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Elfeinhalb Techno-Tracks aus der Zeit, als es Techno noch gar nicht gab

Nein, liebe Leserinnen und Leser, die Street Parade und ihre Musik gibt es nicht schon 100 Jahre! Tatsächlich wurde die Parade erstmals 1992 in Zürich durchgeführt, um diese neuartige Musik und ihre Wirkung auf das Wohl- und Tanzbefinden einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen. Damals war Techno nämlich ganz, ganz neu. Also fast. Den Begriff «Techno» verwendete man damals zwar schon genau ein ganzes Jahrzehnt – allerdings für etwas andere Musik. Dass in jenen Tracks aber die Gene heutiger Unz-Unz-Hymnen bereits vorhanden waren, zeigt diese Aufstellung.

1. Jean Michel Jarre «Oxygène IV» (1976)

Wir schreiben das Jahr 1976: Lange vor Daft Punk, David Guetta, Bob Sinclair, Étienne de Crécy und und und geben die Franzosen den Ton an. Sie erfinden als erstes sozusagen den Vorläufer von Trance. «Oxygène» ist ein Instrumental-Album, das von Jean Michel Jarre komponiert und produziert wurde und im Juli 1977 weltweit erscheint. Das Album verkaufte sich rund 12 Millionen Mal (eines davon kaufte meine damals 28-jährige Mutter).

https://www.youtube.com/watch?v=_zGa-Ci6hPk

2. Kraftwerk «Trans Europa Express» (1977)

Die Deutschen haben nicht nur das Automobil erfunden, sondern auch die elektronische Popmusik. Die 1970 gegründete Avantgarde-Band aus Düsseldorf veröffentlicht 1977 ihr inzwischen 7. Album. Rückblickend geradezu revolutionär klingen heute die synthetischen, repetitiven und vor allem sehr tanzbaren Beats dieses Albums. Es folgen leider nur noch drei echte Studioalben, wovon aber zwei (nämlich «Die Mensch Maschine», 1978 und «Computerwelt», 1981) unbestritten Meilensteine der elektronischen Musik werden, wie übrigens auch die Maxi-Single «Tour de France», 1983. «Die Mensch Maschine» war mein allererstes, selber gekauftes Album und prägte mich für den Rest meines Lebens.

3. Telex «Moscow Disco» (1979)

1979 ist das Jahr, in dem erstmals das musikalische Talent der Belgier europaweit Beachtung findet. Ursprünglich als Spass-Gruppe 1978 gegründet, mischt das Trio verschiedene musikalische Stile, darunter Punk, Disco und Synthiepop und verwendet ausschliesslich elektronische Instrumente und Vocoder (inzwschen abgelöst durch und besser bekannt als Auto-Tune-Plugin). «Moscow Disco» ist ihr erster selbstgeschriebener Track. Telex vertreten 1980 ihr Land am Eurovision Song Contest.

https://www.youtube.com/watch?v=5X07vyHQxJI

4. DAF «Der Mussolini» (1980)

1980 befinden wir uns kurz vor dem Höhepunkt des kalten Krieges (der 1984 erreicht wird) – es herrscht wenig Freude. Die Jugend ist unzufrieden mit dem Establishment, es mangelt an alternativen Lebenskonzepten. In Zürich beginnen die «Opernhauskrawalle». Es ist die Stunde politisierter Bands wie DAF (Deutsch-Amerikanische Freundschaft). Die Düsseldorfer Elektropunker werden wohl eher unfreiwillig Mitbegründer der neuen Deutschen Welle, der wohl kreativsten und experimentierfreudigsten Strömung in der Deutschen Popgeschichte. Während die NDW vor allem bespassen will und mit Dada und Gaga flirtet, haben DAF eine Botschaft – was den Titel so einzigartig energetisch macht. Ihr «Der Mussolini» wird zum tanzbarsten Deutschen Track jener Zeit.

5. Yello «Bostich» (1980)

Wer hats erfunden? 1980 sind die Schweizer nicht nur (noch) Weltspitze im Skifahren, sondern spielen auch musikalisch ganz vorne mit. Anders als DAF sind aber Dieter Meier und Boris Blank ganz und gar nicht politisch, sondern multimediale Künstler durch und durch. Bereits die zweite Single «Bostich» wird ein internationaler Clubhit – auch heute noch ein Masterpiece der Musikproduktion. Die grössten Erfolge werden später «Oh Yeah» und «The Race», die noch immer in jeder zweiten Hollywood-Komödie zu hören sind.

6. Liaisons Dangereuses «Los Nińos Del Parque» (1982)

Das Spin-off eines ehemaligen DAF-Mitglieds, Liaisons Dangereuses, veröffentlicht 1982 «Los Nińos Del Parque» (deutsch: Die Kinder vom Park). Los niños del parque ist eine der meistverkauften Underground-Singles in Deutschland und später aufgrund der markanten Bassline, die mit dem Korg MS-20 erstellt wurde, vielfach gesampelt worden. Als recht eigenwillige Besonderheit dieses Liedes ist die 6/4-Aufteilung der Basslinie zu nennen, welche gegen den 4/4-Rhythmus gestellt wird, eine für die Popmusik ungewöhnliche Form der Polyrhythmik. Chunsch druus? Steht jedenfalls so in Wikipedia.

