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Wie die Dinge liegen

«Wie die Dinge liegen», sagte Natascha: «weiss ich auch nicht.» Ich sah aus dem Fenster und hoffte, dass sie mich nicht verlassen würde. Unter dem Tisch rieb sie sich die Ferse. High Heels hatte sie noch nie gemocht. Draussen herrschte jene seltsame Betriebsamkeit, die es in Bahnhofsnähe immer gab.

«Ich kann noch zwei Shots bestellen», sagte ich hilflos. Obwohl. So genau wusste ich schon jetzt nicht mehr, wo wir das Auto geparkt hatten. In der Nähe der Europaallee war das Havanna eine vergessene Ecke, die noch nicht vom Immobilienboom erfasst worden war. Vielleicht hatte auch irgendein verpeilter Alter vergessen, dass er mit seiner Liegenschaft Kohle machen könnte. Vielleicht war die Erbengemeinschaft zerstritten. Klar war nur, die Tage des Havanna waren ebenso gezählt, wie diejenigen des alternativen Lokalradios um die Ecke.

Zu gut angezogen

Natascha hatte ihre Schuhe abgestreift und sie zog die Füsse unter ihre Beine. Ihr schien auf der Bank irgendwie kalt zu sein. Für eine Lehrerin war sie definitiv zu gut angezogen. Ihre Haare schimmerten hell im dubiosen Havanna, der seltsame Kellner hatte sich erneut einen Zigarillo angesteckt, die Türken in der Ecke sogen wie verrückt an ihren E-Zigaretten. Alles war wie sonst. «Ich sollte eigentlich arbeiten», sagte ich in die Leere und fragte mich, ob ich nicht einfach eine Marlboro anstecken sollte. Manchmal war das im Havanna möglich. Aber heute wohl nicht.

Irgendwie hatte es der nette Besitzer geschafft, einen noch düsteren Kellner, als die anderen uns bekannten Endzeitkandidaten anzustellen. Ohne es zu wollen, dachte ich an Frau Lopez. Sie wohnte im ersten Stock, ihre Katze frass regelmässig den Müll, so dass Züricher Müllpolizei wegen der aufgerissenen Säcke immer wieder Briefe schrieb und mir Bussen erteilte, die ich einfach bezahlte. Keine Ahnung, warum ich das Haus gekauft hatte. In jüngeren Jahren hatte ich gedacht, dass ein paar Schuhe und ein Koffer reichen würde, um durchs Leben zu kommen und jetzt hatte ich immer diesen Scheiss an der Backe.

«El cartero»

Frau Lopes hatte vor ihrem Briefkasten gewartet. Natürlich war die Post um halbzehn noch nicht da. «El cartero» war noch nicht dagewesen. Dafür hatte er eigentlich «el pena muerte» verdient, aber seit der Hippie-Gitarrist im zweiten Stock ihr gedroht hatte, die verdammte Katze aus dem Fenster zu werfen, war Frau Lopes mit der Todesstrafe etwas zurückhaltender geworden. Mit dem Regenschirm im Anschlag, meinte sie der Lift, «el ascensor» funktioniere nicht. Ich zog den Kopf ein und versuchte der alten Dame zu erklären, ich sei gerade aus dem Lift ausgestiegen und alles sei wie sonst.

Die Sache mit den Shots war gelaufen. Natascha hatte kurz ihre Mähne geschüttelt und war ungeachtet des dreckigen Bodens im Havanna aufgesprungen und hatte beim Düsterling, der sie ansah, als sei sie nicht ganz dicht, zwei Bier bestellt. Ich war wirklich nicht sicher, ob ich nicht etwas Stärkeres brauchte. Aber. Bier. OK. Frau Lopes hatte mich angesehen, als sei ich nicht bei Verstand und war schon bereit, mit dem Schirm zum Schlag auszuholen. Wenn sie nicht so alt gewesen wäre, wir hätten sie schon längst rausgeschmissen.

So checkte sie sich aus

Natascha starrte eine Weile auf ihr Spiegelbild. Es war etwas, was sie nie zugeben würde, aber sie tat es immer: Glänzte irgendwo eine Oberfläche, so checkte sie sich aus. Manchmal lächelte sie sich zu. Sie glaubte, niemand würde es bemerken, doch sie tat es unschuldig, so dass man es ihr verzeihen musste und auch wenn es narzisstisch sein mochte, so hoffte man immer, dass sie nicht ins Wasser fallen würde. Als ich am Morgen aufgestanden war, erinnerte nur noch der leere Joghurtbecher und die Kaffeetasse daran, dass Natascha schneller gewesen war. Ich drückte auf einen Knopf, wartete auf meinen Kaffee und fragte mich, ob ich noch welche Stunden sie heute unterrichten würde.

Gerade noch rechtzeitig hatte ich den Regenschirm von Frau Lopes abgewehrt. Ihre Schwerhörigkeit machte die Sache nicht einfacher. Als sie dabei war zum zweiten Mal auszuholen, kam der Buchhalter aus dem obersten Stock hinunter und sie wandte sich sofort an ihn, um mit ihm darüber zu sprechen, welche Sauerei es sei, dass die Post nie pünktlich wäre. Mit einer vagen Handbewegung war ich aus der Tür. Die Luft in Zürich war ein zu lautes, abgestandenes Gemisch. Ich zündete mir eine Zigarette an und nahm mir vor, das Haus so bald wie möglich zu verkaufen.

