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Die Wahrheit der Anderen

Wenn wir nicht mehr weiterwissen, sagen wir mit Gewissheit in der Stimme, die Wahrheit wird sich weisen! So, als sei Wahrheit eine Antwort oder, als enthielte Wahrheit das Versprechen von Freiheit.

Picture by Ben White Courtesy of Unsplash

Gibt es Patienten die Gewissheit darüber wollen, dass sie Krebs haben?

-Ja, vielleicht.

Welche Eheleute wollen wirklich erfahren, was in dem Hotel auf der Kreditkartenabrechnung passiert ist?

-Besser ein Ende mit Schrecken und so weiter, könnte man antworten, muss man aber nicht.

Eigentlich wollen wir nicht einmal wissen, ob die Turnschuhe, die Jeans oder die Lederjacke, die wir gestern gekauft haben zu teuer oder durch Kinderarbeit hergestellt war. Wahrheit ist ein Wunsch, die Sehnsucht nach Ordnung, ein Verlangen nach Sinn.

Kristen ging nervös an der Strassenecke auf und ab, sie hatte keinerlei Sorgen wie teuer ihre Klamotten gewesen waren, obwohl sie von Kopf bis Fuss Designerkleider trug. Der Tag erschien ihr unnötig grell, jedes bremsende Auto erschreckte sie und die Stopstrassenmarkierung leuchtete blutrot, bedrohlich. Kristen versuchte, ruhig zu atmen und sich zu konzentrieren.

Totenkopfmasken

Kristen sagte sich, sie sei doch nie leicht zu erschrecken gewesen, nicht einmal als Mädchen, als ihre Brüder sich mit diesen Totenkopfmasken aus Scream im Schrank versteckt hatten, nicht einmal, als sie im Jura-Studium wegen eines langen Trips auf die griechischen Inseln ernsthaft hintendrein gewesen war. Aber heute fürchtete sie sich und versuchte, wieder und wieder zu rekonstruieren, was sie eigentlich in der Anwaltskanzlei entdeckt hatte und nochmals und nochmals ging sie durch, ob sie die Unterlagen richtig deutete.

Ein SUV hupte neben ihr, sie drehte sich hektisch um, die dunklen Fenster glitten hinunter, Anna sagte: «Ich war noch bei Starbucks, steig ein, der Kaffee ist noch frisch.» Kristen checkte nochmals die Strasse in beide Richtungen und stieg in den übergrossen, dunklen Wagen. Im Innern roch es nach Kaffee, grinsend zeigte Anna auf den Bussenzettel neben den grossen Bechern, sie hatte illegal geparkt und war von der Polizei erwischt worden. «Natürlich habe ich trotzdem Cappucino geholt».

Tod eines Toyotas

«Wie bist du denn an den fetten Schlitten gekommen, hat der Toyota endlich den Geist aufgegeben, diese Karre war kein Auto mehr, sondern ein fahrender Unfall.»

«Meine Eltern waren zu Besuch und haben <mein Baby> auf der Strasse gesehen und da hat meine Mutter meinem Vater gedroht ihn zu verlassen, wenn sie mir nicht dieses Auto leihen und das Baby zum Mechaniker bringen. Natürlich habe ich keine Parkkarte für das Quartier und mein Vater wird an den Bussen keine Freude haben. Aber, sag’ mal, was ist denn so dringend?»

Anna war nie ein Kind von Traurigkeit gewesen, trotzdem war sie mit einer Leichtigkeit durchs Studium geflogen, auf die Kristen immer etwas neidisch gewesen war. Freundinnen waren sie an einer Party geworden, an der Anna ohne viele Umstände zugegeben hatte, dass die Leichtigkeit nicht so leicht sei, wie sie aussehe. Kristen, bis dahin eher ein Nerd, fühlte sich sofort hingezogen zu einer Person, die komplexer war als sie angenommen hatte.

Aktenberge, Überstunden

«Was ist los, wie kann ich dir helfen?», fragte die Freundin, als sie bei einer roten Ampel warten mussten: «Bist du in Ordnung, du klangst irgendwie hektisch vorhin, hast du Ärger bei deinem Anwaltsjob in der Kanzlei Arschloch, Arschloch und Oberarschloch.»

Instinktiv wollte Kristen widersprechen. Als Anwaltsassistentin hatte sie Respekt vor ihren Bossen, sie hielt sie sogar für nett und Aktenberge und die Überstunden gehörten für sie zum Job, obwohl die Partner dauernd mit wichtigen Apéros und Arbeitsessen beschäftigt waren, während sie hirntötende Aufgaben wie unzählige elektronische Dokumente in Ordner abzulegen erledigte oder Memos über noch hintötendere Gesetzesauslegungen schrieb, die dann auf eine noch motivationstötende Art ignoriert wurden.

