Alt ist er geworden, fast hätte er sein letztes Ziel erreicht, mein Grossonkel Onobos. Er war weder der Bruder meines Vaters, noch jener meiner Mutter, noch war er der Ehemann irgendeiner Frau aus meiner Verwandtschaft, die irgendjemand gekannt hätte.
Er war, wie wir alle gerne sagten, einfach immer schon da. Und wir wussten, dass er ein Blutsverwandter sein musste, wegen seinem nadelspitzen Kinn, den Augen, die uns aus tiefen Gruben, aus wahren Abgründen entgegen funkelten, seiner Gewohnheit, sich immer verstohlen in die rechte Hand zu schnäuzen, bevor er jemanden per Handschlag begrüsste, wie wir es alle tun, denn unsere Familienbrut war einst dem Land Nod entsprungen.
Mein Grossonkel Onobos zitierte ausserordentlich gerne folgenden Satz, den einmal einer gesagt habe: «Wer sich von seiner Frau scheidet, es sei denn wegen Ehebruchs, der macht, dass sie die Ehe bricht; und wer eine Geschiedene heiratet, der bricht die Ehe.»
Dann pflegte er seinen Senf hinzuzufügen: «Ich habe es zehntausend Mal getan, ich habe es zehntausend Mal genossen, ich werde es wieder tun.»
Ja, ein echter Schwerenöter war er, mein Grossonkel, einer von der besten Sorte.
Er konnte die gescheitesten, keuschesten, frömmsten Damen dazu überreden, mittels seiner flinken Zunge, denn zum Anschauen war er furchtbar hässlich, alles mit ihm durchzuexerzieren, was der göttliche Marquis in seiner spätesten und längsten Fassung des Justine-Stoffes so fröhlich beschrieben hatte, in «La Nouvelle Justine ou Les Malheurs de la vertu» nämlich, die 1797 erstmals publiziert worden war, im ebenso fröhlichen Amsterdam. Sie war das Leib- und Magenbuch meines Grossonkels.
Er beherrschte viele Sprachen. Er sagte gerne: «Meine Lieblingssprache heisst cunnilingus, meine zweitliebste ist die englische, der auch mein Lieblingszitat entstammt: I’am a backdoor man. Well the men don’t know but the little girls understand. Das hat der grossartige Howlin’ Wolf geschrieben und gesungen, ein Mann, ganz nach meinem Geschmack. Und ich bin mir sicher, dass er mit Backdoor nicht die Hintertüre eines Hauses gemeint hat. Er hat damit gewiss jenen Altar gemeint, auf dem auch ich meinen Weihrauch am liebsten verbrenne.»
Und dann pflegte er zu lachen, dass sein ganzes Häuschen wackelte, welches er selbst gebaut hatte, direkt über dem Nabel der Welt.
So wie er die stolzen Damen, die er in seine Gemächer einlud, die speziell zu jenem Zweck eingerichtet waren, dem Treiben von Unzucht nämlich, mit ihren prächtigen Hinterteilen wackeln liess, stundenlang.
Dies war sein Hauptvergnügen und er hatte diesbezüglich ein unerschütterliches Credo: «Es gibt 7000 Schattierungen des Arschwackelns, von leicht frivol bis hemmungslos pornographisch. Und ich habe jede meiner Liebschaften, manchmal waren es auch elf oder zwölf Damen gleichzeitig, dazu gebracht, sie allesamt für mich zur Aufführung zu bringen».
Darauf war er sehr stolz, mein lieberguter Grossonkel Onobos.
Apropos: Am Ende des vorletzten Absatzes haben wir über Rauch gesprochen. Und mein Grossonkel hat geraucht. Wie ein Vulkan. Als Europäer vom edlen alten Schlag hatte er 1492, als die ersten Schiffe jenes köstliche Gut über die Meere zu uns trugen, mit dem Tabakgenuss angefangen.
Sein Konsum stieg zusehend, er rauchte Zigaretten, Cigarren, Pfeifen, Haschisch, Opium, Crack, er rauchte sogar im Schlaf, während er seine Zähne putzte und natürlich beim Essen.
Er konnte Essen wie Belphegor, der Höllendämon jener Todsünde, die gemeinhin Völlerei genannt wird, er hat jeden Bissen genossen. Sobald er das Dessert verzehrt, den Kaffee genommen hatte, bestellte er gleich wieder eine Vorspeise.
Dazu hat er Ströme von Alkohol getrunken, Bier, Cidre, Likörchen, Wein, Schnäpse. Er hat so manchen Kellner, so manchen Koch zur Verzweiflung getrieben, die Kosten des Genusses waren ihm egal; «denn», sagte er, «ich bin ein echter Ritter der Tafelrunde und esse mich gesund, deshalb bin ich so alt geworden, deshalb bin ich noch so gut im Fleische, deshalb kann ich eine Dame immer noch zehn Tage lang am Stück beglücken, zu Wasser und zu Lande.»
Er mochte seinen Körper, der unbeschreiblich dick und feist war, dies nicht trotzdem, sondern erst recht deshalb.
Trotz seiner massiven Fettleibigkeit war er agil wie ein Orang Utan – oder sogar der mächtige Affe Hanuman aus der Ramajana. Im Streit konnte er ganze Armeen besiegen, gänzlich unbewaffnet, auch wenn die feindlichen Soldaten mit der modernsten Streittechnik ausgerüstet waren.
Mein Grossonkel Onobos liebte die Welt und die Menschen, er war ein Förderer der Künste, er beschenkte Frauen und Kinder, Witwen und Waisen, Alte und Schwache, offerierte Männern und Jünglingen Aufstiegschancen.
Ein Mäzen, ein Gutmensch, trotzdem war ihm bewusst, dass diese Welt eines Tages enden würde.
In ihm war mit den Jahrhunderten die Überzeugung gewachsen, dass er die Apokalypse höchstselbst an die Hand nehmen müsse: «Es ist besser, wenn ein Guter es tut», sagte er oft, laut und gern. Also exakt die gleichen Worte, die er sprach, wenn es um die komplexe Disziplin des Lustmords ging.
Er wollte derart fett werden, dass er die Welt mit seinem Körper ersticken könne – und dann mit dem blauen Planeten zusammen untergehen. Fast hätte er dies, wie eingangs erwähnt, geschafft, mein sympathischer Grossonkel, der Back Door Man: Onobos.
Doch eines Tages ist er furchtbar gestürzt, von einem spitzen Berggipfel, er hatte versucht den letzten Schneeleoparden zu retten.
Bei diesem Sturz hat er sich das Genick gebrochen. Die allgemeine Trauer war gross. Nun bekam die Ärzteschaft, jahrhundertlang hatte der Grossonkel sie gemieden, endlich seinen Korpus in die Hände.
Als sie seine Schädeldecke aufsägten, fanden sie in seinem riesigen Haupt, er hatte Hutgrösse 124, kein Gehirn. Sondern einfach nichts.
Sie wunderten sich, die Frauen und Mannen der Wissenschaft, dass einer so lange Zeit derart produktiv leben und weben konnte, mit nichts als einem Nichts im Kopf. «Da muss wohl der Herrgott dahinter gewesen sein», sangen sie im Chor.
Und legten den Fall zu den Akten.