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Was nach der Liebe übrig bleibt

Als ich nach Hause kam stand ich etwa eine Viertelstunde lang regungslos im Flur. Ich schaffte es nicht einmal mich ins Bett zu schleppen, so überfallen wurde ich von der Frage, was nach der Liebe übrig bleibt. Diese Frage hätte mir nicht in den Sinn kommen müssen, hättest du nicht halbtot im Krankenhaus gelegen. Nein, ich hatte dich noch nicht für tot erklärt, deshalb war sie nicht vorbeigekommen. Vielmehr war sie einer dieser Streiche, die uns das Gehirn spielt, wenn es masslos überfordert ist. Wenn es uns weiss machen will, dass nur noch das Schrecklichste auf uns wartet, dass danach womöglich nur noch das schwarze Loch kommt. Ich konnte also nichts dafür. So schnell wie du im halb-Totenbett gelegen hattest, so schnell war die Frage aufgetaucht.

Von da an begleitete mich die Frage immerzu, liess nicht von mir ab. Manchmal zeigte sie sich in Form eines masochistischen Partners, der einem auf Schritt und Tritt folgt, immer wieder gekonnt peinigt und erniedrigt, indem er auf die traurigsten Begebenheiten aufmerksam macht, hatte man sie gerade kurz vergessen. Manchmal zeigte sie sich als gütige Begleiterin, die mir mit lauwarmen Brisen ums Herz wehte, das Gefühl herzerwärmender Sommerabende im Garten bescherte. Bloss um mich kurz darauf wieder zu malträtieren. Mit einem stumpfen Messer ins Fleisch bohrend, Salz und Verzweiflung in die Wunden reibend.

Diese grässlichen Achterbahnen der tiefen Sinnlosigkeit und himmelhoch jauchzenden Erinnerung.

Was bleibt nach der Liebe übrig?

Am nächsten Morgen, als ich irgendwann meine verquollenen Augen einen Spalt weit zu öffnen vermochte, sah ich als erstes deine Sportsocken vor dem Bett liegen. Sie waren dreckig. Das wusste ich, weil sie statt weiss, grau waren. Wie sollte es auch anders sein. Gerne würde ich dir ein Leben lang deine Miefsocken nachtragen, dachte ich jetzt. Dann roch ich tatsächlich an ihnen, weil es noch das Einzige war, was mich näher zu unserem vorherigen Dasein brachte. Ich stand da, tränenüberströmt. In der einen Hand diese verdammten Socken, in der anderen Hand mein jämmerliches Selbstmitleid. Ist es das, was nach der Liebe übrig bleibt?

Ist es ein „Ich geh zuerst aufs Klo!“ darauf ein Rennen durch die Wohnung, zu hören?

Manchmal vermag es auch der bedrückte Blick der Nachbarin sein, ein leises „Es tut mir leid, er war doch immer gesund“. Eine Träne der Freundin zum Beileid.

Oder dein Streicheln über meinen Kopf, wenn wir fernsehen? Das Spazieren durch den Regen, das Spinnen von Träumen, das Witze erzählen, das Raufen nach dem Aufwachen?

Ein zum Lebensmittelladen schleichen und trotzdem weiterhin einkaufen, was du immer gerne asst, nur um es dann jedes Mal vergammeln zu lassen.

Dein enthusiastisches Klimpern beim Kochen, während der altmodische, laute Dampfabzug läuft, wir uns aber trotzdem unermüdlich schreiend zu unterhalten versuchen – einfach weil wir nie anders konnten, als miteinander zu reden. Ist es das, was nach der Liebe übrig bleibt?

Wird mich die Liebe mit einer Vodkaflasche und Cranberrysaft auf dem Sofa zurücklassen? Mit fettigem Haar und ausgetrockneter Seele?

Ist es der Moment, in dem ich nun mit Freunden, statt mit dir, in unserem Lieblingsrestaurant esse und der Chefkoch fragt, wie es meinem Liebsten gehe – daraufhin alle verlegen mit gesenktem Kopf auf ihre Teller schauen.

Oder doch, wenn wir im Auto die Musik aufdrehen und uns beim Singen zu übertönen versuchen?

Ist, was nach der Liebe übrig bleibt, deine warme Hand auf meinem Bauch oder der leere Platz im Bett neben mir?

Manchmal gar ein überquellender Aschenbecher voll exzessiv gerauchter Zigarettenstümmel, ein widerlicher Schmerz, eine Menschenmasse, die mich zu würgen versucht. Eine leere Tablettenschachtel auf dem Küchentisch.

Ist es der Moment, als wir das erste Mal am See waren und du mir, wie sollte es anders sein (das bist du) deine Jacke gegeben hast, damit ich nicht friere?

Unsere Reisen durch ferne Länder, die nahe Zukunft und grosse Träume. Ist es das, was nach der Liebe übrig bleibt?

Oder ist es die Krankenschwester, die zwar mitleidig und gequält schaut, mich aber trotzdem jeden Abend um Punkt neun aus deinem Krankenbett scheucht?

Wenn du weg bist und die Liebe mit dir, was wird sie mir zurücklassen?

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Autor: Jelena Keller

Jelena ist von Beruf Journalistin und Sprachlehrerin, Schweizerin serbischer Abstammung. Sie mag lange Texte und langes Grübeln. Sie hat sich daran gewöhnt zu viel zu denken und zu wenig zu schlafen. Wenn sie gar kein Auge zumachen konnte sieht sie die Welt nüchtern und in einem Grauton. Wenn sie ausgeschlafen hat, wandert sie mit ihrem Hund auf grüne Berge, durch bunte Blumenwiesen und rosa Weizenfelder. Schreibt auch mal Gedichte und Kurzgeschichten, reist am liebsten um die Welt und probiert Neues aus. Sie meint tatsächlich, dass sich alle Probleme lösen liessen, wenn man sich nur ab und zu in die Lage des Gegenübers versetzen könnte. Walk in my shoes und so. Trotzdem versteht sie manche Menschen nicht. Die, die sich vor dem Leben und dem Tod fürchten und andere verurteilen. Aber von den meisten anderen denkt sie, sie seien alle Freunde, die sie bloss noch nicht kennengelernt hat.

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