7. Front 242 «U-MEN» (1982)

Im selben Jahr lassen wieder Belgier von sich hören. Front 242 aus Brüssel ist eine der ersten Elektronik-Bands der 1980er Jahre und gilt für diese Zeit als Aushängeschild der Electronic Body Music (EBM). Sie werden bis heute als Inspiration oder gar als direktes Vorbild für zahlreiche EBM- und Electro-Combos genannt. Auf der Single «U-MEN» (sowie dem brillianten Album «Geography») prägt der neue Lead-Sänger Jean-Luc De Meyer den typischen Front 242 Sound.

https://www.youtube.com/watch?v=xYCOk8s2-3Y

8. New Order «Blue Monday» (1983)

1983 kann man getrost als das Jahr feiern, in dem die kontemporäre elektronische Clubmusik ihren Durchbruch feierte (alles zuvor war bloss eine Art experimentelles Vorspiel). New Order legten mit «Blue Monday» den Grundstein zur heutigen minimalistischen und puren elektronischen Tanzmusik: harte, repetitive Beats, dominante Bässe, simple Melodien und Harmonien sowie ein Songaufbau, der noch 30 Jahre später funktioniert:

9. Laid Back «White Horse» (1983)

Eine besondere Perle erscheint ebenfalls 1983: Auf der B-Seite der Single «Sunshine Reggae» von Laid Back (Deutschland Platz 1, Schweiz Platz 9) entdecke ich den Track «White Horse». Dabei handelt es sich um Electrofunk vom Feinsten, der wahrscheinlich in 5 Minuten geschrieben und in 15 Minuten eingespielt worden ist. Während die Single «Sunshine Reggae» in den USA floppte, entwickelte sich die B-Seite White Horse, ein gegen Heroin gerichteter Song mit einer eingängigen Basslinie, in den dortigen Clubs zum Hit. Unterstützung erhielten Laid Back von Prince, der einer gemeinsamen Veröffentlichung des Tracks auf einer Maxi-Single zusammen mit seinem Song «When Doves Cry» zustimmte.

https://www.youtube.com/watch?v=I8j2ej5jqQw

10. Anne Clark «Our Darkness» (1984)

Diesen Track – zumindest als Instrumentalversion – könnte man heute wohl an jeder Electroparty spielen und 9 von 10 würden glauben, dies sei der neuste Underground-Hit aus Berlin. Mit gleich zwei Hymnen im selben Jahr («Our Darkness» und «Sleeper in Metropolis») setzt sich die Londoner Wortpoetin und Ikone des Teenager-Weltschmerzes, Anne Clark 1984 ein musikalisches Denkmal zu Lebzeiten. Und verursacht mir jedesmal wieder Gänsehaut.

11. Cabaret Voltaire «Sensoria» (1984)

Bereits die Namensgebung verrät, dass diese Musiker aus Sheffield einen hohen intellektuellen Anspruch haben – auch musikalisch. Die Tracks in ihrer Hochblüte (1983-1987) sind komplex, synkopisch und sehr detailreich ausgearbeitet. Zusammen mit den kommerzielleren «Art of Noise» und unseren «Yello» sind es diese drei Bands, die die damals neue technische Möglichkeit des Samplings erstmals bis an ihre Grenzen ausloten. Laut Wikipedia gelten Cabaret Voltaire «als essentiell für die Entwicklung des Detroit Techno».

Ehrennennung:

Diesen Track als Meilenstein in der Geschichte der elektronischen Tanzmusik zu bezeichnen, wäre wohl arg in den Hintern gekrochen. Aber wer hätte damals geahnt, dass aus diesem jungen Kerl mit Hut nicht nur einer der erfolgreichsten DJs aus Deutschland werden würde, sondern auch einer der wichtigsten Produzenten und Clubbetreiber? 1986 noch unter dem Namen OFF und zusammen mit Michael Münzing und Luca Anzilotti (die beiden späteren Produzenten von «Snap!» gelten als Erfinder des Eurodance) verdiente sich Sven Väth mit «Electrica Salsa» die ersten Charts-Sporen.

Weitere Hintergrundinfos: http://de.wikipedia.org/wiki/Techno

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Autor: Henrik Petro

In den 90ern prägte Henrik als Moderator von Sputnik TV trotz seines Ostschweizer Dialektes die Erinnerungen der Partyjugend bis heute. Während mehrere Jahre war er Chefredaktor des gleichnamigen Magazins. Später schrieb er fürs Fernsehen (u.a. Chefautor von Dieter Moor und Rob Spence, eine Folge der SitCom "Fertig Luschtig") und produzierte auch (u.a. 150 Folgen von "Der Scharmör"). Er war die ersten Jahre von Radio Street Parade Musikchef und war dann später einige Jahre Autojournalist.

Arbeitet heute hauptberuflich als Frauenversteher, aber da er von seinen Freundinnen, BFFs, Kolleginnen und wem er sonst noch sein epiliertes Ohr leiht, kein Geld dafür verlangen kann, dass sie ihm ihre Männerprobleme in allen Details schildern, arbeitet er zusätzlich noch gegen Entgelt als Chefredaktor in einem Fachverlag. Damit sein Hirn unter dieser Belastung (und wegen Handy-Antennen) nicht explodiert oder eine Selbstlobotomie durchführt (was ihm zwar die Aufmerksamkeit von Gunter von Hagen garantieren und somit zur Unsterblichkeit verhelfen würde), schreibt er Kolumnen für kult. Am liebsten über menschliche Begegnungen. Oder überhaupt über Menschen. Oder darüber, was Menschen so tun. Oder getan haben. Oder tun könnten. Oder sagen. Oder gesagt haben. Oder sagen könnten.

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