Ein eleganter Move musste Kristen zugeben, offenbar hatte das Fahren mit einem schrottreifen Toyota Anna zu einer Art Rennfahrerin gemacht, die im Stadtverkehr die Spur auf engstem Raum wechseln konnte, ohne Hupkonzert und ohne, dass es die anderen potentiellen Rennfahrer an der Kreuzung überhaupt mitbekamen. Es ging einfach alles zu schnell. Ihr Atem war ruhiger geworden. Hatte sie sich das alles nur eingebildet? Es war einfach zu verrückt. Vielleicht konnte man ihren Bossen Faulheit, Arroganz und eine milde Frauenfeindlichkeit vorwerfen, die im Kanzleigeschäft allerdings als normal galt, aber was sie entdeckt hatte, war strafbar und nicht einmal besonders gut verborgen. Jeder der Angestellten, der die Datenbank durchging hätte es sehen können.

Blaue Stunden

Papierberge erhoben sich in Annas Büro bei Greenpeace. Obwohl früh am Nachmittag blieben die Räumlichkeiten verlassen, entweder war das Mittagessen noch nicht zu Ende oder die blaue Stunde für den Apéro hatte schon begonnen. Für die beiden Frauen ein Vorteil, so konnten sie in Ruhe alles durchsprechen.

«Bist du sicher? Das hätte ich jetzt nicht einmal Arschloch und Oberarschloch zugetraut. Klar, sie sind die Bösen, aber so böse, das ist illegal. Das ist ernst», sagte Anna, ihre Stimme war tief und ernst geworden und sie hatte diese Ausstrahlung angenommen, die sie zu einer guten Anwältin gemacht hätte, wäre sie nicht bei Greenpeace gelandet. Aber nach der Uni hatte sie zu Kristen nur gesagt: «Robben sind niedlich und ich habe keinen Bock, irgendwo für irgendwelche Krawattenträger Fotokopien ohne Ende zu machen, damit die länger beim Mittagessen hocken können. Da mache ich lieber etwas Sinnvolleres.»

Die Freundin hatte nicht ganz unrecht gehabt: Zwar waren die Fotokopien elektronischen Datenstapeln gewichen, aber der Rest traf ziemlich genau zu. Mochte sein, die Wahrheit lag nochmals ein bisschen anders: Annas Eltern hatten Ehrgeiz, Reichtum, fette Schlitten, grosse Häuser mit grellen Lichtern und elektronischen Alarmanlagen über alles gestellt und deswegen fiel es Anna leichter als anderen Juristen anzunehmen, sie könne Robben, Pandabären oder Wale retten.

Andere Wahrheiten

Eine andere Wahrheit über Anna: Den Eltern missfiel die Entscheidung und sie hatten ihr die Unterstützung gestrichen. Die Wahrheit der Eltern war gewesen, wenn man in der Jura-Prüfung die Zweitbeste des Jahrgangs ist, dann geht frau doch nicht zu Greenpeace. Kristens Wahrheit sah anders aus, ihr Abschluss war nicht schlecht gewesen, aber sie war ehrgeizig, sie wollte mehr und nach einer Jugend, die sie mit zu vielen Leuten verbracht hatte, die Dialoge aus Star Wars auswendig konnten, empfand sie die Aussicht vor einem Gericht zu argumentieren, als Chance endlich etwas zu tun, was wichtig war.

Kristen starrte auf die Poster. Walfische. Schmelzende Eisberge. Auf den unvermeidlichen USM-Haller-Korpussen war ab und zu ein Foto von Greta Thunberg aufgeklebt. Kein Ding. Cool. Unter den Tischen standen Turnschuhe, da stand ein Skateboard beim Schirmständer und offenbar räumte hier niemand seinen Schreibtisch auf.

Skateboards und Wale

Auf einem Pult zählte sie sechs Kaffeetassen. Etwas, was bei Arschloch, Arschloch und sie wissen schon weiter mindestens ein geharnischtes internes Memo ausgelöst hätte. AA & OA hätten damit argumentiert, dass die Arbeit des hervorragenden «Service-Personals» «wertgeschätzt» werden müsse und darum jeder seinen Kram selber wegräumen müsse.

Naja, das war natürlich nicht wahr. Den Partnern konnte das nicht egaler sein, aber die Sauerei störte die Anzugträger einfach, was sie niemandem persönlich sagen wollten, da sie sich ja dann um etwas hätten kümmern müssen und es vielleicht um geleistete Arbeit gegangen wäre, so dass sie einfach irgendeinen Bürodrachen damit beauftragten, die Ordnung mit politisch korrekten Kriterien aufrechtzuerhalten. Wahrheit, simpel: Wer zahlt, befiehlt und er trägt einen teuren Anzug. Also weg mit den Pappbechern und leeren Dosen.

