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Das Totenbuch

Mit Facebook werden wir in nicht allzu langer Ferne einem Phänomen begegnen, dessen Auswirkungen auf die individuelle menschliche Psyche noch völlig unabsehbar sind. In 20, 30, spätestens 40 Jahren wird aus facebook nämlich das Buch der Toten.

Wie das? Seit 2004 gibt es das soziale Netzwerk, in der Schweiz schwappte die Welle rund drei Jahre später rüber. Seit 2008 sammle ich Freunde, die ersten 600 ausschliesslich Menschen, denen ich im realen Leben irgendwann einmal begegnet war. Danach gab ich auch einigen rein virtuellen Freundschaften eine Chance. Die meisten meiner Freunde sind plusminus in meinem Alter. Naja, vielleicht etwas jünger – sagen wir mal mindestens 35 Jahre alt. In dieser Zeit sah ich (und ich glaube, vielen unter euch ging es gleich) in das Leben vieler Menschen. Ich sah Paare, die zusammenkamen und mit der Statusänderung die Menschheit darauf aufmerksam machten, oder mit einem gemeinsamen Foto, oder mit einem schlichten Herzen. Manche trennten sich stillschweigend, ein paar Wenige mit Getöse. Schwangerschaften wurden gemeldet, Kinder wurden geboren und ungefragt der Community präsentiert, und wir durften an ihrem Aufwachsen Teil haben, ohne die Bälger je persönlich zu Gesicht zu bekommen. Menschen wurden älter, sesshafter, runder, grauer, faltiger, seriöser, desillusionierter, ruhiger, scheuer, zurückgezogener.

Dann starben die ersten Idole unserer Jugend: Michael Jackson, Whitney Houston, Steve Lee – das machte uns betroffen, und wir waren froh, unsere Betroffenheit irgendwo ausdrücken zu können, einfach mit einem RIP, zwischen der Beantwortung von Geschäftsmail A und dem Schreiben einer SMS an den neuen Schwarm. Und wenn dann jemand „gefällt mir“ drückte, fühlte man sich verstanden, vor allem aber wahrgenommen.

Und dann starben die ersten Menschen, mit denen wir wirklich befreundet waren – ob real oder nur virtuell spielte keine Rolle. Denn dank unserer Vernetzung bekamen wir das sofort mit: wir waren informiert! Betroffenheit, Beileidsbekundungen, Fragen – die Wellen machten ihre Kreise. Und hier liegt nun der Unterschied zu früher: mit jedem Tag, mit jedem Jahr, in dem wir älter werden, wird das nicht besser, im Gegenteil. Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand, den wir kennen stirbt, steigt an. Noch entschlafen sie nicht dieser Welt nach erfülltem Leben. Es sind sogar nicht selten jüngere, die von einer angeborenen Krankheit, einem körperlichen Defekt, Missbrauch von Drogen und Medikamenten, durch Unfälle oder einfach, weil Gott es so will, abberufen werden.

Die Anzahl solcher trauriger Nachrichten hat subjektiv zugenommen. Das war früher, also vor facebook, nicht anders, die Sterberate wohl grösser, die Lebenserwartung tiefer. Aber früher hatte man es von vielen, nein den allermeisten, denen man im Leben einmal über den Weg gelaufen war oder mit denen man ein paar Wochen oder einen Sommer lang in derselben Clique verkehrte, gar nie erfahren. Sie waren einfach nicht mehr Teil des eigenen Lebens. Sie waren schon vorher weg, die Verbindungen gekappt, vergessen oder verdrängt.

Mit facebook ist das anders. Mit facebook erfahren wir unweigerlich, wer von den Menschen, mit denen wir virtuell befreundet sind und es mal vielleicht auch im wahren Leben waren, plötzlich auch in echt nicht mehr da ist. Die eigene Endlichkeit wird uns damit akribisch vor Augen geführt, und zwar ausführlich und persistent, immer wieder – und immer häufiger.

Wie wird das in 30, 40 Jahren sein – falls ich dann selber noch lebe – wieviele meiner weit über 1000 Freunde sind dann noch da? Wie werden die Nachrichten im sozialen Netz über deren Ableben mein eigenes Leben (und das der vielen Millionen anderen, die dieselbe Erfahrung machen werden) beeinflussen? Welche Auswirkung wird das auf den kollektiven Lebensmut der Menschheit haben? Werden wir sensibler? Oder abgehärteter? Leben wir künftig unser Leben bewusster? Oder rücksichtsloser? Leben wir vermehrt unseren Traum, anstatt nur vom Leben zu träumen? (Um diesen abgelutschten Musenalp-Express-Klischeespruch auch einmal in einer Kolumne zu bemühen.)

Die Antworten auf einige dieser Fragen werden wohl nicht lange auf sich warten lassen. Denn es hat schon angefangen.

RIP all my virtual and real friends, that already have left the building.

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Autor: Henrik Petro

In den 90ern prägte Henrik als Moderator von Sputnik TV trotz seines Ostschweizer Dialektes die Erinnerungen der Partyjugend bis heute. Während mehrere Jahre war er Chefredaktor des gleichnamigen Magazins. Später schrieb er fürs Fernsehen (u.a. Chefautor von Dieter Moor und Rob Spence, eine Folge der SitCom "Fertig Luschtig") und produzierte auch (u.a. 150 Folgen von "Der Scharmör"). Er war die ersten Jahre von Radio Street Parade Musikchef und war dann später einige Jahre Autojournalist.

Arbeitet heute hauptberuflich als Frauenversteher, aber da er von seinen Freundinnen, BFFs, Kolleginnen und wem er sonst noch sein epiliertes Ohr leiht, kein Geld dafür verlangen kann, dass sie ihm ihre Männerprobleme in allen Details schildern, arbeitet er zusätzlich noch gegen Entgelt als Chefredaktor in einem Fachverlag. Damit sein Hirn unter dieser Belastung (und wegen Handy-Antennen) nicht explodiert oder eine Selbstlobotomie durchführt (was ihm zwar die Aufmerksamkeit von Gunter von Hagen garantieren und somit zur Unsterblichkeit verhelfen würde), schreibt er Kolumnen für kult. Am liebsten über menschliche Begegnungen. Oder überhaupt über Menschen. Oder darüber, was Menschen so tun. Oder getan haben. Oder tun könnten. Oder sagen. Oder gesagt haben. Oder sagen könnten.

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