkten so vertraut und blickten Taisha zärtlich an. Es war, als würde sie sich selbst in diesem kleinen Mädchen erkennen. So glücklich und unbeschwert war sie als Kind aber nie gewesen.

Verunsichert blickte Taisha zu Juanita. Diese lachte nur und nickte eifrig.
«Das ist ja lustig. Bist du auch Mexikanerin?», fragte Juanita.

Taisha schüttelte den Kopf.

«Ich komme auf Oklahoma. Ich weiss nichts von meiner Familie, aber ich sehe nicht sehr mexikanisch aus, oder? Meine Mutter war blond.»

Juanita musterte sie prüfend und begutachtete sie von Kopf bis Fuss, streichelte ihre dunklen Haare und blieb mit ihrem Blick an der Kette hängen, die sie von Jerry bekommen hatte.

«Vielleicht in deinem früheren Leben?», fragte sie. Taisha war sich nicht sicher, ob sie scherzte und schwieg deswegen. Alte Seelen? Früheres Leben? Steine, die vor bösen Geistern beschützen? Was hatte das alles zu bedeuten? Taisha fühlte sich, als hätte sie bis jetzt hinter dem Mond gelebt. Oder tief geschlummert.
«Was machst du denn in San Antonio, wenn du aus Oklahoma kommst?», fragte David, um das Schweigen zu brechen und riss Taisha aus ihren Gedanken.
«Ich bin auf dem Weg nach Piedras Negras in Mexiko. Wisst ihr zufällig, wo die Busse fahren?»

David und Juanita schauten sich schockiert an, um danach erneut in Gelächter auszubrechen.
«Das kann doch nicht wahr sein! Ich wollte heute nach dem Essen nach Piedras Negras fahren, um meine Mutter zu besuchen. Fahr doch gleich mit! So wie ich fahre, dauert die Fahrt nur zwei Stunden.», lachte Juanita.

Die Fahrt Richtung Mexiko führte durch eine scheinbar unberührte Landschaft. Die Wüste erstreckte sich in endlose Weiten und verlor sich in einem glühenden Flimmern in der Luft. Schüttere Gräser und meterhohe Kakteen säumten die staubige Strasse nach Süden. Juanita redete wie ein Wasserfall. Sie erzählte von ihren zwei Mädchen und wie neugierig diese waren. Sie erzählte, wie sie David in einer Bar kennen lernte, nachdem sie Mexiko verliess und nach Texas gezogen war. Sie lobte ihren Mann dafür, dass er die Hausvaterrolle übernahm.
«Mit einem Mexikaner wäre das nie möglich gewesen. Aber ich brauche die Arbeit in meinem Laden. Und ab und zu ein wenig Freiheit!», grinste Juanita. Eine grosse Sonnenbrille verdeckte ihre Augen. Aber Taisha spürte ihren neugierigen Blick auf ihr ruhen.

«Was ist deine Geschichte, Taisha?» Juanitas Stimme wurde plötzlich ernster.

«Ich bin mir nicht sicher. Es fühlt sich an, als wäre ich aus dem Tiefschlaf erwacht. Noch nie habe ich Oklahoma verlassen. Ich bin schon früher abgehauen, aber dann nur zu irgendwelchen Typen ein paar Strassen weiter, um Drogen zu nehmen. Mein Vater hat mich immer aufgespürt. Vor ihm konnte ich nicht davonlaufen.»

Juanita nickte nachdenklich.
«Du wirkst jetzt aber nicht wie ein rebellischer Teenager, der von zu Hause abhaut. Du bist auf der Suche. Aber wonach?»
«Ich suche meine Tante. Sie wohnt in Piedras Negras. Sie ist die einzige Verwandte, die ich noch habe.»
Juanitas Gesicht strahlte wieder.

«Keine Sorge, wir finden deine Tante. Ich kenne Piedras Negras in- und auswendig!»

Es war Mittag, als sie in Piedras Negras ankamen. Die grelle Sonne brannte, als sie aus dem Auto stiegen, um eine Pause einzulegen.

«Los, zeig mir die Adresse deiner Tante.»

«Wolltest du nicht deine Mutter besuchen? Ich will dich nicht aufhalten!»

«Ach Quatsch. Dieses Abenteuer ist viel spannender als die langweilige Tratscherei meiner Mutter. Zudem möchte ich dir wirklich gerne helfen!», grinste Juanita.

Taisha kramte das alte Adressbuch ihrer Mutter aus dem Rucksack und gab es Juanita nur widerwillig. Diese jedoch riss ihr das Buch aus der Hand und begutachtete es staunend, strich über den Ledereinband und die eingeritzten Initialen. Sie las die Adresse und weitete ihre Augen.
«Was ist denn?», fragte Taisha besorgt.

