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Nora 13

«Herr Doktor, ich weiss nicht, wie ich Ihnen ihre Augen beschreiben soll. Manchmal waren sie blau, aber sie konnten auch eine ganz andere Farbe annehmen, wie bei diesen Tieren … Mir fällt jetzt der Name nicht gleich ein, aber … wenn Sie vielleicht einen Moment Geduld haben, Herr Doktor …»

«Herr Strässle, es macht doch nichts, wenn Sie sich nicht mehr erinnern. Das ist in dieser Phase ganz normal. Die Medikamente helfen Ihnen da zwar, aber sie können keine Wunder erwarten…

«Wenn ich den Namen des Tieres jetzt wüsste, es war faszinierend, wie sich ihre Augen verändert haben, wissen Sie, es war ein Rätsel. Ihre Augen konnten sein, wie ein Licht, ein Licht im Dunkeln, aber dann änderte es sich manchmal und sie wirkte so, als sei sie jemand anders. Natürlich hatte sie es nicht leicht gehabt, mit mir. Jedenfalls nicht immer. Sie hat mir verziehen, aber ihre Augen, das war etwas, Herr Doktor.»

«Das ist gut, Herr Strässle, das ist sehr gut. Sie müssen die Erinnerungen, die Sie noch haben festhalten, das hilft Ihnen, das hilft uns allen. Allerdings möchte ich Ihnen sagen, dass Ihre Statistik im Moment nicht die Beste ist. Verstehen Sie, Herr Strässle, wir können Ihnen nur helfen, wenn Sie uns helfen …»

«Weissen Sie Herr Doktor, es fällt mir sicher noch ein, wie dieses Tier heisst, dessen Haut sich einfach so verändern kann, je nach Umgebung. Aber bei meiner Frau war es nicht eine Frage der Umgebung. Ihre Augen leuchteten einfach, oder sie waren dunkel, ernst, je nachdem. Aber sie war ja auch kein Tier, sondern sie ist meine Frau, wenn mir nur der Name des Tieres einfiele, dann könnte ich es ihnen besser erklären.»

«Jetzt setzen Sie sich doch nicht unter Druck. Im Grunde möchte ich mit Ihnen auch über etwas anderes sprechen. Es geht um Ihre Statistik. Sie wissen, wir führen zum Wohlergehen unserer Gäste eine Statistik und Ihre Statistik, wie soll ich es jetzt sagen? Es scheint …»

«Herr Doktor, Herr Doktor, das Tier, das Tier heisst Chamäleon. So heisst es doch, oder?»

«Ja, ich denke, so heisst es das Tier, ich glaube, genau dieses Tier meinen Sie, aber wissen Sie es geht hier um Ihre Vital-Statistik. Wir bieten Ihnen hier ein umfassendes Angebot. Wir sind nun etwas unsicher, warum Sie es nicht nutzen, oder sollen wir uns darauf einigen, dass Sie es nicht mehr nutzen, vorher hatten Sie offenbar einen ganz guten Durchschnitt. Für einen Mann ihres Alters, da haben Sie – kann ich es Ihnen ganz unter uns natürlich – noch manch ein Rohr verlegt, oder?»

«Chamäleon, Chamäleon!»

«Sicher, es freut mich auch, dass Ihnen das eingefallen ist. Und natürlich will ich Ihnen nicht zu nahe treten, aber vielleicht können Sie sich vorstellen, dass wir die verschiedenen Versionen updaten oder irgendwann ersetzen müssen… Das können Sie vielleicht verstehen.»

«Ja, natürlich, das ist wohl in jeder Generationenresidenz so, ich meine früher haben die Sessel auch ewig gehalten, klar, ich habe den Sessel schon gemocht, aber ich habe es verstanden, dass ich den Sessel nicht behalten konnte.»

«Ja, natürlich, die Sessel, die Sessel auch, die müssen wir natürlich auch ersetzen, aber dafür bin ich nun wirklich nicht da. Ähm, es geht da um Dinge, die den Kreislauf schon etwas mehr in Schwung halten, verstehen Sie, Dinge, die … Ach, Sie sind doch ein Mann, Sie haben Ihre Frau geliebt, jetzt kommen Sie, machen Sie es mir nicht so schwer… Wir können nicht Ihre Frau ersetzen, das wissen Sie, aber wir konnten und können Ihnen immerhin in den Sattel helfen, Sie alter Hengst Sie.»