Die Welt stand still

Die Toilette des Havanna war keine gute Sache. Aber für Männer ging’s. Natascha ging nebenan ins Pub, wo man einer schönen Frau einen so einfachen Wunsch gerne erfüllte. Während ich versuchte, den Würgereiz zu unterdrücken, dachte ich daran, dass wir uns kennengelernt hatten als die Nacht noch nicht zu Ende und der Tag noch nicht da war. Die Welt stand still, und nur ein paar Lastwagenfahrer fuhren auf irgendeiner Autobahn noch übermüdet ins Nirgendwo. Zu uns jedoch hatten die Sterne gesprochen, wir zitterten vor Kälte, wollten uns küssen, wussten aber nicht wie. Verloren zogen wir durch die Strassen. Es war klar, wir mussten etwas tun, aber wir konnten es nicht. Wir sassen auf den geschlossenen Brettern des Badehäuschens, wir schlenderten der Limmat entlang. Die Security-Arschlöcher am Hauptbahnhof hielten uns für gestrandete Landeier und wir wussten, das alles, das alles gehört uns. Ihr Security-Arschlöcher.

«Ich habe mich nicht getraut, dich anzufassen», sagte ich als sie zurück war. «Du willst nur Shots.»

«Ja, das auch. Ich weiss sowieso nicht mehr, wo ich das Auto habe.»

«Weiter hinten, bei der Kaserne, dort tust du’s immer hin.»

«Sie hat mit dem Regenschirm ausgeholt und ich habe dem Tod ins Auge geblickt… Sowas verändert einen.»

«Ich fasse es nicht, ich verschwende meine Zeit mit einer Memme, die nicht einmal mit einer Neunzigjährigen dealen kann.»

Wer zum Teufel konnte schon mit einer Neunzigjährigen dealen, dachte ich. Natascha bestellte Shots. «Scheiss High Heels!» Gemeinsam waren wir stark. Aber bei der Sache mit den Shots zog ich immer den Kürzeren. Immer. Ich war sicher, sie würde mich verlassen. Ich wusste nicht, ob ich sie ansehen sollte.

«Weißt du noch», sagte ich.

«Ja», sagte sie. «Ich weiss noch.»

Ich war nicht sicher, ob sie noch wusste. Der Nihilist, der im Havanna an diesem Nachmittag bediente, brachte uns zwei Amaretto. Wodka-Shots. Wie schwierig konnte so etwas sein? Wenn sie mich verliess, würde ich das Haus verkaufen und wieder anfangen zu kiffen, so viel war sicher.

Was für eine Scheisse

«Wie die Dinge liegen», sagte Natascha. Ich sah aus dem Fenster. Was für eine Scheisse. Das Bett neben mir war warm gewesen heute Morgen. Darum war es einfach gewesen, dem Schlag mit dem Regenschirm und meinem vagen, aber «kreativen» Job entgegenzutreten. Sie sagte: «Wie die Dinge liegen, weiss ich auch nicht.»

Stehsitzungen, sitzende Sitzungen, Gelabber über Reichweiten, Marktanteile, Positionen, Verantwortung, die wir selbstverständlich völlig verantwortungslos wahrnahmen. «El Pena Muerte», dachte ich und war mir sicher, ich würde das verdammte Auto nie mehr finden.

«Die Post war zu spät?»

«Ja, sie war zu spät.»

Ich stand auf, die Amarettos waren einfach zu viel. Natascha sagte: «Wie die Dinge liegen, weiss ich auch nicht. Aber ich liebe dich.»

Wodkas und Amarettos

Während der düstere Kellner über die Welt, Wodkas und Amarettos nachdachte, oder vielleicht darüber, wo die Schrotflinte um mich zu erschiessen sei, sagte ich nicht gerade geistesgegenwärtig: «Gottseidank, ich hätte das Auto nie alleine finden können.»

Natascha holte einen ihrer Schuhe unter dem Tisch hervor und grinste mit dem spitzen Absatz im Anschlag: «Das ist auch nicht einfach mit nur noch einem Auge. Da wirst du dich erst noch daran gewöhnen müssen.»

Die Wärme im Bett, und ihr Haar im Gegenlicht und ihr schlimmes Grinsen. Ja, es würde auch mit einem Auge gehen.

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Autor: Andy Strässle

Andy Strässle umarmt Bäume, mag Corinne Mauch und verleugnet seine Wurzeln: Kein Wunder, wenn man aus Blätzbums stammt. Würde gerne saufen können wie Hemingway, hat aber immerhin ein paar Essays über den Mann zu stande gebracht. Sein musikalischer Geschmack ist unaussprechlich, von Kunst versteht er auch nichts und letztlich gelingt es ihm immer seltener sich in die intellektuelle Pose zu werfen. Der innere Bankrott erscheint ihm als die feste Währung auf der das gegenwärtige Denken aufgebaut ist und darum erschreckt es ihn nicht als Journalist sein Geld zu verdienen.

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