Pandabären

Anna war ganz schnell klar geworden, sie hatte kein Skateboard, sie war es gewohnt einen Wagen zu fahren, sie mochte viele Dinge, die ihre Kollegen nicht mochten, sie wusste schnell, dass sie im Land der zerrissenen Jeans und der Unrasiertheit nur akzeptiert wurde, weil ihr Idealismus echt war und weil sie gut darin war, internationale Gesetze zu interpretieren. Sie war nützlich. Und nur darum ging es in Ordnung, dass sie nicht mit dem Fahrrad zu Arbeit kam. Aber sie hatte sich nie sehr viele Sorgen um Wahrheit gemacht. Oder zumindest nicht um die Wahrheit der Anderen.

«Du weisst, wir haben keinerlei Erfahrung mit einer solch’ grossen Scheisse…», sagte Anna, ihre Stimme ein bisschen höher.

«Du hast doch dieses Schiff von den Franzosen befreit und niemand musste in den Knast, das war doch ein guter Einfall. Mach’ das wieder!»

«Du hast bei deinen Arschloch-Kumpeln gezeigt, dass sie ihren Immobilienhengsten Zügel anlegen können und es sogar ein Vorteil sein kann, ohne, dass sie klagen müssen und juristisch ist das legendär, auch wenn Arschloch die Publikation unterschrieben hat, du hast das gemacht.»

«Wir reden hier über Verbrechen, richtige Verbrechen, oder nicht? Wenn ich nicht die Polizei anrufe, dann verliere ich meine Zulassung, bevor ich sie überhaupt bekommen habe und wenn ich es tue, dann bekomme ich nie wieder einen Job», sagte Kristen und hasste den Panda-Bären auf dem Poster, der sich glücklich an einem Ast festhielt, der wie ein Birkenast aussah.

Wahrheit macht frei, manchmal

«Ich hasse Greenpeace-Poster!»

«Hast du eine Festplatte?»

«Vielleicht hasse ich alle Tiere, die Natur. Den Regenwald und in der Antarktis ist es kalt. Aber ich mag Greta Thunberg, ja die mag ich. Ich habe eine Festplatte.»

«Hast du einen Freund?»

«Ach…»

«Du hast die Daten kopiert, aber du hast keinen Freund, manchmal verstehe ich dich nicht so gut.»

«Ich habe eine Festplatte und nun bist du meine Anwältin.»

Ein Panda-Bär-Poster, ein Skateboard, das vielleicht immer noch im Greenpeace-Büro rumliegt und eine Festplatte, auf der die Wahrheit deutlich festgehalten war und zwei Frauen, die in einer Tapasbar in der Nähe des Niederdorfs noch etwas tranken.

Wie sagt man es doch, die Wahrheit macht frei. Und das ist gelogen. Die Wahrheit macht dich manchmal frei. Nicht immer. Anna und Kristen gingen am nächsten Morgen zur Polizei. Sie übergaben der Staatsanwaltschaft eine Festplatte mit Material über einen 200 Millionen-Immobilienbetrug, der zeigte, dass Verkaufende und Kaufende rechtzeitig ihre Investitionen ins Trockene gebracht hatten. Dann wäre da noch die Rolle der Kanzlei. Und dann wäre da die Wahrheit.

Greenpeace feuerte Anna am Tag nach der Anzeige. Anna war zu einem Reputationsrisiko geworden und sie trug nie zerrissene Jeans. Kristen musste ihren Arbeitsvertrag bei AA & OA erfüllen, eine Entlassung wäre ja schlecht fürs Image gewesen. Drei Monate später waren beide Frauen zu Fuss unterwegs. Der Toyota kam nie mehr aus der Werkstatt zurück. Starbucks-Kaffee ist für beide Frauen zu einem Luxus geworden. Die Wahrheit auch.

 

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Autor: Andy Strässle

Andy Strässle umarmt Bäume, mag Corinne Mauch und verleugnet seine Wurzeln: Kein Wunder, wenn man aus Blätzbums stammt. Würde gerne saufen können wie Hemingway, hat aber immerhin ein paar Essays über den Mann zu stande gebracht. Sein musikalischer Geschmack ist unaussprechlich, von Kunst versteht er auch nichts und letztlich gelingt es ihm immer seltener sich in die intellektuelle Pose zu werfen. Der innere Bankrott erscheint ihm als die feste Währung auf der das gegenwärtige Denken aufgebaut ist und darum erschreckt es ihn nicht als Journalist sein Geld zu verdienen.

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