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Depression – Ein Erklärungsversuch

Depression ist ein Thema, das ich für ungeheuer wichtig halte. Nicht nur als Psychologin, sondern auch als Mensch und als Betroffene.

Kürzlich passierte es einmal mehr: Ich sah, wie sich jemand auf Facebook über einen Suizid im Personenverkehr beklagte. «OMG, mueses unbedingt grad uf minere Stecki sii?? Söll doch noimet andersch vor de Zug gumpe, egoistische Tubel», lautete die sinngemässe Parole.

Mich machte das kurzzeitig absolut sprachlos. Ich war mit dieser Person nicht befreundet, hätte den Status aber trotzdem kommentieren können und ich war auch drauf und dran… Schraubte dann aber die Emotionen etwas runter und die Kognitionen etwas rauf und überlegte mir, was es eigentlich bedeutet, wenn jemand so etwas schreibt.

Ich glaube, dass Depressionen und ihre Folgen (u.a. Suizid) sehr schwer zu verstehen sind, wenn man selber nicht in irgendeiner Weise davon betroffen ist. Ich führe noch heute manchmal Gespräche mit Leuten, die ich für emotional intelligent und einfühlsam halte, die dann aber Dinge sagen wie „Jeder ist so glücklich, wie er/sie will“ oder „Wer seine Karre in den Dreck fährt, der muss sie selber wieder rausziehen“. Grundsätzlich bin ich mit diesen Aussagen einverstanden – wenn es um gesunde Menschen geht. Um stabile Menschen. Ich bin durchaus auch der Ansicht, dass man sich sein eigenes Glück schaffen kann und dass man Verantwortung übernehmen soll, wenn man Scheisse gebaut hat.

Aber: Jemandem mit einer depressiven Störung zu sagen, er/sie soll die übertragene „Karre“ selber aus dem Dreck ziehen, ist, als ob man jemandem mit zwei lahmen Beinen sagen, er soll ein tatsächliches Auto aus dem Matsch hieven.

Ich werde hier nun einmal versuchen, aus professioneller und persönlicher Perspektive zu beschreiben, was eine Depression ist und wie sie sich anfühlt. Vielleicht ist es dann etwas leichter, nachzuvollziehen, was diese Krankheit für die Betroffenen bedeutet.

Von einer schweren depressiven Episode spricht man gemäss der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD), wenn der/die Betroffene praktisch non-stop von seiner/ihrer Krankheit eingenommen ist, deutlichen Interessens- und Freudesverlust an sonst angenehmen Aktivitäten und verminderten Antrieb oder gesteigerte Ermüdbarkeit zeigt. Dazu kommen Verlust des Selbstwertgefühls, unbegründete Selbstvorwürfe/unangemessene Schuldgefühle, wiederkehrende Gedanken an Suizid oder Tod, verminderte Denk- oder Konzentrationsfähigkeit und Unentschlossenheit, (psycho-) motorische Über- oder Unteraktivität, Schlafstörungen und geminderter oder übermässiger Appetit inkl. entsprechender Gewichtsveränderung.

Nun stelle man sich einmal vor, all diese Dinge passieren mit einem, ohne dass man irgendetwas (falsch) gemacht hat. Man kommt, ohne zu wissen, warum, morgens nicht mehr aus dem Bett. Man empfindet einfach keine Freude mehr, so sehr man es auch versucht. Man ist allein in der Dunkelheit und beginnt, sich zu alledem auch noch Vorwürfe zu machen, weil man sich undankbar fühlt – eigentlich hat man ja alles, was man braucht, und man ist trotzdem einfach todtraurig. Man ist dieser bleiernen, lähmenden Trauer komplett ausgeliefert, fühlt sich als Last für alle anderen und dann kommen die Gedanken, dass es wohl wäre besser für alle Beteiligten, wenn man nicht mehr da wäre.

Und dann kommt jemand daher und sagt: „Jede(r) ist so glücklich, wie er/sie will“…

Nur, weil man eine Krankheit nicht sieht oder sichtbar machen kann, bedeutet das nicht, dass sie nicht existiert. Dass es schwieriger ist, den Schmerz nachzuvollziehen, wenn man ihn noch nie selber gespürt hat, verstehe ich. Ich hatte aber auch noch nie ein gebrochenes Bein, weiss aus Beschreibungen jedoch ganz genau, dass es höllisch weh tun muss. Genauso kann, abgeleitet aus der obigen Beschreibung, wohl jede/r nachvollziehen, dass es hundeelend ist, an einer Depression zu leiden.

Es ist so elend, dass manche Betroffenen nach Jahren einfach müde sind – lebensmüde. Wenn wieder alles von vorne beginnt, wenn der Kampf einfach schon zu lange dauert, wenn die Hoffnung auf ein einigermassen zufriedenes Leben erlischt.

Der Mensch hat grundsätzlich einen gigantischen Lebenswillen, es ist seine erste und wichtigste Aufgabe, sich selber am Leben zu halten – alles andere ist erst zweitrangig.

Wenn ein Mensch sich also vor einen Zug wirft, dann ist er genau das Gegenteil eines „egiostischen Tubels“. Es ist die ultimative Selbstzerstörung. Es ist komplett irrational, der/die Betroffene ist sich nicht bewusst, wie viele Menschen er/sie traumatisiert oder schädigt. Es widerspricht allem, was die Natur für uns vorgesehen hat. Und nicht einmal ich, die ich schon die eine oder andere depressive Episode durchlebt habe, kann mir vorstellen, wie traurig, verzweifelt und gebrochen jemand sein muss, um das kostbarste Gut, das wir besitzen, nämlich das Leben selbst, aufzugeben.

Seien wir also etwas sanfter in unserem Urteil über die Handlungen anderer. Und seien wir uns – im Gegenzug – doch einfach unserer eigenen Fähigkeit, Glück und Freude zu verspüren, für heute einmal von Herzen bewusst.

 

bild: arstechnica.com

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Autor: Yonni Meyer

Yonni Meyer (*1982) wuchs dort auf, wo’s mehr Kühe als Menschen gibt. Und das war gut so. Kantonsschule in der Nordschweizer Provinz (Hopp Schafuuse). Studium im Welschland (Sprachen und Psychologie). Umzug an die Zürcher Langstrasse 2011. Seither konstant kulturgeschockt. Ende Juli 2013 Geburt des Facebook-Blogs „Pony M.“
September 2013 Einstieg bei KULT. Ab 2014 Aufbruch in die freelancerische Text-Landschaft der Schweiz. Meyer mag Blues. Meyer mag Kalifornien. Meyer mag Igel. Meyer mag Menschen. Manchmal.

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