«Nein, nein, kein Hengst, das Tier war mehr ein Chamäleon. Wir hatten getanzt, wissen Sie, ich hatte doch recht viel getrunken, aber Sie perfekt und ich wollte mit Ihr reden. Darum haben wir noch mehr getanzt und ich hatte noch mehr getrunken. Es war nicht schlimm, aber ihr Blick, sie können sich diesen Blick nicht vorstellen. Ich geriet plötzlich in Teufels Küche. Ihre Augen waren finster und ich wollte doch ins Licht, nur ins Licht …»

«Herr Strässle, das verstehe ich, das ich völlig, vielleicht sollten wir kurz von den Tieren wegkommen. Aber ich sehe, Sie sind aufgeweckt. Lassen Sie es mich ohne Tiere versuchen. Wie Sie ja sicher wissen, Sie sind Teil unseres «Generationenprogrammes «Freude für den Kreislauf» und wenn Sie nun daran denken, was so den Kreislauf in Schwung bringt, Herr Strässle, dann können Sie vielleicht auch eine Veränderung feststellen, oder?»

«Fussball? Ich glaube Fussball hat meinen Kreislauf immer in Schwung gebracht, aber das ist schon lange her. Und wissen Sie, sie hat es nie so richtig verstanden, obwohl sie oft mitgekommen ist oder versucht hat, mich zu verstehen. Aber eigentlich erinnere ich mich lieber daran, wie wir getanzt haben.»

«Aber sehen Sie, Herr Strässle, vor einem Monat haben Sie sich noch BETÄTIGT. Jetzt BETÄTIGEN Sie sich nicht mehr. Wenn Sie nicht mit mir sprechen, so kann ich nicht herausfinden, ob es am neuen Modell liegen könnte. Nora 12 war darauf ausgelegt, Ihre Wünsche, ääähhmmm, ihr Verlangen, also das Verlangen Ihres Kreislaufs – natürlich – auf zurückhaltende Weise zu erfüllen. Unsere Studien zeigten jedoch, dass das Update zu Nora 13 eines sein müsste, das die Wünsche, also die Wünsche ihres Kreislaufs, auf effizientere Weise erfüllen würde, da Sie vielleicht – wenn Sie die Redewendung entschuldigen würden – mit rund 84 nicht mehr der gleiche stramme Hengst sein würden, wie mit 82. Verstehen Sie?»

«Herr Doktor, ich weiss, was ein Pferd ist. Aber ich kann mir jetzt nicht vorstellen, dass Sie mit mir über Pferde sprechen wollen. Ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung von Pferden. Naja, von Amphibien auch nicht. Wissen Sie, ich könnte Ihnen etwas über meine Frau erzählen, aber vielleicht ist es zu lange her.»

«Herr Strässle, Herr Strässle. Bleiben wir objektiv: Es ist kein Vorwurf, dass Sie nichts von Pferden verstehen. Es ist schön, dass Sie sich an Ihre Frau erinnern. Aber Sie müssen doch sehen, dass wir das optimiert haben. Sie brauchen keine Frau mehr. Und Nora 12 war erst der Anfang.»

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Autor: Andy Strässle

Andy Strässle umarmt Bäume, mag Corinne Mauch und verleugnet seine Wurzeln: Kein Wunder, wenn man aus Blätzbums stammt. Würde gerne saufen können wie Hemingway, hat aber immerhin ein paar Essays über den Mann zu stande gebracht. Sein musikalischer Geschmack ist unaussprechlich, von Kunst versteht er auch nichts und letztlich gelingt es ihm immer seltener sich in die intellektuelle Pose zu werfen. Der innere Bankrott erscheint ihm als die feste Währung auf der das gegenwärtige Denken aufgebaut ist und darum erschreckt es ihn nicht als Journalist sein Geld zu verdienen.

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