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Versunken im blauen Nebel

In letzter Zeit jede Nacht durch die Strassen der alten, bösen Stadt gewandelt. Ziellos. Irrlichternd. Allein. Flachmann in der Jackentasche. Whisky. 60 Prozent. Fassabfüllung. Beruhigungsmittel im Blut. Benzodiazepine. Trotzdem immer noch viel zu viel treibende Energie im Stoffwechsel. Schwarze, kranke Energie.

Und einen verdorbenen Magen vom Kettenrauchen. Aber das Kettenrauchen hält mich am Leben. Es schenkt mir Zeit. Wenn ich nicht schlafe – und ich schlafe fast nie, obwohl ich immer müde bin – sind die Zigaretten meine kleinen Zeitmacher.

Ich stecke mir eine an. Die Zeit läuft. Ich drücke sie aus. Die Zeit endet. Also zünde ich wieder eine an. Und es geht weiter. Ich gehe weiter. Noch.

Kippen und leere Flaschen säumen meinen Lebensweg. Sie sind meine stummen Zeugen. Zuerst nahm ich sie in den Mund. Dann habe ich sie weggeschmissen. Eine finstere Geisterbeschwörerin hat einige von ihnen eingesammelt. Sie waren genau das Material, das sie gesucht hatte. Mein Fluidum klebte noch daran.

Mit diesen toten, diesen leeren Hüllen vergangener Exzesse kann man einen Menschen verfluchen, wenn man die richtigen Sprüche, Symbole, Rituale dafür kennt. Unter dem Blutmond wird der Fluch ausgesprochen.

Ob er wirkt? Ja, weiss Gott. Ich habe es am eigenen Leib erfahren. Aus dem Schattenreich ist der Fluch über mich hergefallen. Er hat mein Leben langsam abgenagt. So wie ich einst das Leben der Tochter jener Geisterbeschwörerin abnagte. Ich habe ihr die Liebe versprochen. Kalt lügend, mit niederen Absichten.

Sie hat mir geglaubt. Dann habe ich sie langsam und genüsslich konsumiert; seelisch, emotional, sexuell. Ausgeschöpft. Ausgesaugt. Ausgepresst. Bis sie vollkommen leer war. Versunken im blauen Nebel. Am Ende habe ich sie weggeworfen. Wie eine Kippe. Wie eine leere Fuselflasche. Liebe? Wenn Sie mich fragen, ein Mittel zum Zweck. Kälter als der Tod. Rainer Werner Fassbinder hat schon recht gehabt.

Ich wollte Nervenkitzel. Das Leid der Lady spitzte mein Vergnügen zu. Futter für mein Feuer. Doch jetzt hat mich der Fluch ihrer zauberkundigen Mutter getroffen. Und ich spüre sie nun selbst, die Kälte des Todes. Wie eine Geheimpolizistenhand liegt sie schwer auf meiner Schulter. Wie ein Rapier dringt sie unaufhaltsam zur Mitte meines Herzens vor.

Dunkel ist die Nacht. Genauso dunkel sind meine Gefühle. Alle meine Hoffnungen haben mich verlassen. Wie Regenwasser im gierigen Schlund eines Strassenablaufs verschwindet. Auf Nimmerwiedersehen.

Keines meiner Gebete wurde erhört. Sie waren alle vergebens. Ich bin eine Vogelscheuche, die vom Dauerregen langsam aufgelöst wird. Bis nur noch ein Haufen durchnässtes Stroh, einige Stofffetzen und ein verbeulter Hut auf dem kalten, harten Grund liegen bleiben.

Träum’ ich? Oder scheint am Ende jener schmalen Sackgasse dort drüben ein seltsames Licht? Höre ich ein Summen und Brummen in der Luft? Flügel am Nachthimmel? Ist der Mitternachtsengel doch noch erschienen? Eilt er mir zu Hilfe? Komm, leuchte für mich Engel, in dieser finstersten Stunde. Rette mich, Mitternachtsengel, aus dieser dunkelsten Sickergrube meines Lebens. Bevor der Höllenhund mich einholt. Und mir seine vergifteten Zähne in den Kehlkopf schlägt.

Doch da ist kein Engel. Nur eine weitere, bittere Illusion.

Ich versuche ja… Aufzustehen. Ich versuche ja… Weiterzugehen. Ich versuche ja… Doch meine Füsse tragen mich nicht mehr, können mich nicht mehr tragen. So schwer bin ich plötzlich geworden. Ich will mir eine letzte Zigarette anzünden. Doch ich habe kein Feuer mehr. Es gab einst einen Ort, den ich Heimat nannte.

Er lag an einer freundlichen, hellen Strasse, wo der Briefträger alle mit Namen kannte und grüsste. Wo die Nachbarn einander selbstgebackene Kuchen und Plätzchen zu schenken pflegten. Wo der Milchmann mit der Glatze die Hausfrauen fickte – ausdauernd, sanft, seelenvoll und herzlich. Diesen Ort vermisse ich nun.

Obwohl ich damals alles dafür getan habe, ihn verlassen zu können. Ich vermisse ihn. Weil ich weiss, dass ich ihn für immer verloren habe. Für immer.

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Autor: Christian Platz

Lebt in Basel. Arbeitet überall. Reist recht viel. Vor allem nach Asien. Und in den Deep South der USA. Verdient sein Geld seit über einem Vierteljahrhundert mit Schreibarbeiten. Vorher hat er als Pfleger in einer Irrenanstalt gewirkt. Hat mehrere Bücher veröffentlicht. Spielt seit 40 Jahren fanatisch Gitarre, zwischendurch singt er auch noch dazu. Schreibt unter anderem für Kult. Ist manchmal gut aufgelegt. Manchmal schlecht. Meistens so mittel. Sammelt Bücher, CDs, Filme, Artefakte. In einem psychisch leicht auffälligen Ausmass. Verfügt, bezüglich der Dinge, die er sammelt, über ein lexikalisches Wissen. Platz ist einerseits ein Wanderer auf dem Pfad zur linken Hand. Andererseits Neofreudianer mit Waffenschein. Liebt Blues und Voodoo, Rock'n'Roll und die schwarze Göttin Kali. Trinkt gerne Single Malt Whisky aus Schottland. Raucht Kette. Ist bereits über 50 Jahre alt. Macht einstweilen weiter. Trotzdem wünscht er nichts sehnlicher herbei als die Apokalypse.

WARNHINWEIS:
Dieser Mann tritt manchmal als katholischer Geistlicher auf, stilecht, mit einem besonders steifen weissen Kragen am Collarhemd. Dies tut er in gänzlich irreführender Art und Weise und ohne jegliche kirchliche Legitimation. Schenken Sie ihm - um Gottes Willen - keinen Glauben. Lassen Sie sich nicht von ihm trauen, ölen oder beerdigen. Lassen Sie sich von ihm keinesfalls Ihre Beichte abnehmen. Geben Sie ihm lieber Ihr Geld.

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