«Diese Adresse kenne ich! Da wohnen so ein paar Hippies, in einem Haus mitten in der Wüste. Bist du sicher, dass deine Tante da wohnt?», fragte Juanita etwas belustigt.
«Es ist der einzige Anhaltspunkt, den ich habe.» Taisha bekam es mit der Angst zu tun. Hippies? Plötzlich fühlte sie sich unendlich müde und erschöpft. Am liebsten würde sie einfach zurück nach Oklahoma fahren. Sie wollte, dass alles wieder so war wie vorher. So, wie sie es kannte. Und hasste. Juanita versuchte, sie zu beruhigen.

«Hab keine Angst, Mija. Es sind sehr nette Leute, nur ein wenig eigenbrötlerisch. Meine Nichte wohnt auch dort. Sie leben sehr naturbezogen und zelebrieren die alten Rituale meiner Ahnen. Sie werden dir sagen können, was du in deinem früheren Leben warst. Sie können dir auch helfen, deine Seele zu heilen und deine Bestimmung zu finden. Vielleicht hat das Schicksal dich hierhergeführt? Komm, ich bringe dich hin!»

Juanita tänzelte aufgeregt hin und her. Widerwillig stieg Taisha wieder in das aufgeheizte Auto. Ihr Herz raste wild. Da nahm Juanita ihre Hand und drückte sie ganz fest. Aus dem Radio dröhnte fröhliche Countrymusik.
«Es wird alles gut, Taisha. Der Türkis wird dich leiten und dich nie im Stich lassen. Die Angst lehrt dich, die Dinge in einem anderen Licht zu betrachten. Sie ist nicht dein Feind. Du wirst vielen Menschen helfen, genauso wie sie dir helfen.» Juanita linste auf die Kette, die um Taishas Hals baumelte. Taisha fühlte sich völlig überfordert von ihren Worten, fühlte aber eine innere Wärme, als sie Juanitas Hand ebenfalls drückte. Sie atmete tief durch und liess sich von Juanita mitten durch die Wüste fahren. Es sah nicht so aus, als würde hier jemand wohnen. Doch dann erschien plötzlich ein riesiges knallgelbes Haus aus dem Nichts. Kakteen thronten um das Haus und da stand sogar ein grosser Baum, der Schatten spendete. Neben dem Haus war ein grosser wilder Garten angelegt, mit allerlei Büschen, Kakteen und Blumen, die Taisha noch nie gesehen hatte. In der Ferne erblickte sie dunkelgrüne Berge, die sich in den endlos scheinenden Himmel hineinschlängelten. Graue Wolkenberge kündigten Regen an. Doch niemand war zu sehen.

Juanita zerrte Taisha regelrecht aus dem Auto und schritt auf das Haus zu. Ein sanfter Wind kühlte ihre erhitzte Haut. Das Haus hatte keine Tür, also kamen sie direkt in eine Art Eingangshalle. Der bunte Mosaikboden, auf dem sie standen, leuchtete im hereinfallenden Sonnenlicht. Taisha hörte schlurfende Schritte auf sie zukommen, die von den Wänden hallten. Eine Frau von ungefähr 60 Jahren trat auf die beiden zu. Sie hatte ihr braun-graues Haar zu einem langen Zopf gebunden, der bis zu ihren Oberschenkeln reichte. Taisha glaubte, ihre Tante Nadeen zu erkennen. Der etwas faltige Mund der Frau formte ein Lächeln und sie nickte demütig.

«Hola! Ich bin Juanita und das ist…»

«Taisha!», unterbrach die fremde Frau Juanita in einem singenden Tonfall. Sie trat auf Taisha zu und öffnete ihre Arme.
«Ich habe auf dich gewartet, Kind.»

Taisha konnte sich nicht zurückhalten und liess sich in die offenen Arme der Frau fallen. Es war, als kannte sie diese Frau schon ihr ganzes Leben lang. Sie erinnerte sich nicht an die Umarmungen ihrer Mutter, aber genau so mussten sie sich angefühlt haben. Sie fühlte sich, als würde sie in warmes Wasser tauchen und eine befreiende Stille erfüllte ihr Innerstes. Ein geborgenes und heilendes Gefühl erfüllte ihr Herz und auf einmal wusste sie: Sie durfte nun glücklich sein.

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Autor: Susanne Grädel

Susanne Antoinette Grädel, wurde am 01.08.1990 in Bern geboren und hat einen Abschluss als Fotografin HF von der F+F Schule für Kunst und Design. Susanne schreibt Gedichte und Belletristik, malt, fotografiert und filmt. Seit über zehn Jahren versucht sie, ihre komplexen Gedanken und ausufernden Gefühle mit Lyrik und Belletristik in die Aussenwelt zu tragen. In ihren Texten untersucht Susanne die Melancholie in alltäglichen, ephemeren Situationen und entdeckt das poetische Potential in abgründigen Gedanken.

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